Europa im Herbst. Blätter fallen lautlos von den Bäumen, Katzen schleichen lautlos durch die Straßen und Menschen stehen regungslos in der Schlange einer Armenspeisung, bemüht, die Lautlosigkeit zu übertreffen. Dieses Bild schreit: What a fuck … !
In der Europäischen Union sind 119 Millionen Menschen von Armut oder sozialer Ausgrenzung bedroht. Das sind fast 24 Prozent der Bevölkerung und somit sozialer Sprengstoff. What a fuck … !
Die Daten wurden vor ein paar Wochen vom statistischen Amt der Europäischen Union (Eurostat) anlässlich des Internationalen Tages für die Beseitigung der Armut veröffentlicht. Das mit dem Sprengstoff steht nicht im Bericht.
Mit Zahlen das Gehirn verstopfen
Dabei ist die Vorstellung, die Europäer könnten aus ihrer Müdigkeit erwachen und sich gegen die Verhältnisse auflehnen, nicht abwegig. An der Wahlurne machen es ja schon Hunderttausende, die sich neofaschistischen Strukturen zuwenden, selbst wenn diese keinerlei Lösungen anbieten.
Nun besteht die Aufgabe von Eurostat nicht in der Sozialkritik oder darin, die politische Linke aufzufordern sich kompromisslos auf die Seite der Armen zu stellen, um sie dem Zugriff der Verführer zu entziehen. Das müssen andere übernehmen. Eurostat widmet sich der Aufbereitung von Daten.
Die grausamen Zahlen der Armut stehen entsprechend korrekt geordnet in Reih und Glied und sind mit Bildern und Grafiken visualisiert. Das Auge isst schließlich mit: auch bei der Armut. Dazu gibt es weitere Daten, noch mehr Statistiken und noch viel mehr Zahlen, mit denen man sich das Gehirn verstopfen kann.
Maul halten und weiter so
In der Sache ist es nämlich völlig unerheblich, ob nun alleinstehende Frauen besonders armutsgefährdet sind oder Jugendliche ohne Schulabschluss oder ungelernte Kräfte. Allein die Zahl von 119 Millionen Menschen ist relevant. What a fuck … !
Die Zivilgesellschaft in Deutschland schreit nicht What a fuck … ! Gegen den Strom zu schwimmen, in Zeiten, in denen Vokabeln wie Nein und Stopp abgelöst wurden durch Ja und Amen ist schwierig.
Für das Ego wäre es gesund aus der Reihe zu tanzen und rebellisch zu sein, was die eigene Haltung und Standhaftigkeit in einer bedeutsamen Sache unterstreichen würde. Das Echo muss aber kalkulierbar bleiben.
Ein falsches Wort, ein missverständlicher Satz, ein zu komplizierter Absatz: Schon fühlt sich irgendeine Gruppierung angegriffen, beleidigt oder sonst wie auf den Schlips getreten. Die Gesamtsituation wird nicht infrage gestellt. Maul halten und weiter so anstatt bis hierher und nicht weiter.
Die Loser der kapitalistischen Verwertungssystematik
Beim Thema Armut folgt reflexartig die Relativierung der Realitäten. Gegenrechnungen werden von den Mainstream-Medien aufgestellt und Tücken der Armutsstatistik aufgezeigt, die belegen sollen, dass ein paar Prozentpunkte zu viel auf der Negativseite verbucht wurden oder der Ansatz, wonach jeder mit weniger als 60 Prozent des mittleren Einkommens als arm gelte, “durchaus in die Irre führen könne”. What a fuck … !
Als würde es einen Unterschied machen, ob nun 23,7 Prozent der Bevölkerung in der EU zu den Losern der kapitalistischen Verwertungssystematik gehören oder wie in Deutschland jeder Fünfte oder in Griechenland jeder Dritte. Es ist ein Unding, das es Armut gibt.
Die Ableitungen sind in einer Überflussgesellschaft ohnehin untauglich. Sie vermitteln den Eindruck man befinde sich auf der ökonomischen Überholspur, während die Zahl der Obdachlosen steigt und die Schlangen an den Tafeln immer länger werden. Sie sind Ausdruck des Niedergangs.
Small Talk der Kapitalismusclaqueure

Wo bleibt in Deutschland die Debatte über die Lösung der Problematik? Sie schafft es ins abendliche TV-Programm zur geistigen Entspannung. Das Oberdeck plaudert in Talkshows über die unhaltbaren Zustände, als säße man mit einem Gläschen Schampus beim Edelgastronom und warte auf die Horsd’œuvre. What a fuck … !
Hier und dort erscheint ein Quotenarmer auf den Theaterbrettern und sorgt für die nötige Legitimation der Markt- und Kapitalismusclaqueure, die ungeniert subtile Formeln der Abwertung menschlichen Daseins verbreiten, die dem kritischen Beobachter die Weißglut ins Gesicht treibt.
Der Markt regelt angeblich alles und Leistungsbereitschaft, das Benzin des Wettbewerbs, entscheide letztlich über Paradies oder Hölle. Wer glaubt ernsthaft, dass sich dadurch die statistischen Verhältnisse ändern?! Es wird die Verantwortlichkeit für das Scheitern auf das Individuum verlagert und die Degradierung vom Subjekt zum Objekt unterstrichen. What a fuck … !
Armut als dauerhaftes Problem
Würde die Rechnung aufgehen, wären eben andere Gruppen von Armut bedroht. Vielleicht diejenigen, die es an einer auf Marktkonformität getrimmten Universität mit viel Schweiß zu einem unterqualifizierten Magisterabschluss gebracht haben und sich wahlweise als mies bezahlte wissenschaftliche Hilfskraft, Taxifahrer oder Tellerwäscher ihr Einkommen zusammenstöpseln, weil sie beim Kampf um die gute Arbeit von Doktoren und Professoren abgehängt wurden.
Armut bleibt ein dauerhaftes Problem und muss gemeinschaftlich gelöst werden. Doch die pluralistische Gesellschaft, in der die Macht nicht zentralisiert, sondern auf die unterschiedlichen Gruppen verteilt sein soll, was ein erstrebenswertes Anliegen ist, hat sich mangels übergeordneter gemeinsamer Ziele bis zur Unkenntlichkeit segmentiert und damit sozialpolitisch kastriert. What a fuck … !
Das Kleinkarierte hat in Deutschland das Große und Ganze abgelöst. Es wird sich lieber für Genderklos engagiert statt für ausreichende Toiletten für jedermann. Der Streit ums Kopftuch wird wichtiger genommen als grundsätzliche Fragen der Religion, Bildung und Aufklärung für alle Menschen. Bei der Bekämpfung der Altersarmut, der Kinderarmut oder der Arbeitslosigkeit wird um Cent und Euro gefeilscht. Statt Ideen wie das Bedingungslose Grundeinkommen einer breiten Diskussion zu unterziehen und neue Strategien zu entwickeln, die den Spuk beenden, werden alte Konzepte wie die Hartz-IV-Gesetze verschlimmbessert.
China beschleunigt die Entwicklung
Der entsolidarisierte sozialpolitische Eunuche wert sich nicht. Er zankt sich lieber um die Krümel auf dem Egoismusteller und stochert mit der Kuchengabel im Klein-Klein, um seinen Nischenfetisch zu bedienen. Große Themen sollten ihm mindestens genauso wichtig sein.
Schließlich kennt jeder, der noch im normalen Leben steht und in normalen Dimensionen denkt irgendjemanden, der zu der Gruppe der 119 Millionen von Armut oder sozialer Ausgrenzung bedrohten Menschen gehört oder er gehört schon jetzt oder bald dazu.
Eine Besserung der Verhältnisse ist nicht in Sichtweite. Selbst wenn die Statistiker sich noch ganz andere Modelle überlegen, um die Armut kleinzurechnen, so kommt niemand an den Auswirkungen der Automatisierung vorbei, die nicht zuletzt durch China eine beeindruckte Geschwindigkeit aufnimmt.
Das Reich der Mitte steigt zur Roboternation auf und wird seine Kapazitäten in den kommenden zwei Jahren mehr als verdoppeln. Das steht in einem aktuellen Bericht der Konferenz der Vereinten Nationen für Handel und Entwicklung. What a fuck … !
Das System spuckt Verlierer aus
Der Wachstumslogik folgend wird sich kein Land in Europa der Automatisierung verweigern, die den Anteil der menschlichen Arbeit massiv reduziert und dabei kaum eine Berufsgruppe ausspart. Mechaniker, Lehrer, Pflegekräfte, Krankenschwestern, Journalisten: Alles kommt auf den Prüfstand.
Die Gelegenheit ist günstig, um über einen neuen Arbeitsbegriff und ein neues Verständnis von Einkommen zu diskutieren. Denn wer kein Einkommen erzielt, der zahlt keine Steuern, keine Sozialabgaben und rutscht in Armut. Da hilft am Ende auch keine Qualifizierung weiter, kein Leistungswille und noch nicht einmal ein akademischer Titel.
In Deutschland sind an den Universitäten rund 2,7 Millionen Studenten eingeschrieben. Weltweit sind es etwa 165 Millionen. Ihre Zahl steigt. 30 Millionen kommen in den nächsten Jahren dazu. Die Steigerung des globalen Arbeitsangebots speist sich aber aus gering qualifizierten Personen und nicht aus Akademikern. Sie werden von der Armut eingeholt.
Gebildet, motiviert, engagiert, leistungsorientiert? Total egal! Das System spuckt zeitnah auch die Intellektuellen als Verlierer aus. Wo ist der Schulterschluss mit den armen Menschen, die heute regungslos in der Schlange einer Armenspeisung stehen, bemüht, die Lautlosigkeit zu übertreffen? Wo bleibt der kollektive Aufschrei: What a fuck … !
Foto: Dariusz Sankowski, Coombesy und Unkown (alle pixabay.com) – Creative Commons Zero.
Gunther Sosna studierte Psychologie, Soziologie und Sportwissenschaften in Kiel und Hamburg. Er war als Handballtrainer tätig, arbeitete dann als Journalist für Tageszeitungen und Magazine und später im Bereich Kommunikation und Werbung. Er lebte hauptsächlich im europäischen Ausland und war international in der Pressearbeit und im Marketing tätig. Sosna ist Initiator von Neue Debatte und weiterer Projekte aus den Bereichen Medien, Bildung, Diplomatie und Zukunftsfragen. Regelmäßig schreibt er über soziologische Themen, Militarisierung und gesellschaftlichen Wandel. Außerdem führt er Interviews mit Aktivisten, Politikern, Querdenkern und kreativen Köpfen aus allen Milieus und sozialen Schichten zu aktuellen Fragestellungen. Gunther Sosna ist Befürworter des bedingungslosen Grundeinkommens und tritt für die freie Potenzialentfaltung ein, die die Talente, Fähigkeiten und die Persönlichkeit des Menschen in den Mittelpunkt stellt, ohne sie den Zwängen der Verwertungsgesellschaft unterzuordnen. Im Umbau der Unternehmen zu gemeinnützigen und ausschließlich dem Gemeinwohl verpflichteten sowie genossenschaftlich und basisdemokratisch organisierten Betrieben sieht er einen Ausweg aus dem gesellschaftlichen Niedergang, der vorangetrieben wird durch eine auf privaten Profit ausgerichtete Wirtschaft, Überproduktion, Kapitalanhäufung und Bullshit Jobs, die keinerlei Sinn mehr haben.