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Gesellschaft

Leben mit Mindestsicherung: Tag 16 – Beim Frisör

Der Journalist Michael Wögerer hat einen Selbstversuch gestartet. Er lebt in Wien freiwillig von 7,50 Euro am Tag, um auf die Situation von Menschen aufmerksam zu machen, die von Armut und sozialer Ausgrenzung betroffen oder bedroht sind.

Wer in Österreich von Mindestsicherung lebt, muss auf jeden Cent schauen. Michael Wögerer berichtet in seinem Tagebuch über einen besonderen Luxus, der am besten nichts kosten darf: Ein Besuch beim Frisör.

Es gibt sie, diese Tage, die einen noch lange in Erinnerung bleiben.

Nach meinem heutigen Frühdienst in der APA – Austria Presse Agentur hab ich mich im nahe gelegenen Grünwald-Park in die Sonne gesetzt, mein mit etwas Geschmack versetztes Mineralwasser getrunken und die ersten Fragen für ein Halbzeit-Interview zu meinem Selbstversuch 31 Tage Mindestsicherung beantwortet.

Kurz vor 13 Uhr machte ich mich auf den Weg zum bereits angekündigten Frisör-Termin. Da ich durchschnittlich nur 7,50 Euro pro Tag zur Verfügung habe, sollte das bereits dringend notwendige Haareschneiden wenig bis gar nichts kosten und das Ganze sollte nicht nur für mich gelten. Barbara hat mich rasch vom Angebot des gewerkschaftlichen Fachstudios für FriseurInnen überzeugt.

Hier werden junge Menschen auf ihren Beruf als Friseure, Kosmetiker, Fußpfleger und Masseure vorbereitet und um nicht nur mit Plastikköpfen und Kunsthaaren zu üben, sind die Lehrlinge froh auch am lebenden Objekt zu probieren.

Von Montag bis Donnerstag bietet das Fachstudio die Möglichkeit, dass sich jede/r der/die will, um 9 Uhr oder um 13 Uhr äußerst günstig z.B. die Haare schneiden lassen kann (mir wurde auch eine Fußpflege angeboten, bin aber leider sehr kitzlig). Lediglich Materialkosten müssen bezahlt werden.

Pünktlich um 13 Uhr betrete ich das Studio. Einigen älteren Damen werden gerade die Haare gewaschen. “Sie haben bestimmt einen Termin?”, fragt mich eine junge Friseurin. Ich erkläre, dass ich mit Frau S. gesprochen hätte, doch hier ist man untereinander per Du. “Barbara, meinen Sie. Kommen Sie ruhig weiter!”

Im zweiten, noch viel größeren Raum des Friseursalons werken eifrige Menschen an ihren Haarmodellen, es wird gekämmt, geschnitten und geföhnt. Hier lerne ich Alper kennen. Der freundliche junge Mann wird mir in der nächsten Stunde einen neuen Haarschnitt verpassen. Wir unterhalten uns über meinen Selbstversuch, seine Leidenschaft für den Friseurberuf und dass man dabei manchmal auch therapeutische Fähigkeiten braucht.

Zwei zufriedene Gesichter und ein neuer Haarschnitt. Michael Wögerer (li.) beim Frisör.
Zwei zufriedene Gesichter und ein neuer Haarschnitt. Michael Wögerer (li.) und der angehende Frisör Alper.

Selten habe ich mich in einem Friseurstudio so gut betreut gefühlt. Die Lehrlinge werden hier intensiv auf ihre Abschlussprüfung vorbereitet, die Trainer schauen ihnen ab und zu über die Schulter, geben kleine Anweisungen und Tipps. Eine davon ist Vicki.

Sie arbeitet schon sehr lange als Ausbildnerin im Fachstudio und erzählt mir, dass manche Kunden schon seit vielen Jahren regelmäßig dorthin kommen.

Sie schätzen die Atmosphäre und natürlich auch, dass sie für das Service (fast) nichts bezahlen müssen. Die Trainer fahren mit den Kursteilnehmern auch manchmal zu arbeitslosen Jugendlichen und machen dort Haare und Make-up, damit die jungen Leute gute Bewerbungsfotos bekommen. Auch Flüchtlingsunterkünfte werden besucht, um dort kostenlos Haare zu schneiden.

Ich freue mich sehr, dass ich heute dort war. Mit Alper habe ich einen ausgesprochen talentierten Friseur kennengelernt, den ich bestimmt auch mal besuchen werde, wenn er in einem “normalen” Friseurstudio arbeitet.

Für Menschen mit wenig Geld ist das Fachstudio im 6. Wiener Gemeindebezirk jedenfalls ein Geheimtipp. Vielleicht muss man ein wenig mehr Zeit und Geduld als sonst aufbringen, aber die freundliche Atmosphäre und das Gefühl nicht nur eine Dienstleistung zu bekommen, sondern gleichzeitig jungen Menschen bei ihrer Ausbildung zu unterstützen, ist großartig.

Für Lebensmittel (7,52 Euro), einen Espresso (2,50 Euro) und Wuzzelpapier (1,20 Euro) hab ich heute insgesamt 11,22 Euro ausgegeben. Ein wenig zuviel, aber ich bin trotzdem noch relativ gut im Plan. Für die restlichen 15 Tage bleiben mir insgesamt noch 122,28 Euro.


Fragen, Anmerkungen, Lob und Tadel sowie Feedback zur Aktion, können als Kommentar unter dem Beitrag geschrieben oder an seine E-Mail michael.woegerer(at)gmail.com gesendet werden.


Die bisherigen Tagesnotizen:

31 Tage Mindestsicherung – Eine Annäherung (30.4.)

Tag 1 – Kein Spiel! (1.5.)

Tag 2 – Konsumgesellschaft (2.5.)

Tag 3 – Öffentlichkeit schaffen! (3.5.)

Tag 4 – Lebensrealitäten (4.5.)

Tag 5 – Freundschaft (5.5.)

Tag 6 – Netzwerke (6.5.)

Tag 7 – Kein Märchen (7.5.)

Tag 8 – Befreiung (8.5.)

Tag 9 – Nachhaltigkeit (9.5.)

Tag 10 – Durchatmen (10.5.)

Tag 11 – Lebenserwartung (11.5.)

Tag 12 – Exklusiv (12.5.)

Tag 13 – Soziale Hängematte (13.5.)

Tag 14 – Sigi, du fehlst! (14.5.)

Tag 15 – Halbzeit (15.5.)


Foto und Titelbild: Fachstudio für Friseure Wien (Michael Wögerer).

Journalist bei Unsere Zeitung | Webseite

Michael Wögerer ist ein Journalist aus Wien. Er ist Mitbegründer und Redakteur von „Unsere Zeitung – Die Demokratische“, einem Kooperationspartner von Neue Debatte, war bei der Austria Presse Agentur und schreibt über Gewerkschaften, Soziales, Lateinamerika, Fußball und Liebe.

Von Michael Wögerer

Michael Wögerer ist ein Journalist aus Wien. Er ist Mitbegründer und Redakteur von „Unsere Zeitung – Die Demokratische“, einem Kooperationspartner von Neue Debatte, war bei der Austria Presse Agentur und schreibt über Gewerkschaften, Soziales, Lateinamerika, Fußball und Liebe.

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