Die soziale Protestbewegung “Nuit debout” wollte Frankreich verändern. Langsam erreicht der Hauch einer friedlichen Revolution auch die europäischen Nachbarn. Nuit debout (franz.: Die Nacht über wach) steht nicht nur für Empörung über soziale Ungleichheit, sondern stellt die ultimative Frage: Wie soll es mit uns und der Welt weitergehen?
Nuit debout
Dafür versammeln sich seit dem 31. März vor allem junge Menschen Abend für Abend auf den öffentlichen Plätzen in Paris, Marseille, Nizza und anderen französischen Städten. Sie sitzen zusammen und reden. Es kommen nicht die Verlierer der Globalisierung. Alle Schichten sind vertreten. Hierarchien gibt es nicht. Jeder darf seine Ansichten darlegen. Und alle hören zu. Durch dieses Minimum an Respekt, feiert der konstruktive Dialog seine Auferstehung.
Das ist bitter nötig. In der überschleunigten Kommunikationsgesellschaft, in der Selbstdarstellung wichtiger genommen wird als der Inhalt des gesprochenen Wortes, ist die Bereitschaft zum Zuhören deutlich eingeschränkt. Die eigene Position und Person möglichst positiv zu präsentieren, ist oberstes Ziel. Im Gespräch eine gemeinsame und verbindliche Lösung herauszuarbeiten steht hinten an.
Eine Beobachtung, die sich nicht nur in fast jeder politischen Talkshow bestätigt, sondern zum Leidwesen der Allgemeinheit auch in vielen Debatte im Bundestag oder im Parlament der Europäischen Union. Die taumelt von einer Krise in die nächste, ohne aber die vorherige bewältigt zu haben. Längst steht das Konstrukt EU zur Disposition.
Dialog tut Not
Dass sich Nuit debout nach Belgien, Spanien, Deutschland, Italien, den Niederlanden und in der Schweiz ausgedehnt hat, wundert nicht. Die Liste der dringlichen Themen, für die die Politik keine befriedigenden Lösungen präsentieren kann, über die aber gesprochen werden muss, wird von Tag zu Tag länger: Kriege, Flüchtlingsströme, Umweltzerstörung, Diktat der Finanzmärkte, Jugendarbeitslosigkeit, Altersarmut – und Perspektivlosigkeit. Die erfasst immer mehr junge Menschen.
In der EU haben rund sieben Millionen der 15- bis 24-Jährigen keinen Arbeitsplatz, noch besuchen sie eine Schule oder gehen einer Ausbildung nach. Dramatisch ist die Situation in Griechenland. Dort lag die Jugendarbeitslosenquote im Februar bei über 48,9 Prozent. In Spanien (45), Kroatien (40,3), Italien (39,1) und Portugal (30) sieht es ebenfalls düster aus. Dialog tut Not.
Weltweite Mobilisierung
Vielleicht finden sich Antworten beim nächtlichen Gespräch zwischen den Bürgerinnen und Bürgern. Die sollen jetzt weltweit mobilisiert werden. “Einwohner dieser Erde”, steht auf der Webseite von Nuit debout, “lasst uns die Grenzen zum Fallen bringen und einen neuen globalen Frühling gestalten.” Dafür sollen die Menschen am 7. und 8. Mai auf der Place de la Republique in Paris zusammenströmen. Bei einem internationalen Aktionswochenende (#GlobalDebout) werden vom 15. Mai an öffentliche Plätze auf der ganzen Welt von Nuit debout besetzt – um miteinander zu reden.
Redaktioneller Hinweis: Der Beitrag wurde am 24.06.2019 aktualisiert.
Foto und Video: CC BY 2.0 / Video: Osons Causer.
(Flickr.com) –Gunther Sosna studierte Psychologie, Soziologie und Sportwissenschaften in Kiel und Hamburg. Er war als Handballtrainer tätig, arbeitete dann als Journalist für Tageszeitungen und Magazine und später im Bereich Kommunikation und Werbung. Er lebte hauptsächlich im europäischen Ausland und war international in der Pressearbeit und im Marketing tätig. Sosna ist Initiator von Neue Debatte und weiterer Projekte aus den Bereichen Medien, Bildung, Diplomatie und Zukunftsfragen. Regelmäßig schreibt er über soziologische Themen, Militarisierung und gesellschaftlichen Wandel. Außerdem führt er Interviews mit Aktivisten, Politikern, Querdenkern und kreativen Köpfen aus allen Milieus und sozialen Schichten zu aktuellen Fragestellungen. Gunther Sosna ist Befürworter des bedingungslosen Grundeinkommens und tritt für die freie Potenzialentfaltung ein, die die Talente, Fähigkeiten und die Persönlichkeit des Menschen in den Mittelpunkt stellt, ohne sie den Zwängen der Verwertungsgesellschaft unterzuordnen. Im Umbau der Unternehmen zu gemeinnützigen und ausschließlich dem Gemeinwohl verpflichteten sowie genossenschaftlich und basisdemokratisch organisierten Betrieben sieht er einen Ausweg aus dem gesellschaftlichen Niedergang, der vorangetrieben wird durch eine auf privaten Profit ausgerichtete Wirtschaft, Überproduktion, Kapitalanhäufung und Bullshit Jobs, die keinerlei Sinn mehr haben.