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Die Korruption in ihrem natürlichen Element

Korruption ist in der französischen Politik keine Ausnahme, sondern folgt den Regeln einer kapitalistischen Ökonomie. Dahinter steckt ein Herrschaftsprinzip, sagt Mathieu Brichard. Er stellt in seinem Beitrag die Details und die Mechanismen der strukturellen Korruption und die Protagonisten des Systems vor.

Der Blickwinkel der Präsidentschaftskampagne hat sich seit einem Monat abermals verengt auf eine einzige Frage: die vermutete Korruption von François Fillon und die weniger öffentlich bekannte von Marine Le Pen.

Schon zuvor ging es im Wahlkampf hauptsächlich um die Person der Kandidaten unter Inkaufnahme des Risikos die großen gesellschaftlichen Fragen und die Wahlprogramme in den Hintergrund treten zu lassen, was ein entscheidendes Merkmal der V. Republik und ihres präsidentiellen Systems ist.

François_Fillon_2010_Von Marie-Lan Nguyen_Eigenes Werk_CC BY 3.0
François Fillon

Die Wahlkampagne wird so zum Theaterstück mit überraschenden Wendungen, Höhepunkten, Verwechslungen und Missverständnissen … allesamt Kunstgriffe, die mal eher Boulevardstück, mal mehr Tragödie abgeben. Aber so wird die Kampagne auf ein Scheingefecht beschränkt und die Scheinwerfer beleuchten eine beschränkte Anzahl von Darstellern, um desto besser die gesellschaftlichen Kräfte, die Kämpfe, die unteren Volksschichten oder jeden anderen gesellschaftlichen Akteur unsichtbar zu machen, den man in den Sphären der Macht und in den Medien nicht als denkendes und handelndes Subjekt anerkennen will.

Die “Zahnlosen” sind nur dann gute Themen für die Medien, wenn sie loyale Untertanen der Krone abgeben oder wenn man sie als Objekte in die Kategorie “Randalierer” einordnen kann, was niemals als “widerständisch” definiert wird … denn dann müsste man ja sagen, wogegen jemand sich erhebt und Widerstand leistet.

Auf der Bühne des aktuellen politischen Dramas wird also das Stück “Die Korruption” gegeben. Mein Beitrag soll hier sein, ausgehend von dieser Beispielszene, Abstand zu nehmen von der Einzelbetrachtung und somit von den Fällen François Fillon[1] oder Marine Le Pen[2], um die Korruption nicht als Fehlverhalten der Politiker der Republik zu betrachten, sondern als Regelfall in einer kapitalistischen Ökonomie, und sogar darüber hinaus als Ergebnis eines Prinzips, das ich Herrschaftsprinzip nennen möchte.

Die Klassenverblendung

Wenn Herr Fillon sagt, dass ihm nicht bewusst war, dass die Meinungen sich gerändert haben (“Das, was gestern noch akzeptabel war, ist es heute nicht mehr“, stellte er am 6. Februar fest), dann glaube ich ihm beinahe.

Er sieht sich selbst nicht als Dieb. Ein Dieb ist in seiner Vorstellungswelt jemand, der einem das Handy auf offener Straße entwendet oder jemand, der eine Bank überfällt. Die Diebe sind schmutzig, gewalttätig und ungebildet.

Im Gegensatz dazu ist die Tatsache, dass jemand seine Ehefrau und seine Kinder mit Staatsgeldern entlohnt, das gesamte Budget zweckentfremdet, das eigentlich für die parlamentarischen Mitarbeiter gedacht ist, um sich zu bereichern oder um seine Kinder zu begünstigen, das alles ist in Herrn Fillons Welt kein Diebstahl. Warum?

Seitdem er Abgeordneter geworden ist, und wahrscheinlich schon zuvor, haben alle seine Kollegen ihm die Legitimität dieser Nebeneinkünfte eingetrichtert. Wenn er dann sagt (und durch seine Anwälte wiederholen lässt), dass das oberste Finanzgericht nicht zuständig ist für die Untersuchung der Entlohnung der parlamentarischen Mitarbeiter, dass es also nicht “die richtigen Stellen für die Untersuchung” sind, und wenn gleichzeitig andere Abgeordnete betonen, dass niemand sich einmischen und den Abgeordneten sagen darf, was sie mit dem ihnen zugebilligten Etat machen, dann kann einen das natürlich schockieren. Und ich bin schockiert.

Aber sie sprechen damit nur einen Brauch, ein ungeschriebenes Gesetz, aus, das nur solange Anwendung finden kann wie es geheim und unsichtbar bleibt, solange man es unter sich, also innerhalb der Oligarchie anwendet. Es wäre zweifelsohne besser, wenn sie in ihrem eigenen Interesse lieber nichts sagen und einfach weitermachen würden, solange man sie nicht dabei erwischt.

Eine Zwei-Klassen-Justiz

Vor einigen Tagen, als im Parlament über die Ausweitung der Regeln für den polizeilichen Gewalteinsatz und die Bedingungen für den Waffengebrauch abgestimmt wurde, haben die Abgeordneten eine Gesetzesänderung zur Verjährung von sogenannten “White-Collar-Delikten”[3] beschlossen, indem sie die Verjährungsfrist für diese bürgerlichen Vergehen wie die Zweckentfremdung und Unterschlagung von öffentlichen Geldern auf zwölf Jahre reduziert haben, während die Frist für alle anderen Vergehen und Verbrechen verdoppelt wurde.

Gemäß diesem neuen Gesetz könnte die Untersuchung zu den Scheinverträgen von Herrn Fillon nicht weiter als 2004 zurückgehen, obwohl Mediapart und Le Canard enchaîné aufgedeckt haben, das sein System des Absaugens von öffentlichen Geldern schon seit 1989 besteht. Es handelt sich also nicht um einen einzelnen Abgeordneten, der sich da in seine parlamentarische Würde einhüllt, um sich vor Strafverfolgung zu schützen.

Le_Pen_Marine_Von Foto-AG Gymnasium Melle - CC BY-SA 3.0
Marine Le Pen

Und es handelt sich nicht nur um Marine Le Pen, die dem Europäischen Parlament die Zuständigkeit abstreitet von ihr Rechenschaft zu verlangen und sich damit der Polizei und der Justiz entzieht. Nein, es ist die Gesamtheit aller Abgeordneten, unabhängig davon, ob sie mit Ja gestimmt oder sich enthalten haben, die sich da kollektiv eine Amnestie beschafft haben.

In einer Vollversammlung von vergangener Woche (von Nuit Debout) auf der Place de la République in Paris sagte jemand zurecht, dass man sich neuerdings aus der Kasse bedienen kann, und wenn man nur geschickt genug ist, um das über zwölf Jahre lang zu vertuschen, dann darf man das Geld behalten. Das ist eine Vertuschungsprämie, eine Belohnung für die Lüge. Also gilt natürlich: Empört Euch! Empört euch ohne Unterlass.

Geißelt die korrupten Abgeordneten, wenn sie wie die Ratten rennen, um die Namen ihrer parlamentarischen Mitarbeiter auszutauschen, bevor das Schiff sinkt. 20-25% von ihnen beschäftigen einen Ehepartner oder ein Familienmitglied. Selbst wenn es keine Scheinbeschäftigung ist, nennt man das Nepotismus[4]. Und das ist so alt wie die römische Republik.

Die parlamentarische Demokratie als Klassenregime

Auf eine bestimmte Art liegen wir jedoch falsch, wenn wir uns empören. Wir liegen falsch, wenn wir hier auf der Place de la République über das Verhalten unserer Volksvertreter klagen. Wir haben keinen Grund zur Klage, wenn wir nur das Verhalten von Frau Le Pen und ihrer Parteisoldaten anklagen, der korruptesten und am häufigsten verurteilten Partei Frankreichs. Wir brauchen uns hier nicht zu versammeln, wenn wir nur hier sind, um uns erstaunt darüber zu zeigen, dass Herr Fillon nicht der gute Familienvater und fromme Christ ist, als den er sich ausgibt.

Wir haben unrecht so naiv zu sein. Denn diese Korruption hängt nicht von diesen Einzelpersonen ab. Diese Korruption ist in Wahrheit die Regel einer Klasse. Seien wir also nicht überrascht. Denn die Überraschung und die Entrüstung lähmen die Handlung. Das Wunder steckt anderswo: Es liegt in der Natur eines Abgeordneten der parlamentarischen Republik korrumpierbar zu sein oder sich in der Lage dafür zu befinden, der Versuchung ausgesetzt zu sein. Warum? Vielleicht weil er der Meinung ist, so hört man, dass er nicht angemessen entlohnt wird und auf eine gewisse Weise hat er sicherlich recht.

Zu gering entlohnt für eine Scheinbeschäftigung, denn er kommt zur Abstimmung nicht ins Parlament, weil er Besseres zu tun hat – wir bemerken die Ironie, wenn er behauptet, dass seine Frau keinen Parlamentsausweis hat, dann deswegen, weil sie sich um lokale Angelegenheiten kümmert, während er sich mit nationalen Angelegenheiten befasst; zu gering entlohnt, dies gilt vor allem im Vergleich zu der Klasse, zu der er gehört, der Großbourgeoisie[5].

Jetzt bin ich eine Erklärung schuldig: Vor einigen Tagen hat Alain Minc, der große “Verwerter” von fremden Früchten, der für gewöhnlich seine Kollegen plagiert, erklärt, dass – Sie haben es vielleicht gelesen – der Grund für diese Korruption und die Unterschlagung von Geldern darin liegt, dass die Abgeordneten unterbezahlt sind. Diese Erklärung hätte man auf einen großen Teil der Ministerialbeamten ausweiten können. Das schockiert natürlich einen Teil der Öffentlichkeit.

Vergleichen wir doch mal die Einkommen eines Abgeordneten und eines Beamten. Für einen kleinen Kommunalbeamten im Rathaus der Kategorie B erscheint das Salär eines François Fillon märchenhaft. Vergleicht man es mit dem Mindestlohn oder dem mittleren Einkommen, ist das krasse Missverhältnis noch deutlicher. Aber wenn man an diesem Punkt stehen bleibt, versteht man nichts.

In Wahrheit vergleicht Alain Minc das Einkommen von François Fillon nicht mit Ihrem oder meinem Einkommen oder mit dem des Durchschnittfranzosen. Er vergleicht das Einkommen mit dem in seiner Klasse üblichen, der Großbourgeoisie. Aus dieser Klasse stammt er, ist ihr Vertreter und Beschützer.

Herr Fillon ist keineswegs ein Abgeordneter seines Wahlkreises, der Sarthe, sondern der Großbourgeoisie und der x-Zimmer-Schlösser, die sie “Haus” nennen. Und da wird auf einmal alles klar: Wenn man ein Großbürger ist wie er, und wenn man selbstverständlich die Eliteschulen (Grandes Ecoles) besucht hat wie Sciences Po, HEC, Normale Sup und ENA – nicht etwa um dort etwas zu lernen, sondern weil man dort seinesgleichen trifft -, wenn man also die Klassenprivilegien genossen hat, dann die politische Laufbahn wählt und sich mit einem Abgeordnetengehalt begnügen muss, dann ist das kümmerlich. Herr Fillon vergleicht sein Gehalt nicht mit dem Ihren oder mit meinem, sondern mit dem seiner Gleichgesinnten aus der Großbourgeoisie, die jetzt Chef von Großunternehmen, Rechtsanwälte oder Bankiers sind.

Emmanuel Macron (2015; Von Ecole polytechnique Université Paris - CC BY-SA 2.0)
Emmanuel Macron

Da gibt es diejenigen, wie Herrn Macron[6], die mit einem Zauberstreich bei einem Unternehmensaufkauf zwei Millionen Euro verdienen, also mehr als das, was Herr Fillon in zehn Jahren geduldigen Abzweigens von Abgeordnetendiäten erreichen konnte.

Aber warum ist François Fillon dann nicht wie die anderen Großbürger in die Privatwirtschaft gegangen, um sich zu bereichern? Warum hat er es nicht gemacht wie Emmanuel Macron? Wenn er schon den öffentlichen Dienst und die politische Laufbahn wählt, dann soll er doch bitte akzeptieren geringer entlohnt zu sein, oder? Das wäre viel zu viel verlangt …

Die Politik im Dienste des Kapitalismus

Die richtige Frage lautet also: Warum ist er Politiker geworden? Um Frankreich zu dienen? Keineswegs. François Fillon ist Politiker geworden, weil seine Klasse ihn als solchen braucht. Die Großbourgeoisie braucht Leute wie ihn im Parlament zum Erhalt ihrer Privilegien.

Man stelle sich vor, dass alle Großbürger bei Nestlé oder Total arbeiten würden und das Parlament von Arbeiterabgeordneten bevölkert würde, die Gesetze zum Schutz der Arbeiter verabschieden würden, den Mindestlohn erhöhen würden oder gar Nestlé und Total verstaatlichen würden … Sie belieben zu scherzen, das ist nicht möglich!

Nein, die konservative Bourgeoisie braucht eine politische Vertretung im Parlament und im Senat. Sie braucht Herrn Fillon, Herrn Dassault[7], einen weiteren notorischen Betrüger.  Ich würde sogar noch weiter gehen und sagen, dass die großen französischen und ausländischen Unternehmen auch auf François Fillon als Abgeordneten angewiesen sind.

Die AXA Assurances, die Kunde von François Fillons Beratungsfirma war (die geschickterweise gegründet wurde, kurz bevor er zum Abgeordneten gewählt wurde), ist auf ihn als Abgeordneten angewiesen, um unser Sozialversicherungssystem abzubauen.

Ich würde sogar noch weiter gehen: Die Großunternehmen bedürfen eines Herrn Fillon als Abgeordneten genauso wie sie der Herren Niel, Bergé und Pigasse als Besitzer der Tageszeitung Le Monde bedürfen oder eines Herrn Drahi als Besitzer von Libération, L’Express, RMC, BFMTV …

Die kapitalistischen Großunternehmen und die Großen der Finanzwelt sind darauf angewiesen, das Parlament, den Senat und die Presse zu kontrollieren. Und daher ist auch die französische Presse strukturell korrumpiert, genauso wie das Parlament.

Das bedeutet nicht, dass die Abgeordneten oder Journalisten, jeder für sich, Geld unterschlagen oder absichtlich falsch informieren. Aber über ihnen gibt es ein Redaktionskomitee oder einen Parteivorsitzenden der Sozialisten oder einen Konzernchef, der ihnen zu verstehen gibt, dass sie die bittere Pille schlucken müssen, nicht gegen dieses und jenes ungerechte Gesetz zu stimmen und sich unterordnen, wenn sie ihren Job, ihren Presseausweis, ihren Sitz im Parlament, ihre Parteispenden für die Finanzierung ihrer Wahlkampagne behalten wollen.

Die meisten Journalisten und Abgeordneten arbeiten heute wahrscheinlich in einem Rahmen, der die Unehrlichkeit organisiert: entweder unterwerfen sie sich der Selbstzensur oder sie werden zensiert.

Manchmal kommt das ans Licht: Man erinnere sich an den Fall des Senators Michel Raison, der im vergangenen Jahr von einer Journalistin von Cash Investigation auf einem Parlamentskorridor zu Fragen der Ernährung interviewt wurde. Da schaltet sich plötzlich seine Mitarbeiterin ein; er erhebt sich, vergisst dabei, dass er ein Mikrofon an seiner Krawatte trägt, und unterhält sich mit ihr. Sie schlägt ihm vor die Lobbyorganisation ANIA (Association Nationale des Industries alimentaires) anzurufen. Auch das ist Korruption.

Schon 2011 wurden drei Europaabgeordnete von Journalisten in die Falle gelockt, weil sie bereit waren Gesetzesanträge gegen Geld einzubringen. Das sieht man auch, wenn Vincent Bolloré die Berichte über Firmen zensiert, deren Aktionär oder Eigentümer er ist.

Eine geknebelte Presse

Im Programm des Nationalen Widerstandrats von 1945 gab es zahlreiche Maßnahmen, die eine Rückkehr zu Faschismus und Unterdrückung verhindern sollten: darunter auch die Sozialversicherungsgesetze (vom 26. April 1946), genau die also, die Herr Fillon auflösen und den Privatinteressen der großen Versicherungsunternehmen anvertrauen will.

Es wurde auch die Notwendigkeit einer freien Presse angemahnt, die frei sein sollte von politischer Einflussnahme und von Interessen der Hochfinanz. Dass dies heute nicht mehr der Fall ist, konnte hinreichend nachgewiesen werden durch die diesbezüglichen Karten von Le Monde diplomatique und von Acrimed, auf denen die Konzentration der Presse in den Händen von Großeigentümern gezeigt wird, von denen viele Multimilliardäre sind.

Logo von Le Canard enchaîné
Logo von Le Canard enchaîné.

Wer steht an der Spitze der Enthüllungen um François Fillon? Mediapart und Le Canard enchaîné: zwei Organe der freien Presse. Nur eine Presse, die frei ist von der Kontrolle durch die Chefs der börsennotierten Großunternehmen (CAC 40 ist der Aktienindex der 40 führenden französischen Großunternehmen) kann heute jemanden wie François Fillon vorführen; der Rest der Presse ist mehr oder weniger zögerlich gefolgt und hat manchmal seine Verteidigung ergriffen.

Ein Schweigen wäre zu verdächtig gewesen, aber dennoch haben die Blätter der Oligarchie die Arbeit den beiden, Mediapart und dem Canard überlassen. Sie waren in der Rolle der mehr oder weniger geneigten Beobachter ohne Position zu beziehen. Daraufhin hat François Fillon zurückgeschlagen. Er greift die Presse an: Er beklagt eine Kampagne, die einem Staatsstreich gleichkäme. Ja so was!

Er ist ja noch gar nicht Präsident; er maßt sich eine Rolle an, die nicht seine ist. Insbesondere durch sein Beharren auf seiner Kandidatur schädigt er die traditionelle Rechte und droht seine Wähler in Richtung von Macron oder von Front National zu drängen. Er greift das oberste Finanzgericht, also den Justizapparat an, und beklagt, dass die Gewaltenteilung nicht respektiert würde. Wo doch die Gewaltenteilung genau darin besteht, dass die Abgeordneten nicht über den Gesetzen stehen und die Justiz nicht im Dienste der Exekutive, etc.

Es heißt, dass man den Wald vor lauter Bäumen nicht sieht. Man möchte sagen, dass François Fillon und Marine Le Pen nur der sichtbare Teil des Eisbergs sind, sagen wir ungefähr 10% der Realität. Der Eisberg selbst bleibt größtenteils unsichtbar. Diese Fälle sind nur wie ein Schneeball an der Spitze des Eisbergs, wie der Stern am Weihnachtsbaum, wie die Rosinen im Pudding.

Wofür steht die Korruption?

Manifestation contre la corruption von Nuit Debout
Manifestation contre la corruption (Foto: Nuit Debout)

Das Wort Korruption bezeichnete im 18. Jahrhundert das Verfaulte, die Substanzveränderung durch Verrottung. In diesem Sinne würde das Wort heute zu den Naturwissenschaften, genauer zur Biologie, gehören. Darin würde man also die Metapher des politischen Körpers wiederfinden; aber die Korruption meint auch die Veränderung des Urteils, des Geschmacks, der Sprache: wenn man zum Beispiel von “unsanfter Befragung” spricht, um von einer gemeinschaftlich begangenen Vergewaltigung durch Amtspersonen zu sprechen.

Die Unterschlagung von Geldern ist so auch eine Unterschlagung der Form und der Sinne. Erst in seiner dritten Bedeutung findet man im Wörterbuch (Le Robert des noms communs) die Definition der moralischen Korruption: Erniedrigung, Verderbtheit, Geschwür, Perversion, Befleckung, Laster. Und schließlich die vierte Bedeutung: “unter Verwendung von verwerflichen Mitteln wie Bakschisch, Trinkgeldern, Schmiergeldern jemanden veranlassen, seine Pflichten zu verletzen”.

Wie man sieht, wird die persönliche Bereicherung, deren François Fillon verdächtigt wird, der Missbrauch öffentlicher Mittel, noch nicht einmal erwähnt von dem Wörterbuch als eine der Ausprägungen von Korruption. Warum? Es gibt einen einfachen Grund.

Die Korruption der gewählten Vertreter, das ist nicht die lächerliche Million Euro, die Fillon auf den Namen seiner Frau, die anscheinend gar nicht darum gebeten hatte, abgegriffen hat; die Korruption der Politiker, das ist ihre Unterwerfung unter die Interessen des Kapitalismus; die politische Korruption, das ist, wenn der CETA-Vertrag, der vom Europaparlament ratifiziert worden ist, den großen Multinationalen die Möglichkeit eröffnet gegen die Staaten vor Gericht zu ziehen, wenn die Gesetze ungünstig für sie sind.

Die Korruption, das ist, wenn die nationalen oder europäischen Parlamente über Verträge abstimmen, die es den Multinationalen erlauben, den Völkern Scheiße aufzutischen, wenn diese Völker gesunde, umweltfreundliche Lebensmittel mit gesicherter Herkunft haben wollen. Die Korruption, das ist, wenn die Volksvertreter sich der Wahl enthalten oder nicht zur Abstimmung im Parlament erscheinen, wenn dort ungerechte Gesetze zur inneren Sicherheit verabschiedet werden, die gegen das Allgemeinwohl sind.

Die Korruption, das ist, wenn der Berichterstatter über das Gesetz zur Umkehrbarkeit eines Projekts zur Lagerung von Atommüll der ANDRA (Anm.: staatliche Agentur für die Atommüllverwaltung), die Nationale Behörde für radioaktive Abfälle (Agence Nationale de gestion des déchets radioactif) der Chef der ANDRA selbst ist: Wie könnte er vor die Abgeordneten treten und etwas anderes von sich geben, als dass das Projekt absolut sicher und machbar ist, wenn er sein eigenes Projekt damit beurteilt?

Die Korruption, das ist, wenn EDF (Französische Elektrizitätswerke), der große Freund und natürliche Partner von ANDRA, seine neuen Archive ganz in der Nähe der zukünftigen Atommülllagerstätte errichten wird, um dort lokale Beschäftigungsmöglichkeiten zu schaffen und die Einwohner unter wirtschaftlichen Druck durch ihren Arbeitgeber zu setzen, der zusätzlich zum politischen Druck kommt, da die lokalen Politiker schon seit zwanzig Jahren mit Geld berieselt werden.

Die Korruption, das ist, wenn der Sprecher von François Fillon seit 2011 von Chimirec bezahlt wird, einem Unternehmen, das wegen Betrug im Umgang mit Sondermüll verurteilt worden ist. Es ist also, wenn die politischen Maßnahmen von denjenigen evaluiert werden, die sie ersonnen und durchgeführt haben, und die im Dienste der großen Arbeitgeber und Aktionäre stehen.

Pierre Gattaz (2015; von Claude Truong-Ngoc / Wikimedia Commons - CC BY-SA 3.0),
Pierre Gattaz

Es ist, wenn das CICE, das große Steuerbefreiungsgesetz zugunsten der Unternehmen, nicht etwa zu Stellenschaffung oder Investitionen in den technologischen Fortschritt dient, sondern für die Auszahlung von Dividenden an die Aktionäre (Mediapart vom 19. Juli 2016): Seit 2013 wurden 48 Milliarden Euro als Steuergeschenk erteilt ohne Rechtfertigung, ohne Unterschiede zu machen und ohne Gegenleistung; sie (die Firmen) müssen nicht nachweisen, dass sie neue Stellen geschaffen oder investiert haben, um weiterhin von den Steuererleichterungen zu profitieren, die in Form einer Gesetzesnovelle der Steuergesetzgebung beschlossen wurde, ohne Studie zur Folgenabschätzung, ausschließlich beruhend auf dem Wort von Pierre Gattaz, dem Arbeitgeberpräsident, der verspricht, dass dank dieser Maßnahme eine Million Arbeitsplätze geschaffen würden. Eine Million Arbeitsplätze! Anstatt weniger zu werden, ist die Zahl der Arbeitslosen in dieser Zeit um ungefähr 500 000 gestiegen.

Die Korruption, das ist, wenn eine Regierung es zulässt, dass Beamte zwischen dem öffentlichen Dienst und der Privatwirtschaft hin- und herpendeln, obwohl es einen eindeutigen Interessenkonflikt gibt. Es sei denn, man wollte zugeben, dass diese Durchlässigkeit zwischen der Bank Rothschild und dem Wirtschafts- und Finanzministerium daher kommt, dass dieses Ministerium im Dienste dieser Bank steht und übrigens auch all jener bankrotten Banken, die von der Regierung mit Steuergeldern gerettet werden, wenn sie zu gierig und korrupt waren.

Die Korruption, das ist, wenn Christine Lagarde[8], ohne genaue Prüfung, Bernard Tapie 400 Millionen Euros zubilligt und dann deswegen verurteilt wird, ohne ihre Strafe zu verbüßen oder zu bezahlen und nicht einmal ihres Amtes enthoben wird.

Die Korruption, das ist, wenn der Generalinspektor der Polizei einen Polizisten rehabilitiert, der bei der Festnahme im Jahr 2000 eine Autozierleiste in den Hintern eines Festgenommenen eingeführt hat. Wenn wundert es, dass 2017 Polizisten in Aulnay-sous-Bois die Tat wiederholen, dieses Mal mit einem Knüppel? Inmitten dieser Interessenkonflikte, korrupt bis ins Mark, erfindet die Generalinspektion der Polizei zum Schutz des Polizisten den Tatbestand der “unabsichtlichen Vergewaltigung”.

Die Korruption, das ist, wenn die Institutionen eines Landes nicht mehr im Dienste der Mehrheit, sondern einer oligarchischen Kaste stehen, wenn die Institutionen nicht mehr zum Schutz der Schwachen da sind, sondern diese kriminalisieren; die Korruption, das ist, wenn die Mächtigen sich unter sich organisieren – und im Gegensatz zu uns sind sie sehr gut organisiert -, um sich über das Gesetz zu stellen oder um Gesetze zu ihrem eigenen Schutz zu verabschieden.

Die Korruption, das ist, wenn unsere Demokratien mit Diktaturen Geschäfte machen, wenn französische Unternehmen Profite machen in Ländern, in denen die Menschenrechte nicht respektiert werden und in der Folge die Menschenrechte für die Regierungen keine Richtschnur mehr sind, da sie quer zur kapitalistischen Logik stehen.

Die Korruption, das ist, wenn man die Menschenrechte vergisst im Namen des Wirtschaftsliberalismus und wie unser Land sich weigert, die Völker aufzunehmen, die vor Diktatur, Krieg, Unterdrückung und Tod fliehen. Die politische Korruption, das betrifft nicht nur diejenigen, die korrupt sind, sondern vielmehr diejenigen, die korrumpieren: Schaut euch an, wer Geld gibt und warum. ANDRA gibt Geld, um das Schweigen der Gegner von gefährlichen und illegalen Projekten zu erkaufen. AXA gibt François Fillon Geld, sicherlich in der Hoffnung, dass er eine Politik in ihrem Sinne macht.

Chimirec gibt Thierry Solère Geld, sicherlich um sich einen Wettbewerbsvorteil zu erkaufen oder das Vergessen von gewissen störenden Fällen. Korruption, das bedeutet nicht unbedingt, dass man sich aus öffentlichen Kassen bedient zur persönlichen Bereicherung. Korruption bedeutet vor allem, dass man das Geld der Multinationalen nimmt, um eine Politik zu ihren Gunsten zu führen und nicht zugunsten der Mehrheit.

Christine Lagarde (2009; Von MEDEF - flickr.com - CC BY-SA 2.0)
Christine Lagarde

Wenn Ihr also gegen Korruption seid, dann seid Ihr auch gegen den Kapitalismus und andere Formen der Herrschaft – und wenn Ihr nicht gegen den Kapitalismus seid, solltet Ihr wissen, dass er in jedem Fall gegen Euch ist.

Heute finden sich wieder Demonstranten auf den öffentlichen Plätzen ein, um gegen die Korruption zu protestieren. Wir müssen verstehen, dass sie untrennbar mit dem Kapitalismus verbunden ist. Denjenigen, die glauben wollen, dass es genügt, die Ställe des Augias[9] auszumisten, antworten wir, dass man die Hydra von Lerna töten muss, deren Köpfe so schnell nachwachsen, wie man sie abschneidet.

Die Korruption ist die natürliche Daseinsform des Kapitalismus, weil der Kapitalismus bedeutet: die Ausbeutung des Menschen durch den Menschen, die Aneignung der Früchte der Arbeit durch das Kapital, die Aneignung des Wohlstands durch die Oligarchie, es bedeutet, den Reichtum der einen auf die Verarmung der anderen zu gründen, den Finanzinteressen der wenigen die Ressourcen des Planeten und der gesamten Menschheit unterzuordnen.


Warum getraut sich andererseits die Sozialistische Partei nicht mehr den Gegensatz von Kapital und Arbeit zu erwähnen? Weil die Rechte gewonnen hat. Die Rechten haben so vollständig gewonnen, dass die Sozialisten deren Politik an ihrer Stelle machen.

Mathieu Brichard

Die Korruption, die das Allgemeininteresse den Einzelinteressen opfert, ist das normale Instrument des Kapitalismus. Wenn Ihr Euch der Korruption entledigen wollt, dann müsst Ihr den Kapitalismus los werden. Ich sage das nicht aus Spaß an demagogischen Kurzschlüssen, sondern weil es darauf ankommt, das ungebührliche Verhalten unserer Politiker in eine Logik einzuordnen, die sie umgibt und sie übersteigt.

Heute von Kapitalismus zu reden ist für einen großen Teil der Linken obszön geworden. Aber wenn François Fillion vor dem Arbeitgeberverband MEDEF (Mouvement des entreprises de France) spricht, dann redet er sehr wohl von Kapital im Gegensatz zu Arbeit. Er zögert nicht.

Warum getraut sich andererseits die Sozialistische Partei nicht mehr den Gegensatz von Kapital und Arbeit zu erwähnen? Weil die Rechte gewonnen hat. Die Rechten haben so vollständig gewonnen, dass die Sozialisten deren Politik an ihrer Stelle machen.

Und man redet nicht mehr von Kapitalismus: wie im Fall von Voldemort (Anm.: eine Figur aus Harry Potter) wird sein Name aus Angst nicht ausgesprochen: das ist der Grundstein der Verleugnung. Wenn ich so tue, als ob Voldemort nicht zurück wäre, dann ist es so, als ob er tatsächlich nicht zurückgekommen wäre, oder?

Aber wir sind keine Kinder. Warum beharren wir darauf, an den Weihnachtsmann zu glauben? Warum wollen wir das wahre Gesicht nicht sehen, das sich hinter der Maske der Korruption versteckt, das System der Herrschaft und allgemeinen Ausbeutung: die Ausbeutung der Menschen durch andere Menschen in den Unternehmen, die weltweite Ausbeutung der Frauen durch die Männer, die Ausbeutung der Tiere durch die Menschen in den Agrounternehmen, die Ausbeutung des afrikanischen Kontinents durch alle ehemaligen Kolonialmächte, die jetzt neokolonial sind, und schließlich die ungehemmte Ausbeutung des Planeten durch die gesamte Gattung Mensch.

Man kann fünfzig verschiedene Namen für den Teufel erfinden, er bleibt nicht weniger der Teufel, das eigentliche Prinzip der Spaltung. Wir bleiben so lange Opfer der Korruption, so lange wir geteilt sind.


Wir bleiben so lange Opfer der Korruption, so lange wir geteilt sind.

Mathieu Brichard

Es gibt diejenigen, die sich gegen die korrupte Polizei mobilisieren, die manchmal auf höchster Ebene den Drogenhandel organisiert, gegen eine Polizei, die draufschlägt, und vergewaltigt in den abgehängten Vorstädten, als ob sie neue Kolonien wären, ganz nach dem Beispiel einer Armee, die draufschlägt, und vergewaltigt in den Ländern Afrikas, wo sie eingesetzt wird. Es gibt diejenigen, die gegen den Freihandelsvertrag CETA mobilisieren, die Kernenergie und ihre absurde Logik der Produktion von tödlichem Müll, dessen Kosten unermesslich sind, und die der Staat aus unseren Steuermitteln bezahlen müssen wird, anstatt Schulen zu bauen.

Es gibt diejenigen, die zurecht gegen die wachsende Ungleichheit in der Schule mobilisieren, die es der herrschenden Klasse erlauben das zu bleiben, was sie sind und die Benachteiligten zu einer doppelten Strafe verurteilen: Selbst arm sein und lernen müssen in armen Schulen. Es gibt diejenigen, die gegen die Lohnunterschiede zwischen Männern und Frauen mobilisieren und für das Ende der gläsernen Decke.

Wenn ich die komplette Liste der notwendigen Kämpfe auflisten würde, säßen wir morgen Abend noch hier. Die Kämpfe überschneiden sich jedoch. Es gibt einen Konvergenzpunkt, einen Punkt, von dem aus wir alle Kämpfe führen können: dieser Punkt, das ist das Prinzip der Herrschaft. Bleiben wir nicht bei der Korruption stehen in unseren Kämpfen. Was uns bei der Korruption schockiert, das ist die Ungerechtigkeit, und was die Ungerechtigkeit produziert, das ist das Prinzip der Herrschaft. Wir sind alle, mehr oder weniger, das Ergebnis und die Akteure von Herrschaftssystemen.

Wie sollen wir also kämpfen? Der Kapitalismus hat das gut verstanden, er will nicht, dass wir verwechseln, dass wir vermischen, und unter diesem Vorwand bringt er uns eine verkürzte Sicht der Dinge bei. Wir müssen weiter und besser sehen. Wir müssen gemeinsam sehen.

Es geht auf keinen Fall darum den Kampf gegen Korruption aufzugeben, die Individuen, die unterschlagen, stehlen, lügen und ihre Freunde begünstigen, anstatt dem Allgemeinwohl zu dienen, müssen denunziert werden. Aber man darf da nicht stehen bleiben. Wir dürfen nicht aufhören zu kämpfen. Aber es muss Schluss damit sein, dass jeder in seiner Ecke kämpft.

Gemeinsame Kämpfe

Polizisten mit Schutzhelm, aber in Zivilkleidung.

Wenn man das Herrschaftsprinzip überall erkennt, wo es sich versteckt, dann ist das Bewusstsein erwacht. Vergangenen Donnerstag wurde in einer Versammlung eine erste Runde zu gesellschaftlichen Themen vorgeschlagen.

Warum auch nicht, wenn dabei der kriminalisierte Streikende, den man an der Ausübung seines Rechts hindern will, dabei lernen kann, die Herrschaft zu sehen, die am Werk ist bei der Vergewaltigung eines Vorstadtjugendlichen durch die Polizei. Ja, ich will diese Herrschaft Kapitalismus nennen; manchmal bin ich geneigt zu vereinfachen und zu reduzieren, weil alle diesen Namen des Dämonen kennen, er ist üblich.

Aber ich glaube, sobald man auch nur von Kapitalismus spricht, dann gilt man als Sektierer, als jemand, der nicht nachdenkt, als jemand von vorgestern. Der Kapitalismus hat jedoch eine vorbestimmte Zukunft für Euch und mich. Aber die Oligarchie wird das Notwendige tun, um ihren Lebensstil beizubehalten, den Komfort, die Sorglosigkeit, und in einigen Ländern werden schon Betonwände hochgezogen zwischen den Golfplätzen und den Elendsvierteln. Ja, deshalb verwende ich das Wort Kapitalismus, nicht als Quelle für alle Übel, aber als das eindeutigste Beispiel für das Prinzip der Herrschaft.

Ich bin auch gegen Korruption, und genau aus diesem Grund bin ich auch antikapitalistisch; aber andererseits, weil ich gegen alle Formen der Herrschaft bin, bin ich gegen den Kapitalismus. Für mich gibt es da keinen Widerspruch.

Debout face au sexisme en politique. Global Debout – Paris: Nuit Debout / DR

Wenn man gegen die Atomenergie kämpft und ihre zerstörerischen Kräfte, die die Lebensbedingungen der Menschheit bedrohen, dann kämpft man auch gegen den Kapitalismus und gegen die Zerstörung der natürlichen Lebenswelt von Tieren, die nicht sterben wollen. Wenn man gegen CETA kämpft, dann kämpft man für Demokratie (da dieser Vertrag gegen den Willen der Völker angenommen wurde) und gleichzeitig gegen die Umweltzerstörung und die Pestizide in der Nahrung.

Wenn man gegen die Invasion des öffentlichen Raums durch Werbung kämpft, dann kämpft man auch gegen den Sexismus, gegen den Konsumwahn, der nicht reich macht oder glücklich, sondern den Kapitalisten dient, und gegen die Verblödung durch eine allgegenwärtige Ideologie, die den Menschen ablenkt von seinen eigentlichen Zielen, und gegen die Energieverschwendung durch die Leuchttafeln, wenn gleichzeitig andere zu Hause nicht heizen können.

Man kann den Feind “Kapitalismus” nennen oder “Korruption” oder “Herrschaftssystem”. Diese Worte verweisen auf verschiedene Facetten derselben Realität, deren äußere Form sich ändert je nach Blickwinkel und Größe, aber in ihrem Wesen gleich bleibt. Hinter den verschiedenen Facetten können wir unseren Feind erkennen, denn er hat sich nicht verändert und wird es auch nicht tun. Die große Stärke der herrschenden Oligarchie besteht darin, dass sie uns davon überzeugt hat, zusammen mit der Sozialdemokratie, dass der Kapitalismus ein menschliches Antlitz haben könnte, dass er ethisch sein könnte und ein gesellschaftliches Bindemittel. Er kann es nicht. Er will es nicht und hat es nie gewollt.

Die Logik des Kapitalismus ist es, immer mehr die Früchte der Arbeit zu entwenden und sie den Mächtigen zu geben. Da ist die Logik der Banken, die uns dazu bringen Kredite aufzunehmen und zu Schuldsklaven zu werden; die kapitalistische Korruption, das ist, wenn die Weltbank ein ganzes Land in den Bankrott und in die Verzweiflung treibt, um es in eine Zone des gefügigen Proletariats zu verwandeln. Die Logik des Kapitalismus, das bedeutet, dass man die Ausbeutung immer weiter treibt, aber sorgfältig darauf achtet, die Grenze zum Inakzeptablen nicht zu überschreiten.

Der amtierende Präsident François Hollande steht für eine weitere Amtszeit nicht mehr zur Verfügung.
François Hollande

Es wird uns dabei der Fatalismus eingetrichtert, man stopft uns voll mit “pensée unique”[10] und bezahlt gleichzeitig die Spaßmacher, die uns zerstreuen sollen, damit wir vergessen, dass wir Sklaven sind. Panem et circenses, Brot und Spiele (wie im alten Rom), nichts Neues unter der Sonne also, die “servitude volontaire”, die freiwillige Knechtschaft[11]. Ablenkungsmanöver und Nebelwand: François Hollande gibt einerseits vor gegen die Steuerflucht vorzugehen, andererseits bewilligt er 48 Milliarden Euro Steuererleichterungen für Unternehmen …

Hollande ist kein Präsident, der seine Versprechen gebrochen hat, sondern ein Zauberkünstler, der seine Nummer verpatzt hat. Alls läuft gut, solange er den Eindruck erwecken kann, dass er gegen die Korruption kämpft: Er braucht es nicht wirklich zu machen. Er muss nur dabei gesehen werden, wie er so tut als ob.

Seien wir scharfsichtiger, ohne in die Komplott-Falle zu laufen, eine weitere Maske der Herrschaft. Stellen wir uns die Frage, wie die Politiker an der Macht bleiben trotz ihrer offensichtlichen Korruption; wie sie es schaffen (bei regionalen und nationalen Wahlen) trotz der Lügen! Wie schaffen sie es, die Situation akzeptabel zu machen? Wie kommt es, dass der Sieg einer Klasse hingenommen wird? Wie schaffen sie es aus uns nicht nur Sklaven, sondern auch Hüter des Systems zu machen?


Wir können alle Obdachlosen Frankreichs unterbringen, schon morgen. Aber wir tun es nicht. Die Macht verweigert sich. Warum? Weil der soziale Abstieg, die sichtbare Armut, das Elend der Arbeitslosigkeit und der Exklusion, die daraus folgt, als Warnung und als Drohung dient …

Mathieu Brichard

Zunächst durch eine weitere Lüge, wonach eine andere Welt nicht möglich ist, wie Pangloss zu Candide[12] sagt. Aus Optimismus und Wahn wird behauptet, dass alles gut ist, wenn alles schief läuft. Aber die Lüge allein wäre nicht genug, es fehlt der Schrecken. Der Kapitalismus herrscht als Herrschaftssystem durch Schrecken und Inszenierung. Er zeigt uns, was passiert, wenn man ihm nicht gehorcht: wir sehen es jeden Tag, den Tod auf der Straße. Wir könnten, wenn wir wollten und es einen politischen Willen gäbe, heute alle Obdachlosen unterbringen.

Dazu bräuchte man nicht einmal die Steuerfluchtgelder oder die vom Steuerbetrug. Wir können alle Obdachlosen Frankreichs unterbringen, schon morgen. Aber wir tun es nicht. Die Macht verweigert sich. Warum?

Weil der soziale Abstieg, die sichtbare Armut, das Elend der Arbeitslosigkeit und der Exklusion, die daraus folgt, als Warnung und als Drohung dient: die Obdachlosen sind nicht auf der Straße, weil wir ihnen keine Wohnung geben können, sondern weil sie als Schreckgespenst für uns dienen, damit wir spuren, auf unserem Platz bleiben, damit wir unser Schicksal akzeptieren, weil wir fürchten, dass wir alles verlieren, wenn wir für unsere Rechte kämpfen. Die Obdachlosen werden, so gesehen, instrumentalisiert zur Schaffung der gesellschaftlichen Akzeptanz.

Der soziale Krieg wird kommen

Manchmal muss man Verbrecher nicht frontal, sondern von der Seite angreifen, ganz unerwartet: Al Capone, zum Beispiel, hatte die Polizei von Chicago derart korrumpiert, dass es unmöglich war, ihn des Mordes oder irgendeines anderen großen Verbrechens anzuklagen, das doch allen bekannt war. Man hat ihn drangekriegt, weil er seine Steuern nicht bezahlt hat.

Vielleicht kann man heute den Kapitalismus als Ideologie zu Fall bringen, mitsamt der Oligarchie, die ihn als Herrschaftssystem erhält, indem man gegen die Korruption kämpft. Vielleicht. Aber ich glaube nicht daran. Das reicht nicht.

Wir sind im sozialen Krieg: das stammt nicht von mir, sondern von François Fillon selbst, aus einer Rede vor den französischen Arbeitgebern, genauer ab Minute 15 und 28 Sekunden, in der berühmten Passage zum “Blitzkrieg” (Überfall des Deutschen Reichs gegen Frankreich und UK von 1940):


“Ich will, dass am 1. Juli 2017 die zwei oder drei für Reformen zuständigen Ministerien: Ministerium für Wirtschaft und Finanzen, Arbeit, vor allem … mit fertigen Texten ankommen … und, dass sie dann in einer Art Blitzkrieg … die sechs oder sieben Grundsatzreformen, die das Wirtschafts-und Arbeitsklima in unserem Land verändern werden, im Parlament durchbringen, mit allen Mitteln, die ihnen die Verfassung der V. Republik bietet – per Erlaß, mit Blockabstimmung[I], mit dem Artikel 49.3.[II], also alles, was notwendig ist – sie sollen das in zwei Monaten durchziehen, ohne Sommerpause. Dazu gehört für mich, dass ist klar, die Abschaffung der 35-Stundenwoche, der gesetzlichen Arbeitszeitdauer und die Aushandlung von Arbeitsfragen auf Betriebsebene; das ist das neue Arbeitsrecht … und die Kapitalsteuerreform als Voraussetzung für die Ankurbelung der Wirtschaft in unserem Land …”

[I] Vote bloqué (oder vote unique), wörtlich Blockabstimmung, ist eine Prozedur gemäss Art. 44, Abs. 3 der französischen Verfassung, mit Hilfe derer die Regierung vom Parlament verlangen kann über eine Gesetzesvorlage als Gesamtpaket mit “Ja” oder “Nein” abzustimmen ohne Änderungen zuzulassen.

[II] Der Artikel 49.3. der französischen Verfassung erlaubt es der Regierung ein Gesetz ohne Abstimmung im Parlament durchzusetzen. Das Parlament könnte dieser zeitweiligen Entmachtung nur durch einen Misstrauensantrag gegen die Regierung entgegentreten.


Das neue Verhältnis zwischen Arbeiter und Unternehmer. Karikatur aus dem Neuen Postillon, Zürich, Schweiz 1896.

In dieser Rede erklärt Fillon ebenfalls wie er gedenkt im September 2017 ein Referendum zu organisieren, damit die Spannung rund um die Präsidentschaftswahlen aufrechterhalten bleibt und die Aufmerksamkeit sich auf Fragen des Referendums konzentriert, um so jegliche Ansätze des sozialen Protests einzudämmen.

Hier sehen wir genau, wie dieser Mann ein demokratisches Werkzeug kaputtmachen will, um es in den Dienst der Oligarchie zu stellen: das Referendum, das als Instrument gegen die Demokratie genutzt wird. Da bedurfte es des ganzen Zynismus und der ganzen Klassenarroganz eines Großbürgers, wie er einer ist, um es zu wagen, solch eine Rede öffentlich zu halten.

Aber machen wir uns nichts vor: Durch François Fillon spricht nicht nur ein Individuum, sondern der Kapitalismus und das Herrschaftsprinzip. Deswegen freue ich mich, die Korruption anzuprangern. Aber ich muss mich in Acht nehmen, denn diese Anklage kann die Korruption leicht in eine gefährliche Ecke drängen, wo man den Unterschied zwischen normal und krankhaft macht. Da wäre die Korruption eine Krankheit der Republik und man müsste sich ihrer entledigen, um die Gesundheit des politischen Körpers wieder herzustellen.

Es gäbe räudige Schafe, die man in Quarantäne stecken müsste, die üblen Burschen, denen man Einhalt gebieten müsste, um in der besten aller Welten zu leben. In meinen Augen jedoch ist dieser Gegensatz zwischen Gesundheit und Krankheit, das Bild aus der Biologie, nicht mehr wirklich passend.

So wird eine wesentliche Tatsache ausgeblendet: die kapitalistische Normalität ist an sich schon eine menschliche Krankheit. Oder, verlassen wir das medizinische Vokabular und wählen wir die Sprache der Philosophen: Das Herrschaftsprinzip, zu dem die kapitalistische Korruption gehört, ist eine Grundgegebenheit und keine Ausnahme, sie ist anti-humanistisch.


Redaktioneller Hinweis: Der Beitrag von Mathieu Brichard wurde ursprünglich vom Autor als Rede auf der Place de la République in Paris in der Kommission Volksbildung Debout vorgetragen und erschien in französischer Sprache unter dem Titel “La corruption dans son milieu naturel” bei unserem Kooperationspartner Gazette Debout. Mit besonderem Dank an Dr. Susanne Hildebrandt für die Übersetzung ins Deutsche. (Update 09.08.2019: Link zu Pierre Gattaz aktualisiert.)


Quellen und Anmerkungen

[1] François Fillon ist Kandidat der Partei Les Républicains für die französischen Präsidentschaftswahlen 2017. Er bekleidete zwischen 1993 bis 2005 Ministerposten in verschiedenen Kabinetten und war von 2007 bis 2012 Premierminister Frankreichs unter dem damaligen Staatspräsidenten Nicolas Sarkozy. 

[2] Marine Le Pen ist Vorsitzende des rechtsextremen Front National (FN) und seit der Europawahl 2004 Mitglied des Europäischen Parlaments. Sie hat angekündigt, sollte sie bei der französischen Präsidentschaftswahl 2017 erfolgreich sein, dass sie den Austritt Frankreichs aus der EU betreiben werde.

[3] Wirtschaftskriminalität ist die Bezeichnung für Straftaten, die wirtschaftliche Bezüge aufweisen. In der Literatur werden diese Delikte auch als “white collar crime” bezeichnet oder sind mit neuen Begriffen wie zum Beispiel Finanzbetrug o.ä. belegt.

[4] Nepotismus ist der Fachbegriff für Vetternwirtschaft und bezeichnet eine übermäßige Vorteilsbeschaffung durch beziehungsweise für Familienangehörige, Familienmitglieder, Verwandte oder Freunde.

[5] Großbourgeoisie ist der einflussreichste Teil der Bourgeoisie, der im Besitz von wichtigen Produktionsmitteln, Monopolen und Großbanken ist. Bourgeoisie steht als Begriff für die gehobene sozialen Klasse der Gesellschaft, die der Klasse des Proletariats gegenübersteht.

[6] Emmanuel Macron war von 2006 bis 2009 war er Mitglied der Sozialistischen Partei (Parti Socialiste, PS) und von August 2014 bis August 2016 Wirtschaftsminister unter Präsident François Hollande. Er tritt zur französischen Präsidentschaftswahl 2017 mit sozial- und wirtschaftsliberalen Positionen als Kandidat an. Für den Wahlkampf hat er die Partei En Marche! gegründet. Macron arbeitete als Investmentbanker bei der Pariser Investmentbank Rothschild & Cie.

[7] Serge Dassault ist ein französischer Unternehmer (Schwerpunkte im Bereich Rüstung und Medien) und Politiker (UMP/LR). Ihm wurden u.a. Stimmenkauf, Korruption, Geldwäsche und Veruntreuung vorgeworfen. 2014 wurde ihm die Immunität entzogen. Im Februar 2017 wurde Dassault zu einer Geldstrafe von zwei Millionen Euro und zu fünf Jahren Verlust der Wählbarkeit verurteilt, weil über Auslandskonten seiner Firmengruppe mehrere Millionen Euro vor den Steuerbehörden verschleiert worden sein sollen. Das Urteil ist noch nicht rechtskräftig.

[8] Christine Lagarde ist Rechtsanwältin und Politikerin der Les Républicains. Seit 2011 ist sie die geschäftsführende Direktorin des Internationalen Währungsfonds (IWF). Sie war zwischen 2007 und 2011 Wirtschafts- und Finanzministerin im Kabinett von Premierminister François Fillon. Lagarde soll sich im Jahr 2008 als Wirtschaftsministerin in einem Schiedsgerichtsverfahren vorschnell auf einen Vergleich mit dem französischen Geschäftsmann und früheren Adidas-Besitzer Bernard Tapie eingelassen haben. Es ging um eine umstrittene Entschädigungszahlung in Höhe von 403 Millionen Euro. Ein privates Schiedsgericht hatte Tapie 2008 diese Summe zugesprochen hatte. 2011 wurdeein Ermittlungsverfahren wegen Amtsmissbrauchs gegen Lagarde zugelassen. 2014 wurde ein Anklageverfahren eingeleitet. Im 2016 wurde Lagarde durch das Gericht des fahrlässigen Umgangs mit öffentlichen Geldern schuldig gesprochen. Eine Strafe wurde nicht verhängt.

[9] Augias ist eine Figur der griechischen Mythologie. Die Ställe des Königs Augias, in denen 3000 Rinder gehalten wurden, waren der griechischen Sage nach schon seit 30 Jahren nicht mehr gereinigt worden. Das Ausmisten der Ställe galt deshalb als nicht durchführbar.

[10] Pensée unique (wörtlich: Einheitsdenken). Dieser Begriff wurde erstmals von Ignatio Ramonet in Le Monde diplomatique von Januar 1995 verwendet, um die neoliberale Mainstreamideologie ab den 1990er Jahren zu bezeichnen.

[11] Etienne La Boétie (1576, Discours de la servitude volontaire). Die Abhandlung, ursprünglich auf Latein, stellt die Frage, warum die Menschen sich freiwillig der Herrschaft unterwerfen.

[12] Pangloss und Candide sind Figuren aus der 1759 erschienenen satirischen Novelle Candide oder der Optimismus (frz. Candide ou l’optimisme) des französischen Philosophen Voltaire, der eigentlich den Namen François-Marie Arouet trug.


Fotos: François Fillon (2010; Von Marie-Lan Nguyen – Eigenes Werk, CC BY 3.0); Marine Le Pen (2014; Von Foto-AG Gymnasium Melle, CC BY-SA 3.0); Emmanuel Macron (2015; Von Ecole polytechnique Université Paris – flickr.com – – CC BY-SA 2.0); Logo Le Canard enchaîné (Wikipedia); Manifestation contre la corruption von Nuit Debout; Pierre Gattaz (2015; von Claude Truong-Ngoc / Wikimedia Commons – CC BY-SA 3.0), Christine Lagarde (2009; Von MEDEF – flickr.com – CC BY-SA 2.0); Polizisten mit Schutzhelm, aber in Zivilkleidung (Gazette Debout); Debout face au sexisme en politique. Global Debout – Paris: Nuit Debout / DR; François Hollande (Jean-Marc Ayrault – (flickr.com) –  CC BY-SA 2.0); Das neue Verhältnis zwischen Arbeiter und Unternehmer. Karikatur aus dem Neuen Postillon, Zürich, Schweiz 1896 (Gemeinfrei). Public_Domain_Photography (pixabay.com) – Creative Commons CC0.

Mathieu Brichard ist ein Autor aus Frankreich, der sich bei der sozialen Bewegung Nuit Debout engagierte, die seit dem 31. März 2016 auf dem Place de la République in Paris und anderen Städten des Landes jeden Abend und in der darauf folgenden Nacht gegen geplante Änderungen des Arbeitsrechts protestierte. Aus der Bewegung gingen zahlreiche basisdemokratische soziale Projekte und Medien hervor, wie zum Beispiel Radio Debout und Gazette Debout.

Von Mathieu Brichard

Mathieu Brichard ist ein Autor aus Frankreich, der sich bei der sozialen Bewegung Nuit Debout engagierte, die seit dem 31. März 2016 auf dem Place de la République in Paris und anderen Städten des Landes jeden Abend und in der darauf folgenden Nacht gegen geplante Änderungen des Arbeitsrechts protestierte. Aus der Bewegung gingen zahlreiche basisdemokratische soziale Projekte und Medien hervor, wie zum Beispiel Radio Debout und Gazette Debout.

3 Antworten auf „Die Korruption in ihrem natürlichen Element“

Ich möchte mich einfach nur bedanken, für diese sehr konkrete und für jeden verständliche ausführliche Aufklärung! Hier in Deutschland werden wir, die 99% ganz genauso von dem Großbürgertum belogen, betrogen und bis auf den letzten Blutstropfen ausgequetscht! Was für Frankreich gilt, gilt auch für jede andere Industrienation, in jeder Hinsicht! Ich werde diesen Blog an alle meine Freunde und Nachbarn weiter empfehlen, verstehen und wachsen ist der erste Schritt zur Veränderung!!
Vielen Dank nochmals

Vielen Dank für den Kommentar und das Lob sowie die Empfehlung. Die Neue Debatte versteht sich als Bürgermedium des “Grassroots journalism” und sieht seine Aufgabe darin, die gesellschaftlichen und politischen Zusammenhänge zu verdeutlichen und lädt deshalb auch alle Menschen ein, sich aktiv einzubringen und so den Journalismus der Zukunft zu gestalten. Mehr Informationen gibt es hier: https://neue-debatte.com/unterstuetzen/

Meine Gedanken zu dem Artikel „Die Korruption in ihrem natürlichen Element“ von Mathieu Brichard:

Die diktatorisch durchgesetzte, demokratische Verwaltung der Gesellschaft

Entsprechen unsere demokratischen Verhältnisse eher der klassischen Staatsformenlehre oder den Vorstellungen des Kurfürst Friedrich Wilhelm von Brandenburg, der einmal feststellte: „Es ist dem Untertan untersagt, den Maßstab seiner beschränkten Einsicht an die Handlungen der Obrigkeit anzulegen.“

„Demokratie“, sei eines der größten Schlagwörter des 20. Jahrhunderts gewesen, bemerkt Johannes Heinrichs in seinem „Demokratiemanifest“. Rückblickend könne es als das größte und zentrale Wort des vergangenen Jahrhunderts gelten, wie „Fortschritt“ für das 19. und „Aufklärung“ für das 18. Was dagegenspreche sei, „dass dieses Schlagwort ein bisher unerfülltes Versprechen geblieben ist, dass wir auch in den demokratischen Ländern allenfalls in einer Halbdemokratie leben.“(1)

Jede Bewegung sowohl in der Natur als auch in der menschlichen Gesellschaft und im Denken geschieht aus zu lösender Widersprüchlichkeit heraus. Diese gilt es herauszufinden, um Lösungen bewusst stimulieren zu können. Die kategorisch geforderte und diktatorisch durchgesetzte Art und Weise der Lebensführung innerhalb einer Menschengemeinschaft gilt als unvereinbar mit der demokratisch verwalteten Lebensgestaltung eines menschlichen Gemeinwesens.

Eine „reine Diktatur“ beziehungsweise „reine Demokratie“ kann es jedoch nicht geben, diktatorische und demokratische Prinzipien bestimmen immer tendenziös die Richtungen der Widerspruchs-, Konflikt- und Problemlösung.
Alle Handlungen eines Staates gehen, gleichgültig ob in einer Diktatur oder einer Demokratie, von der Regierung aus, die durch eine bestimmte Person, gesellschaftliche Gruppierung, Partei beziehungsweise von Lobbyisten oder Ähnliches unterstützt werden und das oft auch ohne die Verfassung und Gesetze zu beachten.

Erst der sich seiner selbst immer vollkommener bewusste Mensch wird die Verhältnismäßigkeit von diktatorischen und demokratischen Prinzipien und Wesenszügen jeglicher Gesellschaftsformation durchschauen und mittels darauf basierender, sehr allgemeine Interessen vermittelnder Ideologien sich menschenwürdig, menschenmöglich und gesellschaftlich integriert und individuell emanzipiert einrichten.

( 1) Johannes Heinrichs – „Demokratiemanifest“ Steno Verlag München 2005

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