Die Lebensbedingungen in den palästinensischen Flüchtlingslagern sind katastrophal. Kein Strom, keine Medizin, die Kinder spielen zwischen Schutt und Müll. Antonietta Chiodo hat das Elend in Palästina gesehen. Sie berichtet aus Ramallah über die Zustände im Al Amari Refugee Camp.
Ich befinde mich in einem Flüchtlingslager, das 1948 erbaut wurde: das Al Amari Camp in Palästina, vor den Toren der Stadt Ramallah. Ich teile meinen Alltag mit den Flüchtlingen.
Und wie sie wache auch ich jeden Morgen mit dem Geruch des überall in den Straßen umherliegenden Abfalls in der Nase auf. Der wird täglich von Kindern benutzt, um damit zu spielen, bevor sie mit Besen versuchen, ihn so weit wie möglich vom Camp wegzufegen. Aber der Geruch bleibt: säuerlich und Übelkeit erregend. Zu jeder Tages- und Nachtzeit.
Die Straßen sind eng. Sie verbinden weite Ansammlungen von Häusern, zwischen Gassen, die so klein sind, dass in den Regenperioden das Wasser bis zu den Knien reicht: was ein nicht unerhebliches Problem vor allem für die Kleinsten darstellt.
Kein Strom, keine Medizin
Die Bevölkerung ist komplett auf sich alleine gestellt. Nichts ist umsonst. Noch nicht einmal Strom oder medizinische Versorgung. Es drängt sich die Frage auf, warum die von Vereinigungen gesammelten Gelder und die Mittel der Europäischen Gemeinschaft für Flüchtlinge, und bereitgestellt auch für das Internationale Rote Kreuz, nie im Inneren dieser Flüchtlingslager ankommen.
Allein in der Zone von Ramallah gibt es vier Flüchtlingslager. Im Durchschnitt sind es mindestens 300 Familien pro Camp. Von den jungen Studenten schaffen es dort nur wenige, ihr Studium abzuschließen. Es gibt keinen Zugang zu öffentlichen Schulen: die durchschnittlichen Ausgaben, die von einer Familie zu bestreiten wären, belaufen sich auf 2.000 Dollar pro Jahr, um die einzige Universität zu besuchen, die es gibt: eine private.
Die Männer engagieren sich innerhalb der Camps im Bereich der Organisation von sozialen und kulturellen Aktivitäten, und hauptsächlich zugunsten von Behinderten und jungen Menschen. Die Frauen kümmern sich um die Familie und haben Arbeitsgruppen gegründet, um eine bessere wirtschaftliche Zukunft zu ermöglichen.
Die Bewohner des Camps erzählen mir von ihrer Einsamkeit.
Alle haben Tote zu beklagen, die sie zurücklassen mussten. Söhne und Töchter, Ehepartner und Verlobte, nicht nur einfach durch Bomben getötet, sondern oft auf unbegreiflich grausame Art gestorben.
Besonders betroffen macht der Tod eines Familienvaters, der vor einigen Jahren von einem Militärjeep im Camp erdrückt wurde, wie berichtet wird. Die Angelegenheit hätte auch anders laufen können, hätten die Militärs sich nicht dazu entschlossen, mindestens noch ein Dutzend Mal über seinen Körper zu fahren, wie man mir sagt.
Die Bewohner des Camps erzählen mir von ihrer Einsamkeit. Sie möchten, dass die Menschen von ihrer Existenz erfahren. Dass die Welt sich ihrer Schwierigkeiten bewusst wird und ihnen gegenüber nicht gleichgültig bleibt.
Keine Operationen ohne Bezahlung
Ich nähere mich mit meinem Fahrer dem Sitz des Red Cross Crescent: ein erschreckend großer Gebäudekomplex, der ans Lager Al Amari grenzt. Die Angestellten brauchen sich bloß zu einem der vielen Fenster zu wenden, um in die Straßen und die Häuser der Menschen blicken zu können.
Die Bewohner und die Verantwortlichen des Zentrums bestätigen mir, dass ihnen das Recht auf Gesundheitsversorgung gänzlich versagt bleibt: das Krankenhaus erlaubt keine Untersuchungen und Operationen ohne Bezahlung. Ihre Rechte als Flüchtlinge sind praktisch nicht existent. Anders ist es mit Hilfen, die von europäischen Touristen und wohlhabenden Familien gespendet werden, weil diese auf einfache Art per Ticket erfolgen.
Ein Mann im Lager erzählt, er habe vier Kinder. Für die erste Geburt habe er dem Krankenhaus 200 Schekel (etwa 48 Euro) bezahlt. Dann stieg der Preis kontinuierlich bei jeder weiteren Geburt. Am Ende belief er sich auf 500 Schekel, um den Kleinsten zur Welt bringen zu können. Hier gibt es keine von der internationalen Gemeinschaft geschützten Rechte, hier herrscht der Geist von Anpassung und Überleben.
Arzt bei Notfällen nicht verfügbar
Zwar existiert im Camp ein medizinisches Zentrum der berühmten Unrwa, einer Vereinigung der UNO, die sich um Gesundheitsversorgung kümmert, aber die Bevölkerung beklagt die Tatsache, dass der Arzt in Wirklichkeit nur durch vorherige Terminvereinbarung zu erreichen ist und für Notfälle nicht zur Verfügung steht.
Frei erhältliche Medikamente gibt es lediglich zwei: Paracetamol und ein Antiallergikum namens Cetralon. Dieses Antihistaminikum wird für alles benutzt: von Zahnweh über allgemeine Schmerzen, die von Infektionen herrühren bis zur Behandlung von Krebs, der in Palästina, laut neueren Studien im Anstieg zu sein, scheint.
Zusammenfassend ist festzustellen, dass die Arbeit und Leistungen, die von NGOs gespendet werden, praktisch null sind. Es scheint, als sei das einzige Bedürfnis der Ärzte, die Flüchtlinge ruhig zu halten, weil dieses “wundersame” Medikament, das Cetralon, Männern, Frauen und Kindern als Notbehelf für jegliches gesundheitliche Problem gegeben wird, was ihre täglichen Aktivitäten stark beeinflusst.
Wirksame Medikamente sind fast nie auffindbar.
Nachdem was uns die Flüchtlinge im Lager erzählen, verursacht dieses Medikament tatsächlich Zustände starker Müdigkeit, Appetitlosigkeit, Übelkeit und oft auch Durchfall. Mütter beklagen sich, dass die Jüngeren, und nicht nur sie, nach Gabe von Cetralon für einige Tage ans Bett gefesselt sind.
Bis heute gibt es also keine konstante Präsenz von tatsächlicher Hilfe innerhalb des Lagers. Wirksame Medikamente sind fast nie auffindbar und das zwingt die Bevölkerung, sich selber zu helfen oder beim nächstgelegenen Krankenhaus um Hilfe zu bitten, die aber dann nur gegen Bezahlung erfolgt.
Redaktioneller Hinweis: Der Beitrag von Antonietta Chiodo wurde bei unserem Kooperationspartner Pressenza.com erstmals veröffentlicht. Mit Dank an Evelyn Rottengatter für die Übersetzung aus dem Italienischen.

Fotos: Mohammed Abbas
Die Journalistin Antonietta Chiodo wurde in Rom geboren und wuchs in Mailand auf. 1995 beendete sie ihre Ausbildung zur Diplom-Typographin. Sie arbeitete beim Corriere della Sera und begeisterte sich für den Lokaljournalismus. In dieser Zeit beschäftigte sich Antonietta intensiv mit Palästina, Fragen der Menschenrechte und vertiefte ihre Kenntnisse der islamischen Kultur. Als Grafikerin war sie mehrere Jahre für die Zeitschrift Narcomafie tätig, die sich für die Bekämpfung der Mafia engagiert. Antonietta Chiodo schrieb mehrere Bücher und war als Korrespondentin in Burkina Faso und Marokko. Außerdem berichtete sie aus Randzonen verschiedener Kriegsgebiete. Sie gehört zum Autorenteam der humanistiachen Nachrichtenagentur Pressenza und schreibt über die Diversität der Kulturen in den Beziehungen des täglichen Lebens.
2 Antworten auf „Palästina: Flüchtlinge ohne Recht auf medizinische Versorgung“
Vielen Dank für den Beitrag! Davon gibt es viel zuwenige.
Aber, bitte, gestatten Sie mir eine Anmerkung:
Wir sollten nicht dem Reflex erliegen, israelischen Sprachgebrauch zu übernehmen, weil er die Realität verrenkt. Palästinensische “Flüchtlinge” hat es nie gegeben – sondern nur VERTRIEBENE.
Das Wort “Flucht” unterstellt noch immer eine gewisse Freiwilligkeit; Menschen flüchten von ihrem Land, weil darauf der Kampf zwischen zwei Armeen tobt. Weil ein Tornado ihr Dorf total zerstört hat. Weil ein Großbrand gewütet hat. Palästinenser wurden gewaltsam von ihrem Land “entfernt”, auf Lastwagen getrieben und in diesen Camps konzentriert.
Mit “Flucht” hat das nichts zu tun.
Manchmal sind es tatsächlich einzelne Vokabeln, die langfristig wirken und große Strömungen beeinflussen können. Reden wir von VERTREIBUNG – und nicht von “Flucht”!
Ein sehr guter Hinweis.