“Nur wer im Wohlstand lebt, lebt angenehm”, lautet eine Textzeile der “Ballade vom angenehmen Leben” aus der Dreigroschenoper. Michael Wögerer schreibt in seinem Tagebuch “31 Tage Mindestsicherung” über das simple Leben, einen Würstelstand in Wien und einen einsamen Abend mit Bertolt Brecht.
Freitagabend, kurz nach 22 Uhr. Bin schon zu Hause. Heute hat es besonders wehgetan kein Geld zum Fortgehen zu haben. Es war ein schöner Tag. Die KriLit 2017 wurden eröffnet, viele bekannte Gesichter, nette Gespräche. Getränke um freiwillige Spenden.
Es war mir zwar unangenehm insgesamt nur 70 Cent ins Körberl zu hauen, weil mir das Projekt Kritische LiteraturtageKritische Literaturtage extrem wichtig ist, aber viele vor Ort wussten von meinem Selbstversuch und, dass ich sonst nicht so knausrig bin. Zwischendurch leiste ich mir ein günstiges Kebab um 2,50 Euro am Yppenplatz in Ottakring.
Doch um 20 Uhr ist für mich der Spaß vorbei. Viele machen sich auf den Weg zur Abendveranstaltung im Weinhaus Sittl. Lieder von Bertolt Brecht werden zum Besten gegeben.
Klar, ich hätte mitgehen können. Der Eintritt war frei, aber ich kenne mich nun schon seit einigen Jahren und wusste, dass ich dort natürlich nicht nur Wasser trinken werde (falls das heutzutage in Gaststätten überhaupt noch kostenlos möglich ist).
Außerdem wollte ich dort nicht im Eck stehen. Ich bin ja ein ziemlich kommunikativer Mensch, flirte auch sehr gern und hätte im Weinhaus sicher noch das eine oder andere Glaserl getrunken. Aber, dann wären bestimmt mal so 10 bis 20 Euro dahingeflossen, denn man will sich ja auch nicht anmerken lassen, dass man eigentlich kein Geld hat.
Der Vernunft wegen, packe ich also meine Sachen und gehe nach Hause. Normalerweise hätte ich mir beim Würstelstand in der Währingerstraße noch zwei Bier gekauft und den Abend eben einsam ausklingen lassen.
Doch auch das hätte 5 Euro gekostet, also mache ich den Umweg zum Billa beim Franz Josefs Bahnhof, der bis 22 Uhr offen hat.
Um 3.05 Euro bekomm ich dort zwei “Landgraf” (billigstes Dosenbier) und sogar noch eine Flasche Rotwein dazu.
Einige werden jetzt vielleicht moralisch aufschreien und sagen: Alleine soll man doch keinen Alkohol trinken! Das mag schon sein, aber für meinen Brecht-Abend zu Hause muss ich es mir schon ein wenig gemütlich machen.
Apropos Brecht:
“Reicher Mann und armer Mann
standen da und sahn sich an.
Und der Arme sagte bleich:
»Wär ich nicht arm, wärst du nicht reich«.”
Die heutigen Ausgaben belaufen sich auf insgesamt 11,15 Euro. Für die restlichen 19 Tage bleiben mir somit noch 154,71 Euro.
Fragen, Anmerkungen, Lob und Tadel sowie Feedback zur Aktion, können als Kommentar unter dem Beitrag geschrieben oder an seine E-Mail michael.woegerer(at)gmail.com gesendet werden.
Die bisherigen Tagesnotizen:
31 Tage Mindestsicherung – Eine Annäherung (30.4.)
Tag 1 – Kein Spiel! (1.5.)
Tag 2 – Konsumgesellschaft (2.5.)
Tag 3 – Öffentlichkeit schaffen! (3.5.)
Tag 4 – Lebensrealitäten (4.5.)
Tag 5 – Freundschaft (5.5.)
Tag 6 – Netzwerke (6.5.)
Tag 7 – Kein Märchen (7.5.)
Tag 8 – Befreiung (8.5.)
Tag 9 – Nachhaltigkeit (9.5.)
Tag 10 – Durchatmen (10.5.)
Tag 11 – Lebenserwartung (11.5.)
Foto: Michael Wögerer
Michael Wögerer ist ein Journalist aus Wien. Er ist Mitbegründer und Redakteur von „Unsere Zeitung – Die Demokratische“, einem Kooperationspartner von Neue Debatte, war bei der Austria Presse Agentur und schreibt über Gewerkschaften, Soziales, Lateinamerika, Fußball und Liebe.
4 Antworten auf „Leben mit Mindestsicherung: Tag 12 – Exklusiv“
was ist mit den restlichen 19 Tagen?
Vielen Dank für die Nachfrage. Wir bringen alle Teile des Tagebuchs. Tag 13 ist hier zu finden und in der Nacht folgt der Eintrag von Tag 14.
sorry, ich hatte zu spät gesehen, dass das Thema brandaktuell ist.
Max Uthoff