Hinter jedem ideologischen Schein verbergen sich handfeste Interessen. Liefert man sich einseitigen Parteilichkeiten und angemaßten Deutungshoheiten aus, versteht man von dem, um was es wirklich geht, nicht viel. Ein Plädoyer für das Lernen!
Menschen müssen lernen, analysieren, untersuchen und hinterfragen, um zu verstehen. Das gilt immer und bei allen Fragen und Problemen. Für Naturwissenschaft und Technik ist das ein Selbstgänger. Schwieriger, aber mindestens genauso wichtig, wird es im Zusammenleben der Menschen sowohl im privaten Umkreis als auch erst recht im großen, gesellschaftlichen Ganzen.
Im Zwischenmenschlichen ist es noch einsehbar, dass ich die Reaktionen, das Handeln und die Einstellungen des/der anderen nur verstehen kann, wenn ich seine/ihre Lebensumstände kenne. Ich muss auch seine/ihre Geschichte, seinen/ihren Werdegang, sein/ihr Schicksal kennen, um ihm/ihr gerecht werden zu können.
Im großen Zusammenleben von Millionen, ja Milliarden von Menschen gilt das im Prinzip ebenso. Allerdings nehmen die Probleme als wirtschafts- und staatspolitische Abläufe angesichts des Gefälles von Armut und Reichtum, Bildung und Analphabetentum, Ausbeutung und Massenarbeitslosigkeit und Zerstörung der Lebenswelt eine andere Qualität an.
Einseitige Parteilichkeiten und angemaßte Deutungshoheiten
In der Gesellschaft gibt es meist hinter dem ideologischen Schein und dem präsentierten Gesellschaftsbild handfeste Interessen und politische Machtkämpfe. Gezielte Manipulationen beruhen auf einseitigen Parteilichkeiten und angemaßten Deutungshoheiten. In ihnen spiegeln sich in der Regel bestimmte Klasseninteressen wider.
Liefert man sich gutgläubig einer entsprechenden Beeinflussung aus und nimmt sie als gegeben hin, versteht man von dem, was um einen herum und mit einem gespielt wird, nicht viel.
Es geht einem wie bei einem Menschen, den man nur oberflächlich und flüchtig kennt. Man kann sich durch sein Äußeres, sein Outfit in ihm sehr täuschen – sowohl durch schnieke Designerklamotten oder in seiner eventuell abgerissenen Kleidung.
Genau so kann man auch im Großen weit daneben liegen, wenn man als Tourist in der edlen Einkaufsmall einer Großstadt lustwandelt, ohne die Vorstädte und die Arbeitslosenzahlen zu kennen. Oder anders herum sich nur in seinem eigenen Problemstadtteil und, wenn es hochkommt, noch in seiner Schrebergartenkolonie und seinem Sportverein auskennt und alles andere als fremd, unheimlich, ja feindselig empfindet.
Lassen wir niemanden für uns vordenken!
Ohne zu lernen, zu analysieren und zu hinterfragen ist man Wachs in den Händen von geschäftsmäßigen Medienprofis, die einem nur zu oft und auf allen Gebieten einseitiger Berichterstattung und einer schönen, heilen Werbewelt mit voller Absicht alle möglichen Xe für U’s vormachen. Man bleibt hilflos zurück, denn man spürt am eigenen Leibe und durch eigene Erfahrungen und Erlebnisse, dass etwas überhaupt “nicht stimmt im Staate Dänemark”.
Wir müssen unbedingt verstehen, was da nicht stimmt. Das muss jeder für sich selbst durchdenken. Lassen wir niemanden für uns vordenken! Wir haben unsere Erfahrungen, wir erleben allerorten beängstigende, einschüchternde und wütend machende Abläufe und Ungerechtigkeiten, die die Bevölkerung bei all der Medienbespaßung möglichst verdrängen soll. Tun wir ihnen diesen Gefallen nicht und hinterfragen eigenständig, kritisch und selbstkritisch.
Stellen wir zunächst einmal alles in Frage!
Lernen wir also entsprechend dem Kennenlernen eines Mitmenschen die Lebenslage unserer eigenen Bevölkerung, die der anderen Völker in Europa und der Welt kennen, wie sich ihr jeweiliger Lebenslauf gestaltet hat, das heißt wie und weshalb sie über viele Jahrzehnte zu dem geworden sind, wie sie sich heute präsentieren und durch welche lange historische Entwicklung sie jeweils gegangen sind oder getrieben wurden.
Stellen wir zunächst einmal alles in Frage, was uns heute suggestiv und gebetsmühlenartig, wie ich meine, eingetrichtert wird.
Hinterfragen wir also “unsere Demokratie”, die “freiheitlich-demokratische Grundordnung”, “Nation und Vaterland”, “unsere westlichen Werte”, die Macht des Privateigentums und die “soziale Verpflichtung des Kapitals” und die “Gleichheit aller vor dem Gesetz”.
Zielgerichtet lernen, analysieren, streiten und gemeinsam handeln!
Die amerikanische “Declaration of Independence1” von 1776 behauptet: “(…) that all men are created equal, that they are endowed by their Creator with certain unalienable rights, that among these are life, liberty and pursuit of happiness.”
Zugleich stöhnt und leidet die Welt unter einer ungeheuren Hortung von Milliardenkapitalen und unvorstellbarer Konzentration von Reichtum bei ein paar Hundert “global players” und lässt zugleich in Afrika gerade Millionen Kinder und ihre Eltern verhungern.
Wut und Scham empfinden ist das eine. Zu hinterfragen und die Schuldigen und Feinde der Menschheit klar benennen zu können und zu überlegen, wie man ihnen das Handwerk legen kann, ist etwas anderes. Genau darum geht es: Zielgerichtet lernen, analysieren, streiten und gemeinsam handeln!
Ich habe meine eigenen Ergebnisse vorgelegt (Kompass), andere sehen andere Schwerpunkte und Aufgaben. Zusammen, unabhängig und gründlich werden wir uns und müssen wir uns auf den Weg machen.
Non scholae sed vitae discimus!2
Quellen und Anmerkungen
[1] Ihre Loslösung von Großbritannien und ihr Recht einen eigenen souveränen Staatenbund zu bilden proklamierten am 4. Juli 1776 die dreizehn britischen Kolonien in Nordamerika in der Unabhängigkeitserklärung der Vereinigten Staaten von Amerika (eng.: Declaration of Independence). Die erste deutsche Übersetzung der Unabhängigkeitserklärung veröffentlichte in Philadelphia einen Tag nach ihrer Verabschiedung die deutschsprachige Zeitung Pennsylvanischer Staatsbote. Den im Beitrag zitierten Abschnitt gab sie folgendermaßen wieder: “[Wir halten diese Wahrheiten für ausgemacht], dass alle Menschen gleich erschaffen worden, daß sie von ihrem Schöpfer mit gewissen unveräußerlichen Rechten begabt worden, worunter sind Leben, Freiheit und das Bestreben nach Glückseligkeit.” ↩
[2] Der reiche und mächtige Römer Seneca, Berater des Kaisers Nero, schrieb einmal: “Non vitae sed scholae discimus!” (dt.: Nicht für das Leben, sondern für die Schule lernen wir!). Der Ausspruch ist auch heute noch vielfach Motto des Bildungssystems. Die Wahrheit ist natürlich anders herum – und so auch als Spruch in aller Munde. ↩
Foto: Öffentliche Bibliothek in Stockholm – perceptions creative pause (flickr.com) – CC BY-ND 2.0.
Reinhard Paulsen studierte in den Jahren 1967-1974 Geschichte an der Universität in Kiel und schloss das Studium mit dem Grad eines Magister Artium ab. Danach verließ er das akademische Intellektuellenmilieu und absolvierte eine Schlosserlehre.
Reinhard Paulsen arbeitete als Betriebsschlosser in einer Aluminiumhütte und wechselte 1977 zu einem weltweit tätigen Konzern der Chemischen Industrie, in dem er 35 Jahre bis zu seinem Ruhestand 2012 angestellt war. Seine Arbeit umfasste Schlosser-, Techniker- und Ingenieursarbeit und Tätigkeiten in der Qualitätssicherung und im Reklamationswesen. In all diesen Jahren war Paulsen basisgewerkschaftlich engagiert: sei es als Vertrauensmann, als Betriebsrat oder in der gewerkschaftlichen Erwachsenenbildung, wobei er persönlich kritische Distanz zum Gewerkschaftsmanagement hielt.
2002 kehrte er nach 28 Jahren und parallel zu seiner beruflichen Tätigkeit an die Universität zurück. Er arbeitete ab 2006 an der Universität Hamburg (Fakultät für Geisteswissenschaften) an einem Promotionsprojekt zu hamburgischer und europäischer Schifffahrt im Mittelalter sowie deutscher Forschungsvergangenheit, das er 2014 mit dem Grad eines Dr. phil. in mittelalterlicher Geschichte abschloss. 2013 und 2014 nahm er Lehraufträge in mittelalterlicher Geschichte an der Universität Hamburg wahr.