Vergesst das künstliche Interpretieren. Lyrik ist etwa viel Wertvolleres als Comedy-Shows im Fernsehen. Assoziiert, fühlt mit, lasst euch anmachen, werdet wütend, angeekelt, traurig, freudig erregt oder angriffslustig: Zieht euch Gedichte rein!
Ich halte die Poesie für eine tolle, wenn auch für viele gewöhnungsbedürftige Sache, wurde doch vielen schon in der Schule mit aufgesetzten Interpretationen die Lust an Lyrik ausgetrieben.
Lyrik ist etwas viel Wertvolleres als Oberflächliches zum Beispiel von Ed Sheeran oder Helene Fischer oder die Comedy-Shows im Fernsehen. Sie dienen nur zur Ablenkung, zum kurzzeitigen Bespaßen.
Wenn der Song und die Show vorbei sind, erwachst du wieder abrupt in deinen eigenen, schwierigen, problembeladenen oder sogar beschissenen Lebensumständen.
Gedichte wie von Bertolt Brecht oder Ingeborg Bachmann[1] bieten etwas ganz anderes.
Sie sind persönlich. Du kannst dich mit allen deinen Fragen und Problemen, deinem Frust und deiner Wut an den Text begeben. Du kannst mit dem Gedicht und der Dichterin quasi in seelischen Kontakt treten, kannst sie befragen, sie ist ganz offen, kannst erkennen, wie es ihr geht und ob ihre Antworten für dich und deine Gefühle Bedeutung haben oder bekommen, wenn du nachfühlst und erahnst, was sie umtreibt.
Am 21. März war Welttag der Poesie. Zu diesem Anlass wurde auf NDR-Kultur ein Gedicht von Ingeborg Bachmann von 1953 vorgelesen, das mich sofort – unsentimental, aber doch sehr – berührt hat. Wie geht es euch mit diesem Gedicht? Lest es euch am besten laut vor:
Ingeborg Bachmann
Die gestundete Zeit
Es kommen härtere Tage.
Die auf Widerruf gestundete Zeit
wird sichtbar am Horizont.
Bald musst du den Schuh schnüren
und die Hunde zurückjagen in die Marschhöfe.
Denn die Eingeweide der Fische
sind kalt geworden im Wind.
Ärmlich brennt das Licht der Lupinen.
Dein Blick spurt im Nebel:
die auf Widerruf gestundete Zeit
wird sichtbar am Horizont.
Drüben versinkt dir die Geliebte im Sand,
er steigt um ihr wehendes Haar,
er fällt ihr ins Wort,
er befiehlt ihr zu schweigen,
er findet sie sterblich
und willig dem Abschied
nach jeder Umarmung.
Sieh dich nicht um.
Schnür deinen Schuh.
Jag die Hunde zurück.
Wirf die Fische ins Meer.
Lösch die Lupinen!
Es kommen härtere Tage.
Liebe/r Leser/in, vielleicht kannst du mit solcher etwa gedankenschwerer und düsterer Lyrik nicht viel anfangen; vielleicht auch doch; vielleicht ruft so ein Gedicht bei dir auch ganz andere Assoziationen hervor als bei mir.
Die Dichterin hat sicher ihre eigene, die Nachkriegszeit, vor Augen gehabt. Sie bejubelt nicht irgendein aufziehendes Wirtschaftswunder, sondern: Es kommen härtere Tage.
Irgendwie sprach mir das Gedicht aus der Seele, denn genau das ist auch mein Gefühl: Es kommen härtere Tage.
Die auf Widerruf gestundete Zeit läuft ab. Die bisher bis auf Weiteres ‚aufgeschobene‘ Zeit nimmt Konturen an, wird sichtbar am Horizont. Er zieht auf, der Zeitenwechsel.
Die hinausgezögerten, aufziehenden Zeiten werden härtere Zeiten werden, brutale Zeiten. Die geliebte, gute, gestundete, alte Zeit versinkt im Treibsand, verliert ihre Schönheit, hat nichts mehr zu sagen und tritt ab, stirbt ab, widerstandslos, ergeben, willig.
Wird hier nicht ein Zusammenbruch, ein Epochenende beschrieben? Dieses Ende wird kalt, wie der Wind über den Eingeweiden toter Fische am Strand. Gehen wir mit den Zeiten in einsamen Marschhöfen unter, vielleicht wie Rungholt?
Wir sollten aufbrechen; es ist sinnlos zu bleiben; gehen wir dem Ende der alten Zeiten am Horizont entgegen; lassen wir die untergehenden, verwehenden Zeiten bewusst hinter uns: Schnür die Wanderschuhe, verlasse die umzäunte, einsame Scheinsicherheit, die Marschhöfe. Nimm nichts Lebendiges, Anhängliches, Treues mit: Jag sogar die Hunde zurück. Selbst ein bisschen Natur anpflanzen und ernten, geht nicht mehr. Hör auf damit, es macht keinen Sinn mehr: Lösche selbst die ärmlich-gelben Lupinen!
Es ist kein heroischer Aufbruch, kein optimistischer Abschied. Wir sehen nicht, was vor uns liegt: Dein Blick spurt im Nebel. Wir wissen nur eines: Es kommen härtere Tage.
Keine Revolution, kein Sieg über das Finanzkapital und die Regenmacher, sondern ein trauriger Aufbruch ins Ungewisse, eigentlich eine Flucht zum Horizont. Trifft das nicht heute schon genau auf die Millionen Flüchtlinge zu? Ein düsteres Gedicht – und doch nicht unrealistisch.
Ich bin hin- und hergerissen, denn ich wehre mich instinktiv gegen solche Art von Aufbruch ins Ungewisse. Ich frage mich von allem das, was Ingeborg Bachmann nicht benennt: Woher kommt der Nebel, obwohl der Wind weht (ihr wehendes Haar). Wer stundete überhaupt die Zeit und entscheidet über den Widerruf?
Man hat viel Theorie im Kopf, gute Erklärungen. Aber man muss sich auch der Angst stellen, der Ungewissheit der Zukunft, denn eigentlich spüren und wissen wir nur eines mit Sicherheit:
Es kommen härtere Tage.
Liebe Leserin, lieber Leser, vielleicht kannst du mit solcher etwa gedankenschwerer und düsterer Lyrik nicht viel anfangen; vielleicht auch doch; vielleicht ruft so ein Gedicht bei dir auch ganz andere Assoziationen hervor als bei mir.
Ich kann nur jeden ermutigen, sich Gedichte im wahrsten Sinne des Worts “reinzuziehen”.
Vergesst das ganze künstliche Interpretieren. Assoziiert, fühlt mit, lasst euch anmachen, werdet wütend, angeekelt, traurig, freudig erregt oder angriffslustig. Wie auch immer. Nach dem Gedicht seid ihr vielleicht ein ganz klein wenig freier, klarer und weniger allein als vorher.
Ich lade euch ein, fleißig von der Kommentarmöglichkeit Gebrauch zu machen und von euren Lyrikerfahrungen zu erzählen.
Reinhard
Quellen und Anmerkungen
[1] Ingeborg Bachmann (1926 – 1973) war eine österreichische Schriftstellerin. Sie gilt als eine der bedeutendsten deutschsprachigen Lyrikerinnen und Prosaschriftstellerinnen des 20. Jahrhunderts. Seit 1977 wird ihr zu Ehren der Ingeborg-Bachmann-Preis verliehen. ↩
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Reinhard Paulsen studierte in den Jahren 1967-1974 Geschichte an der Universität in Kiel und schloss das Studium mit dem Grad eines Magister Artium ab. Danach verließ er das akademische Intellektuellenmilieu und absolvierte eine Schlosserlehre.
Reinhard Paulsen arbeitete als Betriebsschlosser in einer Aluminiumhütte und wechselte 1977 zu einem weltweit tätigen Konzern der Chemischen Industrie, in dem er 35 Jahre bis zu seinem Ruhestand 2012 angestellt war. Seine Arbeit umfasste Schlosser-, Techniker- und Ingenieursarbeit und Tätigkeiten in der Qualitätssicherung und im Reklamationswesen. In all diesen Jahren war Paulsen basisgewerkschaftlich engagiert: sei es als Vertrauensmann, als Betriebsrat oder in der gewerkschaftlichen Erwachsenenbildung, wobei er persönlich kritische Distanz zum Gewerkschaftsmanagement hielt.
2002 kehrte er nach 28 Jahren und parallel zu seiner beruflichen Tätigkeit an die Universität zurück. Er arbeitete ab 2006 an der Universität Hamburg (Fakultät für Geisteswissenschaften) an einem Promotionsprojekt zu hamburgischer und europäischer Schifffahrt im Mittelalter sowie deutscher Forschungsvergangenheit, das er 2014 mit dem Grad eines Dr. phil. in mittelalterlicher Geschichte abschloss. 2013 und 2014 nahm er Lehraufträge in mittelalterlicher Geschichte an der Universität Hamburg wahr.