“Jeder ist heute ein selbstausbeutender Arbeiter seines eigenen Unternehmens.” Mit diesem Satz skizziert der Philosoph Byung-Chul Han in seinem Buch Psychopolitik eine Entwicklungsstufe beim Übergang von der analogen in die digitale Gesellschaft.
Natürlich gibt es noch Millionen von Angestellten, für die das nicht gilt. Doch ist es nicht zu übersehen, dass die moderne Arbeitswelt ein wachsendes Heer aus Hybriden hervorbringt, bei denen Elemente aus Unternehmertum und lohnabhängiger Beschäftigung verschmelzen. Im Internet lässt sich schnell eine besondere Spezies finden, für die die Amerikaner einen schmeichelnden Begriff erfanden: Solopreneur.
Galten in der Vergangenheit Freelancer mit fachlicher Spezialisierung als Exoten, die für Honorar von Auftraggeber zu Auftraggeber tingelten, positionieren sich in der Moderne immer mehr Menschen im Internet als Einzelunternehmer mit eigenem Start-up.
Ihre Geschäftsmodelle wirken nach außen kraftvoll und hängen im Inneren sprichwörtlich an seidenen Fäden. Internetanschluss, Laptop und Computer sind die wichtigsten Arbeitswerkzeuge.
Das Büro kann der Tisch in der Küche sein oder eine kleine Ecke auf dem Dachboden. Hauptsache es gibt Licht und eine Verbindung ins Internet. Im Extremfall ist der Solopreneur ein Digitaler Nomade mit eigener Website und Firmenanschrift, aber ohne festen Standort. Er arbeitet dort, wo er sich gerade aufhält.
Hartes Brot
Die Masse der Solopreneure, viele mit exzellenten Fachkenntnissen, beutet sich selbst aus. Das verrät ein Blick in das zweite Dialogpapier der Projektgruppe #NeueZeiten der SPD-Bundestagsfraktion. Die Hälfte dieser Erwerbstätigengruppe kommt demnach höchstens auf 12,70 Euro pro geleisteter Arbeitsstunde. Mehr als ein Viertel aller Solo-Selbstständigen erzielt weniger als den geltenden Mindestlohn für Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer von brutto 8,50 Euro pro Stunde.
Franziska von Hardenberg (Sologründerin) fasst den Arbeitsaufwand im Interview mit Deutsche Startups.de zusammen: „Du arbeitest dreimal so viel wie vorher und an den Wochenenden auch.“ Das ist etwas übertrieben. Selbständige arbeiten durchschnittlich in Deutschland rund 48 Stunden pro Woche. Das Brot wird hart verdient.
Die Suche nach Gold, das sich selbst vermehrt
Der Traum aller Solopreneure ist ein passives Einkommen. Passiv heißt in diesem Zusammenhang, dass etwa der Verkauf von Produkten und Dienstleistungen über das Internet automatisiert läuft und sich das Geld im Schlaf verdienen lässt. Es ist wie die Suche nach einem Goldklumpen. Verständlich. Immerhin muss der Rubel auch dann rollen, wenn der Solopreneur krank daniederliegt, Erholung im Urlaub sucht oder einfach keinen Bock hat zu arbeiten.
Doch die meisten von ihnen sind 365 Tage im Jahr für ihr Geschäft da. Keywords, Texte, Landing Pages, Werbebanner: Beständig wird optimiert oder Neues gelernt. Ein Schwerpunkt liegt auf der Sichtbarkeit der eigenen Angebote im Netz: auf Suchmaschinen, in den globale Werbemarktplätzen, geht es zu wie im Finanzmarkt.
Die Sichtbarkeit entscheidet über den Erfolg. Wer sich zu oft Freizeit nimmt, der muss mit Einbußen rechnen. Tools, die durch das automatisierte Verbreiten von Statusmeldungen, Posts oder Artikeln den Anschein von Anwesenheit aufrecht erhalten, sorgen für zeitliche Freiräume. Wer sollte es auch sonst tun? – Angestellte hat ein Solopreneur nicht.
Moderne Technik trägt das Business. Der Autoresponder für den E-Mail-Versand und die Verwaltung von Kundendaten ist nur eines der Standard-Werkzeuge. Was nicht zur Kernkompetenz gehört, wird ausgelagert. Der Solopreneur ist schnell und vor allem effizient. Er diskutiert nicht mit Geschäftspartnern über unternehmerische Entscheidungen, sondern trifft sie einsam. Das spart Zeit. Nur seine potenziellen Kunden muss er von seinen Angeboten begeistern. Lästige Fragen von Angestellten entfallen sowieso.
Ein Netzwerk aus nützlichen Kontakten und das Wissen um die Verfügbarkeit von preisgünstigen Dienstleistungen und Tools machen den Solopreneur zur perfekten One-Man-Show. Er ist quasi ein optimierter Online-Samurai, der mit seinem Marketing-Schwert gezielt im Internet stochert, um die geeignete Klientel zu finden, durch die er seine Brötchen verdienen kann. Ob er es mit seinen Angeboten schafft, steht auf einem anderen Blatt.
Lebenskunst- und Wohlfühlberater
Die großen Schlachtfelder, auf denen sich unzählige Wettbewerber tummeln, werden meist gemieden. Zu groß ist die Konkurrenz, zu riskant das Geschäft. Beratung in Sachen Marketing gibt es beispielsweise wie den berühmten Sand am Meer. Das bevorzugte Revier des Solopreneure ist die Nische. Training und Coaching stehen hoch im Kurs. Fast jeder bietet Video-Seminare, Webinare, Schritt-für-Schritt-Anleitungen oder E-Books an.
Es findet sich viel Nützliches, aber auch Unsinniges, Liebloses und Skurriles: Layout-Design-Trainer, Anti-Stress-Manager, Trage-Berater, Ideen-Coach, Liebesberater, Kundengewinnungscoach, Stilleberater, Erfolgsunterstützer, Ethik-Berater, Impulsgeber, Lebenskunst- und Wohlfühl-Berater. Die Liste scheint endlos, vor nichts wird Halt gemacht.
Das Leben als Solopreneur versprüht dabei Frische. In Fachbeiträgen, auf Blogs und in Interviews ist von smarten Geschäftsmodellen die Rede. Die Karriere selbst planen und in der Hand haben. Die grenzenlose Freiheit wird beschworen. Leidenschaft und die Lust, die eigene Individualität auszuleben. Sein eigener Boss sein. Ein Rebell sein. Dabei wäre die Aussage von Byung-Chul Han passender:
So weit, so gut. Viele lassen sich für diese Unternehmensform trotzdem begeistern. Die Branche ermutigt „Newbies“, sich mit Gleichgesinnten zu vernetzen, um sich über Schwierigkeiten auszutauschen, auf die ein Unternehmer treffen kann.
Da wird angeraten, sich gegenseitig in den Sozialen Netzwerken zu empfehlen, um zur Kundengewinnung mehr Reichweite aufzubauen. Auch fehlt nicht der Hinweis, dass man sich Feedback über Tools, Software, Werbetexte, Designs, Videoschnitte, Live-Seminare, Anschreiben und was es noch alles so gibt bei anderen Solopreneurs einholen soll. Last, but not least muss hin und wieder ein Projekt analysiert werden.
Und wer könnte sich für den Austausch besser eignen, als ein anderer Solopreneur oder ein Veteran des Einzelunternehmertums, der aufzeigt, wo der Hase falsch oder richtig gelaufen ist?
Professionelle Leistung für fünf Dollar
Auf der einen Seite steht also die Betonung der Individualität, auf der anderen Seite wird die Notwendigkeit zum Austausch mit anderen hervorgehoben. Das ist ein Widerspruch, der die fatale Eleganz der Einzelkämpfer unterstreicht, die sich zum Leistungssubjekt optimiert haben.
Auffällig laut fällt die psychologische Tür ins Schloss: Sicherheit, Kommunikation und Anerkennung sind fundamentale Bedürfnisse des Menschen. Die findet der Einzelne nur in der Gruppe. Der Mensch taugt also nicht sonderlich zum Solopreneur, sondern entfaltet seine Power und Kreativität in der Kooperation mit anderen und durch das Erreichen gemeinsamer Ziele.
Es leuchtet ein, dass zum Beispiel die Verteilung des unternehmerischen Risikos oder die Aufteilung der anfallenden Arbeiten auf viele Schultern, für jeden Beteiligten eine Erleichterung bedeutet. Von einem Lob oder einer motivierenden Geste ganz abgesehen. Vermittelt wird aber ein völlig anderes Bild: Das des Allround-Talents, das alles allein hinkriegt.
Jeder Handgriff kann ausgelagert werden. Das stimmt. Daraus ergeben sich Möglichkeiten. Wer eine Geschäftsidee hat, die sich im Internet abbilden lässt, der kann aus dem Nichts eine Firma hochziehen. Für die Wirtschaft ist das auf den ersten Blick sehr gut, werden doch neue Branchen angetrieben. Allerdings führt die Segmentierung in vielen Sparten zu einem unglaublichen Preisverfall.
Wer sich schon einmal für fünf Dollar in Indien ein professionelles Logo hat anfertigen lassen oder für zehn Dollar ein Verkaufsvideo in Mazedonien, der wird sich skeptisch fragen, ob kreative Berufe noch eine tragfähige finanzielle Zukunft bieten. Stress-Manager, Bachblüten-Berater und Ideen-Coach, was immer das sein mag, wirken da schon vielversprechender. Aber auch die stehen für sich alleine auf dem Schlachtfeld.
Einzelkämpfer versus Kooperation
Kooperation liegt dem Menschen im Blut. Doch was hält ihn davon ab, auf den harten Weg des Solopreneurs zu verzichten und mit anderen eine Firma zu gründen, um gemeinsam den unternehmerischen Erfolg zu suchen? Die Summe der Einzelfähigkeiten erhöht unbestritten die Durchschlagskraft. Das nötige Vertrauen aufzubauen, ist offenbar die größte Hürde. Dabei sollte es gerade den Einzelunternehmern mit Leichtigkeit gelingen, diese zu überwinden, ist es doch für sie täglich substanziell auch mit ihren Kunden eine Vertrauensbasis zu schaffen.
Die Blockade wird vor dem Beginn der eigentlichen Unternehmung aufgebaut. Da nützt es auch nichts, wenn man sich im ersten Moment sympathisch ist. Denn eine Batterie aus Fragezeichen bildet eine Mauer: Wer macht was? Wer hat wem was zu sagen? Wer bekommt was vom Kuchen? Wer ist Chef? Die schlimmste aller Fragen: Was passiert, wenn sich das Team nicht mehr versteht? Diese Zweifel machen unfrei.
In einer Gesellschaft, in der das Individuum so hoch gelobt wird, scheint die Anstrengung zu groß, diese Fragen gemeinsam, gerecht und demokratisch zu beantworten. Das Ende wird also eingeläutet noch bevor der erste Schritt getan ist. Als Rettungsanker bleibt die Individualität und das vermeintlich einfachere Werkeln als Solist. Foren und Communities dienen dann als Ersatz.
Die Macht der Gruppe
Die Mauer einzureißen, das ist die eigentliche und vor allem anspruchsvollere Herausforderung. Das notwendige Werkzeug dafür wurde bereitgestellt, da war das Internet noch nicht einmal geträumt. Geliefert hat es 1937 ein Schriftsteller: Napoleon Hill. In seinem Bestseller Think and Grow Rich (Denke nach und werde reich) hob er erstmals die Bedeutung einer Mastermind-Gruppe für den unternehmerischen Erfolg hervor.
Nimmt man es nicht allzu genau, so ist diese Mastermind-Gruppe am einfachsten mit einem Arbeitskreis vergleichbar, in dem fachliche Fragestellungen und Themen vorgestellt und lösungsorientiert diskutiert werden. Die Gruppe ist klein und überschaubar. Vier bis fünf Personen sollten es sein, die sich zwar informell organisieren, aber jeder von sich aus das Bedürfnis verspürt, die Gruppe auch durch Wissen und Zuverlässigkeit mit Leben zu füllen. Man ist dabei, weil man dabei sein will, und um von anderen zu lernen und selbst zu lehren.
Freundlich sollten die Beteiligten sein, wachstumsorientiert und bereit, Informationen zu teilen. Und sie sollten sich gegenseitig ermutigen, ihre Pläne und Ziel zu verfolgen. Diese Anforderungen an die Persönlichkeit haben sich bis heute nicht geändert.
Die Geschäftsfelder sollten ähnlich sein, aber nicht in Konkurrenz stehen. Zeit ist ein wichtiger Faktor. Deshalb werden engere Grenzen gesetzt. Eine Stunde, vielleicht 90 Minuten. Länger sollte eine Session nicht dauern, sonst kommt man ins Plaudern und nicht zur Sache. Wo trifft man sich? Am besten im Real Life. Nichts ist förderlicher für soziale Beziehungen als das direkte Zusammentreffen. Im Notfall bleibt das Internet.
Potentielle Kandidaten
Wie und wo sich passende Masterminds finden lassen, dafür gibt es kein Patentrezept. Es ist zwar keine Schwierigkeit, in Foren, Communities oder Facebook-Gruppen erste Kontakte zu Solopreneurs aufzubauen, ob die aber wirklich kooperieren wollen, lässt sich nur durch „Trial and Error“ herausfinden.
Als Alternative bieten sich professionelle Vermittlungsplattformen an. Aber auch hier ist der Nachteil, dass sich die Menschen nicht unmittelbar begegnen, dann ihre Verbindung stabilisieren und erst danach eine Gruppe bilden.
Ein Ausweg ist das erstellen einer Liste mit potentiellen Kandidaten, die man über die Familie, Freunde, den Bekanntenkreis und Arbeitskollegen persönlich kennt. Vielleicht finden sich auf diesem Weg auch noch andere Interessenten. Die muss man ansprechen und kennenlernen.
Grob lassen sich vier Ziele einer klassischen Mastermind-Gruppe beschreiben.
- Bewältigung gemeinsamer Herausforderungen
- Wissenstransfer
- gegenseitige Motivation
- und ein konstruktiver Umgang mit Fehlern.
Aufgaben werden durch die Gruppe ausgewählt, bearbeitet und einer Kritik unterzogen. Das kann die Beschreibung einer Projektidee sein oder die Erstellung eines Businessplans. Relevant ist, dass das Thema alle betrifft. Das eigene Wissen wird eingebracht, sodass sich das Know-how der Gruppe vernetzt und entwickelt. Durch gegenseitigen Zuspruch und positives Feedback wird das Zugehörigkeitsgefühl gestärkt und die Leistungsbereitschaft gesteigert. Eine positive Fehlerkultur ist dabei eine Selbstverständlichkeit.
Die Mastermind-Gruppe wird somit zu einem Testfeld für die eigenen Fähigkeiten. Denn Fehler die hier auftreten, werden nicht sanktioniert oder versinken in einem Meer aus Schuldzuweisungen. Sie sind für jeden in der Gruppe ein Entwicklungshelfer, um besser zu werden. Dafür müssen sie allerdings offen reflektiert werden, was im Ego-Modus nicht funktioniert.
Hat man seine Mastermind-Gruppe gefunden und fühlt sich in der Gemeinschaft wohl, hält jeder die Blaupause in der Hand, um dieses Team in eine gemeinsame Unternehmung zu verwandeln. Es fehlt nur ein Schritt. Einer muss aussprechen, was vielleicht schon alle denken: Lasst uns gemeinsam ein Unternehmen aufbauen.
Redaktioneller Hinweis: Der Beitrag erschien erstmals auf Transform Magazin. (Update: Der Beitrag wurde am 24.06.2019 aktualisiert.)
Foto: CC0, Tim Gouw (Pexels.com).
Gunther Sosna studierte Psychologie, Soziologie und Sportwissenschaften in Kiel und Hamburg. Er war als Handballtrainer tätig, arbeitete dann als Journalist für Tageszeitungen und Magazine und später im Bereich Kommunikation und Werbung. Er lebte hauptsächlich im europäischen Ausland und war international in der Pressearbeit und im Marketing tätig. Sosna ist Initiator von Neue Debatte und weiterer Projekte aus den Bereichen Medien, Bildung, Diplomatie und Zukunftsfragen. Regelmäßig schreibt er über soziologische Themen, Militarisierung und gesellschaftlichen Wandel. Außerdem führt er Interviews mit Aktivisten, Politikern, Querdenkern und kreativen Köpfen aus allen Milieus und sozialen Schichten zu aktuellen Fragestellungen. Gunther Sosna ist Befürworter des bedingungslosen Grundeinkommens und tritt für die freie Potenzialentfaltung ein, die die Talente, Fähigkeiten und die Persönlichkeit des Menschen in den Mittelpunkt stellt, ohne sie den Zwängen der Verwertungsgesellschaft unterzuordnen. Im Umbau der Unternehmen zu gemeinnützigen und ausschließlich dem Gemeinwohl verpflichteten sowie genossenschaftlich und basisdemokratisch organisierten Betrieben sieht er einen Ausweg aus dem gesellschaftlichen Niedergang, der vorangetrieben wird durch eine auf privaten Profit ausgerichtete Wirtschaft, Überproduktion, Kapitalanhäufung und Bullshit Jobs, die keinerlei Sinn mehr haben.