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Presse & Freiheit

Wie die Medien über Gewalt berichten

Institutionelle, revolutionäre und repressive Gewalt stehen in einem engen Zusammenhang. Bewertet werden sie aber völlig unterschiedlich.

Institutionelle, revolutionäre und repressive Gewalt stehen in einem engen Zusammenhang. Bewertet werden sie aber völlig unterschiedlich. Mathieu Aucouturier geht der Frage nach, wie französische Medien über Gewalt berichten.

Es gibt drei Arten von Gewalt. Die erste, Mutter aller anderen, ist die institutionelle Gewalt, die die Herrschaft, die Unterdrückung und die Ausbeutung legalisiert und aufrechterhält, die Millionen von Menschen erdrückt und niederwalzt mit leisen und gut geölten Räderwerken. Die zweite Gewalt ist die revolutionäre, die entsteht um die erste abzuschaffen. Die dritte Gewalt ist die repressive, die die zweite ersticken will und sich so zum Helfer und Komplizen der ersten Gewalt macht, jener, die alle anderen hervorruft. Es gibt keine schlimmere Heuchelei als nur die zweite als Gewalt zu bezeichnen und scheinbar die erste zu vergessen, die sie hervorruft und die dritte, die sie tötet.

Dom Hélder Pessoa Câmara1

Die Ereignisse der letzten Zeit (Gewalt am Rande der Demonstrationen, zerrissene Hemden …) zeigen uns mit erstaunlicher Klarheit die ungeheure Scheinheiligkeit der Editokratie, die allenthalben die 2te Gewalt verurteilt, ohne jemals von der 1sten zu reden, sie redet allenfalls von der 3ten, wenn die Bilder wirklich schockierend sind. Schlimmer noch: diese Gewalt wird benutzt, um den gesamten Widerstand zu diskreditieren.

Es genügt ein Blick in die verschiedenen Nachrichtensendungen, um festzustellen, wie viel Zeit für die Ausschreitungen verwendet wird im Verhältnis zum Rest der Bewegung und die verwendete Begrifflichkeit bei der Bewertung der Ereignisse (Lynchjustiz, Verwüstung, Gewerkschaftsterrorismus …).

Sturm auf die Bastille als Schlagzeile

Stellen wir uns ein wenig die Zeitungsüberschriften der heutigen Presse im Jahr 1789 nach der Einnahme der Bastille2 vor, und erwähnen wir nebenbei, dass die Stürmung eines Gefängnisses, bei der Soldaten und Wächter getötet werden, etwas ungleich gewalttätigeres ist als brennende Autos und zerbrochene Scheiben.

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Die Erstürmung der Bastille am 14. Juli 1789 war der erste Sieg über eine Befestigung der Despotie und Geburtsstunde der Französischen Revolution. (Foto: Gemeinfrei)

Die Journalisten und Politiker, die sich sofort über die aktuelle Gewalt empören, sind doch gerade die Ersten, die die befreiende Gewalt der Vergangenheit feiern.

Zur Rechtfertigung dieser Inkohärenz3 erklären sie, dass im Gegensatz zu heute, die damalige Gewalt legitim war und zum demokratischen Fortschritt geführt hat.

Es stellt sich also die Frage nach der Legitimität der revolutionären Gewalt. Die Antwort auf diese Frage scheint einfach: Wenn die institutionelle Gewalt ausgeprägt ist, dann ist die revolutionäre Gewalt gerechtfertigt. Wenn die institutionelle Gewalt sehr unterschwellig und indirekt ist, lässt sie sich schwierig identifizieren von jemandem, der sie nicht erlebt. Schlimmer noch: Manchmal ist sie denjenigen, die sie ausüben, nicht bewusst.

Es erstaunt daher nicht, dass die Regierung und die großen Medien (die in ihrer Mehrheit den großen Industriekonzernen gehören) laut aufschreien bei der geringsten Sachbeschädigung, die sie für vollkommen ungerechtfertigt halten. Ihre Überlegung lautet: Alles ist zum Besten in der besten aller Welten.

Das ist absolut verständlich, denn es ist ja völlig normal die Welt für perfekt zu halten, wenn sie uns begünstigt.

Gewalt als Antwort auf Gewalt

Wir können vernünftigerweise davon ausgehen, dass die allermeisten Leute nur in Frieden vor sich hinleben wollen, und dass die Gewalttaten von Widerstandsbewegungen selten ungestraft bleiben, dann können sie nicht einer zynischen und kalten Bosheit entspringen. Die Gewalt ist also ein Ausdrucksmittel von Leuten, die keinen anderen Ausweg gefunden haben.

Es gibt zahlreiche symbolische Gewaltakte, die oft gehäuft auftreten und einen solchen Druck auf Menschen ausüben können, dass es zu explosiven Situationen kommt. Die revolutionäre Gewalt ist also eine direkte Antwort auf diese symbolische Gewalt, die unsichtbar und diffus wirkt.

Die Befürworter der Gewalt beziehen sich mehrheitlich auf die Rachelust “Unsere Gewalt ist legitim, da wir täglich Opfer der Gewalt sind” oder “Wer Armut sät, erntet Wut”. Dieser allzu verständliche Diskurs trägt in keinster Weise zur politischen Lösung bei und wird selten verstanden.

Diese Art der Gewalt wird als völlig unmotiviert wahrgenommen, zumal sie sich selten direkt gegen die verantwortlichen Institutionen der symbolischen Gewalt wendet, sondern gegen diejenigen, die ihr weniger oder nicht ausgesetzt sind (dem Anschein nach), gerade so, als ob sie die schweigenden Komplizen der Institutionen wären oder gegen die Polizei, die als oberste Verräter wahrgenommen werden, da sie die herrschende Ordnung aufrechterhalten.

Wenn diese Gewalt gegen die Urheber der institutionellen Gewalt gerichtet ist, wird sie gleichermaßen diskreditiert aufgrund ihrer spektakulären Art, wodurch sie leicht zu identifizieren und zu verurteilen ist.

Die selbst ernannten Richter

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Einsatz deutscher Soldaten gegen die Resistance in der Bretagne. Widerstandskämpfer wurden von der Propaganda als Terroristen diskreditiert. (Quelle: Bundesarchiv, Bild 183-J27288)

Auch wenn die Gewalt in der Regel keine politische Lösung ist, bleibt sie dennoch ein Ausdrucksmittel für diejenigen, denen man keine anderen Mittel lässt, sie ist oft eine emotionale Antwort auf einen Reiz oder eine verzweifelte Situation.

Die Geschichte zeigt uns, dass Gewalt immer von den Institutionen und der privilegierten Klasse einer jeden Epoche verurteilt wird, aber dass sie den nachfolgenden Generationen oft nützlich und notwendig erscheint; die Französische Revolution liefert uns das eindeutigste Beispiel, aber vergessen wir nicht die Résistance (den Widerstand) im 2. Weltkrieg, die seinerzeit als Terroristen bezeichnet wurden.

Wenn man über Gewalt urteilen will, muss man die tiefen Ursachen der Gewalt berücksichtigen und vor allem die Gründe ihrer Entstehung beseitigen.

Unglücklicherweise sind die selbst ernannten Richter über die Gewalt dieselben Leute, die die institutionelle Gewalt ausüben. Wir können also nicht mit ihnen rechnen, wenn es darum geht, die Gewalt zu verurteilen, die sie ausüben, manchmal ohne sich dessen bewusst zu sein.


Redaktionelle Anmerkung: Der Beitrag von Mathieu Aucouturier wurde erstmals bei unserem Kooperationspartner Gazette Debout veröffentlicht. Mit besonderem Dank an Dr. Susanne Hildebrandt für die Übersetzung aus dem Französischen.


Quellen und Anmerkungen

[1] Dom Hélder Pessoa Câmara (1909 – 1999) war ein brasilianischer Erzbischof von Olinda und Recife. Er gründete die ersten kirchlichen Basisgemeinden in Brasilien und gehörte zu den profiliertesten Vertretern der Befreiungstheologie. Câmara galt in Brasilien als einer der bedeutendsten Kämpfer für die Menschenrechte, der die Folterer und Mörder während der Militärdiktatur von 1964 bis 1985 in der gesamten Welt anprangerte.

[2] Die Bastille (franz. kleine Bastion) war ursprünglich eine befestigte Stadttorburg im Osten von Paris, die später als Gefängnis genutzt wurde. Der Sturm auf die Bastille am 14. Juli 1789 kann als symbolischer Auftakt und Geburtsstunde der Französischen Revolution interpretiert werden. Die Bastille wurde von einer Menschenmenge belagert, die an die gelagerten Munitionsvorräte gelangen wollte. Der Kommandant, Bernard-René Jordan de Launay gab Befehl auf die Menschenmenge zu feuern. Es soll über 90 Tote gegeben haben. Die Menge zog sich zurück, kam aber mit besserer Bewaffnung und Kanonen wieder. Die Wachmannschaft – Veteranen und Invaliden – kapitulierte. Trotz Zusicherung des freien Geleits wurde Bernard-René Jordan de Launay auf dem Weg zum Rathaus wegen seines Schießbefehls von einem Metzger geköpft. Ein einfacher Wachsoldat wurde ebenfalls ermordet. Jacques de Flesselles, ein Adeliger und Oberhaupt des Pariser Magistrats, wollte den Kommandanten retten: Er wurde ebenfalls geköpft. Unter dem Jubel der Bevölkerung wurden die Köpfe auf Heugabeln gespießt und durch die Straßen der Hauptstadt getragen. Es waren die ersten adligen Opfer der Revolution. Bereits zwei Tag nach dem Sturm und dem ersten Sieg über eine Befestigung der Despotie, begann unter der Leitung von Pierre-François Palloy der symbolisch bedeutsame Abriss der Bastille.

[3] Inkohärenz (nicht zusammenhängend) bezeichnet allgemein den inneren oder äußeren fehlenden Zusammenhang oder Nichtzusammenhalt von etwas.


Fotos: Cyrille Choupas /DR – Gazette Debout und “Die Erstürmung der Bastille als Geschichtsmythos” (Bild von Jean-Pierre Louis Laurent Houel, veröffentlicht 1789) – Jean-Pierre HouëlBibliothèque nationale de France (Gemeinfrei) sowie “Einsatz deutscher Einheiten in der Bretagne vermutlich im Sommer 1944 gegen die französische Resistance” (Wikipedia – Bundesarchiv, Bild 183-J27288 / Koll / CC BY-SA 3.0 DE).

Mathieu Aucouturier ist ein Autor aus Frankreich. Er schreibt unter anderem für Gazette Debout.

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