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Geschichte

Zeitzeugin: Geboren im Land der Denker und Dichter

Wenn selbst im unmenschlichen Wahnsinn Theater gespielt wird, so muss diese Kraft der Kunst als Mittel der Menschlichkeit verinnerlicht und gepflegt werden.

Community-Autorin Marie ist in der DDR aufgewachsen. Die Deutsche Demokratische Republik hat ihr Leben und Denken beeinflusst, aber geprägt hat sie ein kleiner Zettel an einem Holzbett im KZ Buchenwald. Sie schreibt über ideologische Verblendung und das Theater als Mittel der Menschlichkeit im Angesicht des Todes.

Es war einmal ein großes Land, dass sich auch gern mit der Fahne “der Dichter und Denker” schmückte. Ab und zu kann man noch etwas darüber lesen, doch “irgendwie” sind die weitaus häufiger präsenten Slogans auch wie eine Karikatur dazu zu lesen.

Aus diesem Grund ergab es sich wohl auch, dass es möglicherweise überproportional viele wahnhafte “Mischwesen” hervorbrachte, die wenig Wissen und Erfahrung hatten und haben bei der Unterscheidung zwischen einem wertvollen Original und dem rein populistisch-massenkompatiblen Instrumentalisierungen von “Möchte-Gerne-Großen”.

Als dann dieses große Land seinen letzten schrecklichen großen Krieg verloren hatte, wurde es von seinen Siegern in vier Kontrollzonen aufgeteilt.

Nicht sehr lange danach wurde ich dort in einer Stadt hineingeboren – Leipzig. Später wurde mir erzählt, wie lachende Amerikaner Kaugummis und Schokolade von den Panzern zu den Menschen warfen.

Etwas später kamen die Russen. Denn auch die Amerikaner wollten ein Stück von Berlin haben und es fand ein “Kontrollzonen-Um-und-Austausch” statt: Berlin wurde geteilt und die Besatzung in Leipzig geändert.

Über die Russen hörte ich, dass sie nicht so saubere Uniformen und ein anderes Lächeln als die Amerikaner hätten und statt Kaugummis gab es Lagerfeuer auf den Straßen um eine Gulaschkanone herum.

Die Kinder sammelten sich zuerst um sie, denn sie bekamen zu essen und ihr wohl erstes “Kulturprogramm” von den singenden Soldaten.

Den Erwachsenen waren die Russen unheimlich. Ich hörte noch so etwas wie Zarenmörder, Vergewaltiger und Knoblauchstinker, konnte jedoch nur Letzteres in den oft überfüllten Straßenbahnen, mit denen auch viele Offiziere mit oder ohne ihre Frauen fuhren, richtig verstehen.

Konflikte und Moralversprechen

Trümmerfrauen in Leipzig, 1949, Deutsche Fotothek‎, CC BY-SA 3.0 de
Trümmerbeseitigungstrupp in Leipzig 1949. (Foto: Deutsche Fotothek‎, CC BY-SA 3.0 de)

Als ich drei Jahre alt war, wurde ich Kindergartenkind. Ich ging in einen evangelischen Kindergarten, denn ich war je getauft worden und hatte noch rein formal und traditionell in meinem Elternhaus ein Morgen- und ein Abendgebet unter Aufsicht zu absolvieren.

Dies schien mir irgendwie komisch, da ich keinerlei Beziehung zu irgendetwas herstellen konnte, was meinen Lebensalltag ausmachte. Doch es setze sich durch die ständige Wiederholung “Ich bin klein, mein Herz ist rein …” so etwas wie ein Moralversprechen in mir fest.

Und dies war wohl sehr stark und selbstbewusst verinnerlicht, brachte mich aber zeit meines Lebens in zahlreiche Konflikte, auch später, als ich schon lange nicht mehr klein war …

Nun jedenfalls hatte es sich ergeben, dass in dem Kindergarten auch eine Bibelstunde abgehalten wurde, ich also Geschichten zu hören bekam, von denen ich keine Ahnung hatte.

Wie sieht Gott aus? Frage unzulässig!

Doch bald verstand ich, dass dies keine Märchen waren, sondern überlieferte Geschichten, die einen “wahrhaftigen Glauben” in mir erzeugen sollten. Also nicht Unterhaltung pur, sondern “irgendwie mehr”.

Dass es Religionen und Ideologien gab, konnte ich ja in diesem Alter noch nicht verstehen, aber eine schwache Ahnung über Manipulation hatte ich gefühlsmäßig natürlich schon.

Und die Klarheit kam auch schnell. Auf meine neugierige Frage “wie denn Gott aussieht” erhielt ich keine Antwort, nur ein Augenverdrehen der befragten “Tante” mit ihrer großen und superweiß gestärkten Schürze und dem knallharten Tadel, dass diese Frage völlig unzulässig ist.

Ich war disqualifiziert und dies merkte ich die ganze Zeit meines Aufenthaltes dort. In Zukunft lies ich die Geschichten stumm an mir vorüberziehen und konzentrierte mich auf das Ende, an dem die brennende Kerze gelöscht wurde und ich möglichst die Erste sein wollte, die den warmen und formbaren Wachs für meine eigene Kreativität der Formgebung nutzen wollte.

Ein zweiter Höhepunkt war das Schaukeln und das Träumen bis weit in die Wolken hinein – so eine große Schaukel wie dort im Hof habe ich später in meinem Leben nie wieder gesehen.

Ein kleines Teil der sozialistischen Gesellschaft

So wurde jeder Bürger der DDR (Deutsche Demokratische Republik) von seiner Regierung gesehen beziehungsweise erwünscht. Diese Erwartungshaltung wurde mir von Lebensjahr zu Lebensjahr immer klarer.

Und immer noch wollte ich mein “reines Herz” behalten, auch wenn ich schon die Erfahrung hinter mir hatte, dass dies in der Kirche nicht möglich war.

Aus der heutigen – reflektierenden Sicht – finde ich immer noch berichtenswert, dass eines Tages vom Hausmeister ein Hakenkreuz in einem Holztisch geschnitzt entdeckt wurde.

Da hatte ich zum ersten Mal mit der Kriminalpolizei zu tun, die die Schule fast auf den Kopf stellte und den Täter suchte.

Nazi-Symbole waren ein absolutes “No-Go” in unserem Land und diese sehr aufwendige Verfolgung des Täters sah ich als Beweis, dass es ernst gemeint war “ein besseres Deutschland” zu schaffen, dessen Hauptfeind der Faschismus war, den es zu enttarnen und kompromisslos zu bekämpfen galt.

Das war auch genau in meinem Sinne und ich registrierte für mich, dass sich meine Vorstellung mit der meiner Regierung in diesem Punkte deckte.

Ideologisch verblendet: Die DDR hat die besten Autos

Der Wartburg 311 war ein PKW des Automobilwerks Eisenach, der von 1955 bis 1965 hergestellt wurde. (Foto: Vladimir Krupka, CC BY-SA 3.0)
Der Wartburg 311 des Automobilwerks Eisenach wurde der von 1955 bis 1965 in der DDR hergestellt. (Foto: Vladimir Krupka, CC BY-SA 3.0)

Immer optimistischer wurde ich durch meinen Staatsbürgerkundelehrer. Der Lehrplan in diesem Fach gab wohl einen großen Gestaltungsspielraum – oder zumindest die Möglichkeit ihn sich zu nehmen, wie es dieser Lehrer tat.

Er erzählte viel aus seinem eigenen Leben, aus der Zeit seiner englischen Kriegsgefangenschaft in Hängematten und mit Zwieback, aber er “provozierte” uns auch zum selbstständigen Denken.

Dem Spiel “alles, was Flügel hat, fliegt hoch in die Luft” folgend, warf er unterschiedliche Beispiele in die Klasse und wir konnten bei Zustimmung unsere Hände in die Luft heben.

Nur ein Junge in unserer Klasse war damals ideologisch verblendet und hatte schon seinen Verstand dafür geopfert, als er auf das Beispiel “die Autos in der DDR sind die Besten” seine Hände als Einziger hob und die ganze Schulklasse laut zu lachen anfing.

Der Lehrer erklärte ihm dann, dass dies nun wirklich nicht stimmt und niemand in seiner Euphorie zu falschen Übertreibungen und Aussagen neigen soll.

Chapeau! Ich fühlte immer mehr Heimat in der DDR, auch wenn die morgendlichen Fahnenappelle auf dem Schulhof absolut nicht mein Ding waren – eine formale Zeremonie, die jedoch nach wenigen Minuten wieder vorbei war und auch irgendwann dann gar nicht mehr stattfand.

Theater im Angesicht des Todes

Foto aus dem KZ Buchenwald aufgenommen am 16. April 1945. (J. Rouard; CC BY-SA 3.0)
Foto aus dem KZ Buchenwald aufgenommen am 16. April 1945. Die SS-Wachmannschaften waren vor den heranrückenden US-Einheiten geflohen oder am 11. April von Angehörigen des inneren Widerstands überwältigt worden. (J. Rouard; CC BY-SA 3.0)

Nicht vergessen möchte ich die Klassenreise in das KZ Buchenwald. Beim Anblick der Massen von kleinen Kinderschuhen in einer riesigen Glasvitrine, einem Lampenschirm aus tätowierter Menschenhaut und Unmengen von Haaren, wurde mir ganz übel, bei dem Gedanken durch welche Taten sie in diese Gedenkstätte kamen und wer wohl alles dies angerichtet hatte.

Noch unter diesem Eindruck entdeckte ich jedoch in den ehemaligen Wohnbaracken der Häftlinge einen kleinen Zettel an einem Holzbett, auf dem handschriftlich ein Theaterplan geschrieben stand.

Dieser Tag gab mir einen Erkenntnisschub, den ich noch bis heute zu meiner Basis rechne. Wenn selbst in diesem unmenschlichen Wahnsinn Theater gespielt wird, im Angesicht des Todes die Dichter und Denker lebendig gehalten werden von und für Lebende unter unvorstellbaren Bedingungen, so muss (!!!) diese Kraft der Kunst als wesentliches Mittel der Menschlichkeit verinnerlicht und gepflegt werden, denn sie ist existenziell, wenn man nur noch das nackte Leben hat.

Es war die Geburtsstunde meiner Liebe zur Kunst. Und nicht aus eitler Liebhaberei, sondern als Existenzversicherung und der damit verbundenen Liebe zur Freiheit, trotz des Wissens um die perversen Maschen von versuchter Angstmacherei, welche manchen Menschen zu eigen sind.

Immer wenn ich heute mal nicht weiter weiß, denke ich an diesen kleinen Zettel und mach mir meinen eigenen “Theaterplan” für die konkrete Situation, die niemals so schlimm ist, wie diese unter der das “Original” geschrieben wurde.

Demnächst geht es weiter: Als mein Heimatgefühl Risse bekam und die Ambivalenz in mein Leben Einzug hielt.


Mein Gedanke des Tages:

In der DDR war der 8. Mai ein staatlicher Feiertag: Der “Tag der Befreiung des deutschen Volkes vom Hitlerfaschismus” war der offizielle Name. Aktuell dominiert ein Thema die deutschen Gazetten: Der Fall des mutmaßlich rechtsextremistischen, terrorverdächtigen Bundeswehrsoldaten Franco A. Jedoch ignorieren die Medien – seit meinem “freiheitlich garantierten Zugang” zu ihnen – oft genug in diesem Zusammenhang, dass auch die Anfänge der Bundeswehr von nationalsozialistischen Altlasten überschattet[1] sind, die sich bis heute dort finden lassen. Zu dieser Art von “Vereinigung” war ich niemals bereit und wurde niemals gefragt.


Adolf Hitler mit dem späteren Generalinspekteur des Bundeswehr, Adolf Heusinger (1.v.l.), im Jahr 1942 bei einer Lagebesprechung.
Adolf Hitler mit dem späteren Generalinspekteur des Bundeswehr, Adolf Heusinger (1.v.l.), im Jahr 1942 bei einer Lagebesprechung.

Über eine ganz normale Militärlaufbahn in der Bundesrepublik Deutschland: Adolf Bruno Heinrich Ernst Heusinger (1897 – 1982).

Heusinger war ein General, der in vier deutschen Armeen diente. Von 1915 bis 1920 gehörte er dem Heer des Deutschen Kaiserreichs an und von 1920 bis 1935 der Reichswehr. Heusinger diente anschließend von 1935 bis 1945 in der Wehrmacht, in der er bis 1944 die Operationsabteilung des Generalstabes im Oberkommando des Heeres führte.

Von 1955 bis 1964 war Heusinger Soldat der neugegründeten Bundeswehr und beteiligte sich an deren Aufbau maßgeblich. Am 12. November 1955 erhielt Heusinger von Bundespräsident Theodor Heuss die Ernennungsurkunde zum Generalleutnant. Heusinger wurde damit einer der ersten Generale der neu aufgestellten Streitkräfte der Bundesrepublik Deutschland.

Von 1961 bis Februar 1964 war er Vorsitzender des Militärausschusses (Military Committee) der NATO in Washington (USA) und Mitinitiator der ab 1967 angewandten NATO-Nuklearstrategie der Flexible Response (flexible Erwiderung).

Seit 1967 gibt es den General-Heusinger-Preis, der an der Führungsakademie der Bundeswehr für hervorragende Leistungen vergeben wird. Die General-Heusinger-Kaserne in Hammelburg (Bayern) ist nach ihm benannt.


Fotos: Trümmerfrauen in Leipzig, 1949 (Von Deutsche Fotothek‎, CC BY-SA 3.0 de); Adolf Heusinger (Von Bundesarchiv, Bild 183-B24543 / CC-BY-SA 3.0, CC BY-SA 3.0 de); Wartburg 311 (Von Wikipedian Vladimir Krupka (Czech Wikipedia), CC BY-SA 3.0) und KZ Buchenwald (J. Rouard; 16. April 1945; CC BY-SA 3.0); Titelbild: Innerdeutsche Grenze Ende der 1970er Jahre im Bereich nördlicher Harz. (Von HBrüning – Eigenes Werk, CC-BY-SA 4.0).

Community-Autorin

Community-Autorin Marie verknüpft schon seit ihrer Kindheit bis ins Heute all ihre Erlebnisse und Erfahrungen wie kluge Wegbegleiter für die Zukunftsgestaltung mit gegenwärtigen Ereignissen, zu einem Kompass, dessen Richtungsanzeige sie ab und zu veröffentlicht. Jeder "Navigator" mit Aufklärungsinteresse, bei der Suche nach dem "Wohin die Reise geht", ist dazu herzlich begrüßt an Bord, in dem Boot, in dem wir alle sitzen. Marie kommt aus Berlin und schreibt über Kunst, Kultur und reflektiert auf das Leben in der DDR.

Von Marie

Community-Autorin Marie verknüpft schon seit ihrer Kindheit bis ins Heute all ihre Erlebnisse und Erfahrungen wie kluge Wegbegleiter für die Zukunftsgestaltung mit gegenwärtigen Ereignissen, zu einem Kompass, dessen Richtungsanzeige sie ab und zu veröffentlicht. Jeder "Navigator" mit Aufklärungsinteresse, bei der Suche nach dem "Wohin die Reise geht", ist dazu herzlich begrüßt an Bord, in dem Boot, in dem wir alle sitzen. Marie kommt aus Berlin und schreibt über Kunst, Kultur und reflektiert auf das Leben in der DDR.

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