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Nuit debout – Showdown mit dem kranken Mann

Fröhlich geht es dieser Tage zu in Europas Städten. Die Menschen treffen sich auf öffentlichen Plätzen und reden miteinander. Schon zittert das Establishment vor Nuit Debout. Denn die Protestbewegung schickt den Geschmack von Rebellion durch Europa. Davon profitieren nationalistische Kräfte.

Die soziale Bewegung “Nuit debout” fordert in Frankreich das kapitalistische System heraus. Das spielt den Nationalisten in die Hände.

Um das Establishment zu erschüttern, wurde eine gefährliche Waffe aus dem Arsenal geholt: Der Dialog zwischen wildfremden Menschen.

Man muss es den Franzosen lassen: Sie haben keine Angst, sich gegen eine bestehende Ordnung und vermeintliches Unrecht aufzulehnen. Die soziale Bewegung “Nuit debout” (franz.: die Nacht wach), die sich im Zuge der Proteste gegen die geplanten Arbeitsmarktreformen bildete, ist Ausdruck dieser Streitbarkeit.

Nicht nur der Place de la République in Paris ist seit Ende März ein Sammelpunkt von Nuit debout. Längst hat sich die Bewegung über das ganze Land ausgedehnt. Die angestrebten Reformen des Arbeitsmarktes trugen ihren Teil dazu bei. Die Regierung um Staatspräsident François Hollande erhofft sich von einer Flexibilisierung mehr Beschäftigung.

Schon seit Jahren ist die hohe Erwerbslosigkeit ein Stachel im Fleisch der Gesellschaft. Die Jugendarbeitslosenquote von fast 25 Prozent steht symbolisch für den Niedergang der Grande Nation, deren Wirtschaft an den globalisierten Märkten immer weniger ins Gewicht fällt. Die frühere Kolonialmacht ist gebrechlich wie ein kranker alter Mann.

Die arbeitende Bevölkerung und die mächtigen Gewerkschaften identifizieren mit den Reformen vor allem die Verschlechterung der Rahmenbedingungen: Längere Arbeitszeiten, Kürzung von Überstundenzuschlägen, Aushöhlung des Kündigungsschutzes. Das sind die Tropfen, die das Fass der Unzufriedenheit haben überlaufen lassen. Streiks, Demonstrationen und gewaltsame Auseinandersetzungen zwischen Demonstranten und Staatsgewalt sind jetzt an der Tagesordnung. Bis zu 500 Arbeitskämpfe fanden im Land bereits parallel statt.

Das hat die Regierung nicht davon abgehalten, das umstrittene Arbeitsgesetz wie schon am 10. Mai mit Hilfe des Artikel 49-3 der französischen Verfassung durchzudrücken. Der Artikel erlaubt es der Regierung, die Vertrauensfrage mit der Verabschiedung eines Gesetzestextes zu verknüpfen. Das Beratungsrecht des Parlaments wird dadurch aufgehoben.

Beitragsbild - Nuit debout - Neue Debatte - 24042016 - Olivier Ortelpa (Flickr.com) - CC BY 2.0

Bei Nuit debout geht es dennoch friedlich zu. Man spricht miteinander. Das ist eine viel größere Herausforderung für das Establishment, da nicht mehr die Frage nach der Gestaltung der Arbeitswelt im Mittelpunkt steht. Es geht um die Gesellschaft der Zukunft, in der die Interessen des Kapitals keine Rolle mehr spielen sollen. Nuit debout stellt das kapitalistische System aus Wettbewerb und Individualismus zur Debatte. Die Antwort soll Solidarität, direkte Demokratie und kollektives Handeln sein. Das ist sexy und findet international Anhänger.

Die Proteste haben sich von Frankreich in die Nachbarländer ausgebreitet: Belgien, die Schweiz, Spanien, Italien, Griechenland, England, Österreich. Deutschland registriert Proteste in Leipzig, München, Hamburg, Köln und Berlin-Kreuzberg. Längst ist der große Teich überquert. Nuit Debout ist in den USA angekommen und schickt sich an, nach Chicago und New York, auf dem Justin Herman Plaza in San Francisco sichtbar zu werden.

Früh wurde gemutmaßt, bei Nuit debout seit die verwöhnte Jugend versammelt. Gepeppelte Zöglinge des Mittelstands, die sich sozialen Träumereien hingeben, aber keine politischen Ziele verfolgen und auch nicht auf die Realität in den Banlieus reflektieren. Studenten, Absolventen und Weltverbesserer, die den Kapitalismus verächtlich für jede soziale Schieflage verantwortlich machen. Denen es dabei selbst an nichts mangelt und denen eine goldene Zukunft winkt im Neoliberalismus.

In einem Beitrag über Nuit Debout kam die ZEIT zu der Überzeugung, dass die Proteste von Paris “betörend spontan und unglaublich selbstbezogen” seien. Außerdem spreche die französische Jugend immer noch kein leidliches Englisch. Die Schlussfolgerung: “Kein Wunder, dass sie nicht zu den Gewinnern im Kapitalismus zählt.”

Folgt man dieser Verkürzung, würde der Bewegung die Legitimation für den Protest fehlen. Die Bindung zu den abgehängten Schichten und dem Arbeitermilieu wäre nicht gegeben. Nuit debout wäre demnach kein Ausdruck einer gesamtgesellschaftlichen Empörung über die wachsende soziale Ungleichheit, sondern nur eine intellektuelle Facette in der Dauerschleife aus Frustration und Nörgelei. So eine Kerze erlischt schnell.

Doch die Idee der Bewegung brennt wie eine Fackel und schickt den Sound der Rebellion durch Europa, auch wenn er zeitweise durch die Berichterstattung über die Fußball Europameisterschaft und den Austritt Großbritanniens aus der Europäischen Union übertönt wurde.

Beitragsbild - Nuit Debout - Bürgerbewegung - Neue Debatte - 08072016 - Maxime Lathuilière - CC-BY-SA-4.0 - Wikimedia Commons

Leichtfertig wird übersehen, dass das 21. Jahrhundert ein neues Lumpenproletariat hervorbringt, dessen Kennzeichen Bildung, Laptop und iPhone sind. Die Generation Y ist zwar gut ausgebildet, doch das ist weder eine Garantie für einen erfüllenden Job noch für eine faire Bezahlung.

Am Arbeitsmarkt, der einer fortschreitenden Technisierung und Digitalisierung unterliegt, sind die lukrativen Stellen hart umkämpft. Wer in die Arbeitslosigkeit fällt, dem droht früh der soziale Abstieg. Wer durchgereicht wurde, der bleibt oft genug unten. Scheitern ist in der globalisierten Wettbewerbsgesellschaft aber nicht vorgesehen. Wer keinen Platz in der Arbeitswelt findet, dem wird unterstellt, er sei selbst Schuld an seinem Los.

Die wenig schmeichelhafte Beschreibung für das angeblich persönliche Versagen, schüchtert die Menschen ein und macht ihnen Angst. Die löst sich allerdings schnell in Luft auf, wenn der Einzelne bemerkt, dass er nicht alleine ist mit seiner Perspektivlosigkeit. Dafür müssen die Bürgerinnen und Bürger nur miteinander reden. Auf diese Karte setzt Nuit debout. Der Dialog auf den öffentlichen Plätzen und die moderne Kommunikation, sind die ultimativen Waffen im Arsenal der Bewegung, die den Traum von einer Gesellschaft träumt, in der die Interessen des Kapitals keine Rolle mehr spielen.

In allen relevanten sozialen Netzwerken ist Nuit debout vertreten. Auf Facebook hat sie über 141.000 Fans. TV Debout verbreitet Interviews und Bewegtbilder über YouTube. Mit Radiodebout wurde ein Sender ins leben gerufen, der jeden Abend bis Mitternacht live vom Place de la République berichtet. Liveschaltungen werden über Persicope gesendet. Über den Kurznachrichtendienst Twitter meldet sich BanlieuesDebout …

Beitragsbild - Nuit Debout - Bürgerbewegung - Neue Debatte - 08072016 - Pierre-Yves Beaudouin - CC-BY-SA-4.0 - Wikimedia Commons

An der Form der Diskussion wird deutlich, wie sich die Bewegung von den verachteten Elite abzugrenzen versucht. Jeder hat das Recht zu sprechen. Drei Minuten bekommt man dafür. Dazwischengeredet wird nicht. Nur durch Handzeichen wird sich in den Vortrag eingemischt. Ausnahmen werden nicht gemacht. Selbst Yanis Varoufakis, eine Gallionsfigur der intellektuellen Linken und Gründer der Bewegung DiEM25 (Democracy in Europe Movement 2025), bekam bei einem Besuch von Nuit debout keine Extrawurst.

Dieser Logik folgend bewegt sich Nuit debout nicht auf Kuschelkurs mit den etablierten Eliten, sondern sucht die Nähe zu den rebellischen Gewerkschaften. Da Führungspersönlichkeiten nicht auszumachen sind, ist die Bewegung für das Establishment nicht zu greifen. Eine Beeinflussung, die Nuit debout auf einen regierungsfreundlicheren Kurs bringen könnte, scheint somit ausgeschlossen.

Dabei wäre es unter dem Eindruck der im April 2017 anstehenden Präsidentschaftswahl bitter nötig, Dampf vom Kessel zu lassen. Denn mit der Front National und deren Leitfigur Marine Le Pen, steht eine rechtsextreme Partei an der Schwelle zur Macht. Die FN fährt einen nationalistischen Kurs, liebäugelt mit einem Austritt aus der EU und profitiert von den anhaltenden Protesten.

Die Bewegung Nuit debout ist somit nicht nur ein Sargnagel für die Regierung um François Hollande, sondern trägt ungewollt zum Niedergang der Europäische Union bei. Gemeinsam mit der uneinsichtigen sozialistischen Politikelite in Paris, die sich scheinbar bedingungslos dem Neoliberalismus unterworfen hat, wird dem Nationalismus Tür und Tor geöffnet. Am Ende bleiben die Träume von Nuit debout auf der Strecke, während die Fantasien der rechten Kräfte Realität werden: Europa zerfällt wieder in seine Nationalstaaten.


Fotos: CC0 Public DomainUnsplash und Gerhard Bögner (beide Pixabay.com) sowie Pierre-Yves Beaudouin und Maxime Lathuilière (CC-BY-SA-4.0/Wikimedia Commons).

Gunther Sosna studierte Psychologie, Soziologie und Sportwissenschaften in Kiel und Hamburg. Er war als Handballtrainer tätig, arbeitete dann als Journalist für Tageszeitungen und Magazine und später im Bereich Kommunikation und Werbung. Er lebte hauptsächlich im europäischen Ausland und war international in der Pressearbeit und im Marketing tätig. Sosna ist Initiator von Neue Debatte und weiterer Projekte aus den Bereichen Medien, Bildung, Diplomatie und Zukunftsfragen. Regelmäßig schreibt er über soziologische Themen, Militarisierung und gesellschaftlichen Wandel. Außerdem führt er Interviews mit Aktivisten, Politikern, Querdenkern und kreativen Köpfen aus allen Milieus und sozialen Schichten zu aktuellen Fragestellungen. Gunther Sosna ist Befürworter des bedingungslosen Grundeinkommens und tritt für die freie Potenzialentfaltung ein, die die Talente, Fähigkeiten und die Persönlichkeit des Menschen in den Mittelpunkt stellt, ohne sie den Zwängen der Verwertungsgesellschaft unterzuordnen. Im Umbau der Unternehmen zu gemeinnützigen und ausschließlich dem Gemeinwohl verpflichteten sowie genossenschaftlich und basisdemokratisch organisierten Betrieben sieht er einen Ausweg aus dem gesellschaftlichen Niedergang, der vorangetrieben wird durch eine auf privaten Profit ausgerichtete Wirtschaft, Überproduktion, Kapitalanhäufung und Bullshit Jobs, die keinerlei Sinn mehr haben.

Von Gunther Sosna

Gunther Sosna studierte Psychologie, Soziologie und Sportwissenschaften in Kiel und Hamburg. Er war als Handballtrainer tätig, arbeitete dann als Journalist für Tageszeitungen und Magazine und später im Bereich Kommunikation und Werbung. Er lebte hauptsächlich im europäischen Ausland und war international in der Pressearbeit und im Marketing tätig. Sosna ist Initiator von Neue Debatte und weiterer Projekte aus den Bereichen Medien, Bildung, Diplomatie und Zukunftsfragen. Regelmäßig schreibt er über soziologische Themen, Militarisierung und gesellschaftlichen Wandel. Außerdem führt er Interviews mit Aktivisten, Politikern, Querdenkern und kreativen Köpfen aus allen Milieus und sozialen Schichten zu aktuellen Fragestellungen. Gunther Sosna ist Befürworter des bedingungslosen Grundeinkommens und tritt für die freie Potenzialentfaltung ein, die die Talente, Fähigkeiten und die Persönlichkeit des Menschen in den Mittelpunkt stellt, ohne sie den Zwängen der Verwertungsgesellschaft unterzuordnen. Im Umbau der Unternehmen zu gemeinnützigen und ausschließlich dem Gemeinwohl verpflichteten sowie genossenschaftlich und basisdemokratisch organisierten Betrieben sieht er einen Ausweg aus dem gesellschaftlichen Niedergang, der vorangetrieben wird durch eine auf privaten Profit ausgerichtete Wirtschaft, Überproduktion, Kapitalanhäufung und Bullshit Jobs, die keinerlei Sinn mehr haben.

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