Michael Wögerer schrieb am Tag der Befreiung vom Nationalsozialismus in seinem Tagebuch “31 Tage Mindestsicherung” über den Aufstieg der Nazis. Die Ursache sei auch in der zerbrochenen Solidarität innerhalb der Gesellschaft zu suchen, sagte schon der frühere österreichische Bundeskanzler Bruno Kreisky.
8. Mai, 23.01 Uhr – Exakt in diesem Augenblick vor 72 Jahren wurde der Zweite Weltkrieg beendet. Zu diesem Zeitpunkt sollten alle Kampfhandlungen in Europa eingestellt werden. Die deutsche Wehrmacht hatte kapituliert, die grauenvolle Zeit des “Nationalsozialismus” war zu Ende.
Es ist der Tag der Befreiung und zugleich ein Tag, an dem wir mit lauter Stimme aufstehen und sagen: “Niemals vergessen! Nie wieder Faschismus!”
Damit diese Losung aber ihren Sinn erfüllt, müssen wir uns fragen, wie es damals soweit kommen konnte, dass Millionen von Menschen dem verbrecherischen Treiben der Nazis nicht nur tatenlos zugesehen haben, sondern aktiv daran beteiligt waren.
“Was hat den Nazifaschismus vor allem verursacht?”, fragte sich auch Bruno Kreisky zum 40. Jahrestag der Beendigung des Zweiten Weltkrieges bei seiner Rede im ehemaligen Konzentrationslager Struthof.
Und er kam zu einer eindeutigen Antwort:
“Es war die grenzenlose Not dieser Zeit als Folge der Weltwirtschaftskrise. (…) Die Not der Zeit ließ die Solidarität zerbrechen. Die, die Arbeit hatten, fürchteten, sie zu verlieren und die Arbeitslosen, die Karl Marx mit Recht die Reservearmee des Proletariats genannt hat, wurden demoralisiert.” (Quelle: Arbeiterzeitung vom 8. Mai 1985)
Die Situation von damals ist mit jener von heute (noch) nicht vergleichbar. Dennoch leben wir in einer Zeit, in der Solidarität wieder aus der Mode kommt. Die Ellenbogen werden gespitzt.
Jene, die abgesichert sind, treten nach unten, weil sie Angst davor haben, ihren Status zu verlieren. Jene, die unten sind, fehlt die Kraft und das Bewusstsein ihre Lage zu erkennen und an jenen Hebeln zu drehen, wo sie nicht nur ihre eigene Situation verbessern könnten. Stattdessen treten sie auch nach unten auf jene, die noch weniger Chancen haben, sich zur Wehr zu setzen.
Angestachelt werden sie dabei von jenen, die ganz oben sitzen und davon profitieren, dass niemand auf die Idee kommt sie von ihrem Thron zu stürzen.
Wenn wir es ernst meinen mit der Losung “Nie wieder Faschismus!”, dann wird es höchste Zeit diesen Teufelskreis zu durchbrechen.
Denn erst wenn wir beginnen jenen, die unter uns sind, die Hand zu reichen, wenn wir uns bewusst werden, dass es nicht der Flüchtling, nicht die Ausländerin, nicht der Mindestsicherungsbezieher und nicht die Arbeitslosen sind, die uns den Weg zum Glück versperren; wenn wir der Solidarität wieder Leben einhauchen und die, die uns entzweien zum Teufel jagen, dann, nur dann, werden wir eines Tages nicht mehr nur als Mahnung, sondern als Feststellung sagen können: Nie wieder Faschismus.
Wien, Tag der Befreiung (8.5.2017)
PS: Heute habe ich exakt 7,40 Euro für Frühstück (0,90) und Lebensmitteleinkauf (6,50) ausgegeben. Noch 23 Tage um 191,71 Euro.
Die bisherigen Tagesnotizen:
31 Tage Mindestsicherung – Eine Annäherung (30.4.)
Tag 1 – Kein Spiel! (1.5.)
Tag 2 – Konsumgesellschaft (2.5.)
Tag 3 – Öffentlichkeit schaffen! (3.5.)
Tag 4 – Lebensrealitäten (4.5.)
Tag 5 – Freundschaft (5.5.)
Tag 6 – Netzwerke (6.5.)
Tag 7 – Kein Märchen (7.5.)
Fragen, Anmerkungen, Lob und Tadel sowie Feedback zur Aktion, können als Kommentar unter dem Beitrag geschrieben oder an seine E-Mail michael.woegerer(at)gmail.com gesendet werden.
Titelbild: Bruno Kreisky 1983 – flickr – CC BY-SA 2.0.
–Michael Wögerer ist ein Journalist aus Wien. Er ist Mitbegründer und Redakteur von „Unsere Zeitung – Die Demokratische“, einem Kooperationspartner von Neue Debatte, war bei der Austria Presse Agentur und schreibt über Gewerkschaften, Soziales, Lateinamerika, Fußball und Liebe.