Der südkoreanische Philosoph Byung-Chul Han liefert mit seinen Büchern “Psychopolitik” und “Müdigkeitsgesellschaft” eine vernichtende Bestandsaufnahme der digitalisierten Gesellschaft. Er skizziert ein Krankheitsbild, das sich mit zwei Worten zusammenfassen lässt: Fragmentierung und Isolierung.
In der Arbeitswelt werden Knecht und Herr zu einem Hybrid. Optimierung und Individualität dominieren das Handeln. Ein Drang zur Selbstausstellung und das Entblößen des Ichs, führen zu einer Selbstausbeutung auf allen Ebenen.
Han stellt fest, dass ein Scheitern in der neoliberalen Leistungsgesellschaft eine Autoaggressivität hervorruft, die keine Revolutionäre produziert, sondern Depressive. „Und aufgrund der Vereinzelung des sich selbst ausbeutenden Leistungssubjekts“, wie Han schreibt, “formiert sich kein politisches Wir, das zu einem gemeinsamen Handeln fähig wäre“.
Fundamentale Bedürfnisse
Das spiegelt sich in der öffentlichen Debattenkultur wider. Ob in Foren, Sozialen Netzwerken, im Bundestag oder bei Talkrunde im Fernsehen: ein konstruktiver Dialog ist kaum festzustellen. Im Gegenteil. Berufspolitiker, mehr oder weniger anerkannte Experten, Medienmacher und der Bürger von der Straße überschütten ihre Gesprächspartner mit einer Melange aus Worthülsen, Meinungen, Halbwahrheiten und Schuldzuweisungen. Mutmaßung und Wissen gehen Hand in Hand.
Aufgeschnapptes wird zur Wahrheit erklärt und Vermutliches zur Gewissheit. Gut aussehen in der Diskussion und andere in der Argumentation zu überflügeln, ist wichtiger, als sich gemeinsam an eine Lösung heranzutasten. Als Ergebnis bleibt ein großes Fragezeichen zurück und die Feststellung, dass sich selbst in der Debatte Einzelkämpfer zum Leistungssubjekt optimiert haben.
Dabei hat die psychologische Forschung schon lange herausgearbeitet, dass der Mensch ganz anders gepolt ist. Sicherheit, Kommunikation, Kooperation und Anerkennung sind fundamentale Bedürfnisse. Die findet der einzelne nur in der Gruppe. Und dort entwickelt sich auch ein echtes Wir-Gefühl. Wer also Lösungen sucht, der ist in einem kleinen Kreis besser aufgehoben, als auf den digitalen Bühnen der Kommunikation.
Die Blaupause von Napoleon Hill
In der Wirtschaft bedient man sich Mastermind Gruppen, um Problemstellungen zu diskutieren die alle Beteiligten betreffen und an gemeinsamen Zielen zu arbeiten. Diese Art Zirkel können eine Lösung sein, um die von Byung-Chul Han verdeutlichten Hemmnisse für ein politisches Wir zu überwinden.
Das nötige Vertrauen aufzubauen, ist die Hürde auf dem Weg zur gesellschafts-politischen Mastermind Gruppe. Man muss seine Gegenüber kennenlernen. Das passiert Face-to-Face im realen Leben.

Einer muss die Initiative ergreifen und auf andere Menschen zugehen, die am Dialog interessiert sind. Ob sie sich einer Gruppe anschließen werden, die sich mit relevanten gesellschaftlichen Themen beschäftigt, bleibt offen.
Die Kommunikationsmauer zu überwinden, die jede Kooperation behindert, ist die große Herausforderung auf dem Weg zum konstruktiven Austausch. Ist der erste Schritt getan, kann der Fokus auf die Gruppe gelegt werden.
Die notwendige Blaupause lieferte 1937 der Schriftsteller Napoleon Hill. In seinem Bestseller “Think and Grow Rich” (Denke nach und werde reich) hob er erstmals die Bedeutung einer Mastermind Gruppe für den unternehmerischen Erfolg hervor. Das Konzept lässt sich in alle Bereiche übertragen.
Die Fehlerkultur
Freundlich sollten die Beteiligten zueinander sein, wachstumsorientiert und bereit, Informationen und Know-how zu teilen. Und sie sollen sich gegenseitig ermutigen, ihre Pläne und Ziel zu verfolgen. So beschreibt es Hill, dessen unternehmerischer Wachstumsbegriff in Wissenswachstum umgedeutet werden kann. Dazu gesellen sich Neugier, Weltoffenheit und Empathie.
Die Gruppe ist klein. Vier bis fünf Personen sollten es sein, die sich informell organisieren, wobei jeder von sich aus das Bedürfnis verspüren soll, die Gruppe durch sein Wissen, seine Begeisterungsfähigkeit und seine Zuverlässigkeit mit Leben zu erfüllen. Man ist dabei, weil man dabei sein will, und um von anderen zu lernen und selbst zu lehren.
Die Themenfelder, mit denen sich die einzelnen Gruppenmitglieder beschäftigen, sollten ähnlich sein, aber nicht identisch. Zu viel Konsens behindert die Entwicklung neuer Impulse und Ideen. Zeit ist ein wichtiger Faktor. Die Treffen sollte nicht mehr als 90 Minuten dauern, sonst kommt man ins Plaudern, aber nicht zum konstruktiven Dialog. Wo trifft man sich? An einem ruhigen Ort, wo die Gruppe unter sich ist. Nichts ist förderlicher für die sozialen Beziehungen als das direkte Zusammentreffen. Im Zweifel ist das Internet die schlechteste Option.
Grob lassen sich vier übergeordnete Ziele der Gruppe beschreiben: Bewältigung gemeinsamer Herausforderungen, Wissenstransfer, gegenseitige Motivation und ein konstruktiver Umgang mit Fehlern.
Gerade der letzte Punkt kommt in der überschleunigten Kommunikation allzu oft unter die Räder. Jedes falsche Wort kann eine Lawine aus Schmähungen auslösen. Das macht keinen Sinn und führt nur zur Abschottung. In der Gruppe werden Fehler korrigiert, aber nicht sanktioniert. Der Austausch von Know-how verbessert die Fähigkeit zur differenzierten Betrachtung komplexer Sachverhalte. Zuspruch und positives Feedback stärken das Zugehörigkeitsgefühl. Aus diesen Komponenten entwickelt sich das Wir-Gefühl.
Ein Blick ins politische Reagenzglas
Im politischen Reagenzglas ist ein solcher Vorgang beobachtbar. Nämlich bei der von Yanis Varoufakis gegründeten Bewegung DiEM25 (Democracy in Europe Movement 2025). Anhänger gibt es viele, doch erst jetzt fangen lokale und regionale Gruppen an sich zu organisieren. Hierarchien oder enge Vorgaben gibt es nicht. Verbindendes Element ist der Wunsch nach mehr Demokratie und Mitbestimmung.
“Europa muss von unten erneuert werden”, formulierte Varoufakis. Diesen Denkanstoß kann in Deutschland jeder aufnehmen, um über Mastermind Gruppen ein verlorenes Wir zurückzugewinnen, mit dem sich jede Krise viel besser meistern lässt. Dann schaffen wir das auch.
Redaktioneller Hinweis: Der Beitrag erschien erstmals auf DasMili.eu. (Update: Links ergänzt am 19.06.2019).
Fotos: CC0 – unsplash.com (pexels) und wikimedia.org.
Gunther Sosna studierte Psychologie, Soziologie und Sportwissenschaften in Kiel und Hamburg. Er war als Handballtrainer tätig, arbeitete dann als Journalist für Tageszeitungen und Magazine und später im Bereich Kommunikation und Werbung. Er lebte hauptsächlich im europäischen Ausland und war international in der Pressearbeit und im Marketing tätig. Sosna ist Initiator von Neue Debatte und weiterer Projekte aus den Bereichen Medien, Bildung, Diplomatie und Zukunftsfragen. Regelmäßig schreibt er über soziologische Themen, Militarisierung und gesellschaftlichen Wandel. Außerdem führt er Interviews mit Aktivisten, Politikern, Querdenkern und kreativen Köpfen aus allen Milieus und sozialen Schichten zu aktuellen Fragestellungen. Gunther Sosna ist Befürworter des bedingungslosen Grundeinkommens und tritt für die freie Potenzialentfaltung ein, die die Talente, Fähigkeiten und die Persönlichkeit des Menschen in den Mittelpunkt stellt, ohne sie den Zwängen der Verwertungsgesellschaft unterzuordnen. Im Umbau der Unternehmen zu gemeinnützigen und ausschließlich dem Gemeinwohl verpflichteten sowie genossenschaftlich und basisdemokratisch organisierten Betrieben sieht er einen Ausweg aus dem gesellschaftlichen Niedergang, der vorangetrieben wird durch eine auf privaten Profit ausgerichtete Wirtschaft, Überproduktion, Kapitalanhäufung und Bullshit Jobs, die keinerlei Sinn mehr haben.