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Gesellschaft

Leben mit Mindestsicherung: Tag 24 – Mobilität

Bevor jemand in Österreich Mindestsicherung bekommen kann, muss vorhandenes Vermögen verwertet werden. Die Grenze liegt bei etwa 4000 Euro. Nur in Ausnahmen wird man ein Auto behalten. Michael Wögerer beschreibt in seinem Tagebuch die Einschränkung der Mobilität.

Wenn einem die Decke zu Hause auf den Kopf fällt, empfiehlt es sich irgendwo hinauszufahren. Für Menschen mit einem geregelten und ausreichenden Einkommen ist das meist kein Problem. Sie setzen sich einfach in ihr Auto oder in den Zug und lassen ihre eigenen vier Wände hinter sich. Für jemanden, der wenig Geld hat, ist es jedoch eine oft unüberwindbare Hürde.

Bevor man in Österreich Sozialhilfe bzw. Mindestsicherung bekommen kann, muss vorhandenes Vermögen verwertet werden. Die Grenze dafür liegt in der Regel bei rund 4.000 Euro. Das bedeutet, dass man sich nur in wenigen Ausnahmen ein Auto behalten darf.

Für Menschen, die am Land leben eine Katastrophe und einer der Faktoren, warum sie noch mehr vom sozialen Leben abgeschnitten sind. Ohne Auto und mit schlechten öffentlichen Verkehrsverbindungen in den ländlichen Regionen wird es darüber hinaus extrem schwierig wieder einen Job zu finden.

Wer in Wien Mindestsicherung bezieht, hat Anspruch auf den sogenannten „Mobilpass“. Damit erhält man u.a. eine ermäßigte Monatskarte der Wiener Linien um 17 Euro oder einen Einzelfahrschein zum halben Preis (1,10 Euro).

Doch wer – so wie ich heute – mal seine Eltern in Niederösterreich besuchen möchte, kann von den (staatlichen) Österreichischen Bundesbahnen oder der (privaten) Westbahn keine besondere Unterstützung erwarten.

Um auch dieses Thema nicht nur theoretisch zu behandeln, habe ich mich heute einer speziellen Herausforderung gestellt. Mein Ziel war es um wenig bis gar kein Geld von Wien nach Sankt Pölten zu kommen.

Sankt Pölten Michael Wögerer
Mit dem Daumen von Wien nach Sankt Pölten. Trampen, weil das Zugticket zu teuer ist. (Foto: Michael Wögerer)

Mein Neffe Jakob nahm in der niederösterreichischen Landeshauptstadt am Bundeswettbewerb von „prima la musica“ teil. Zu diesem Anlass waren meine und Jakobs Eltern zum Festspielhaus St. Pölten gefahren und ich wollte versuchen rechtzeitig zum Ende der Veranstaltung dort zu sein, um mit ihnen später weiter zu meinem Elternhaus nach Winklarn (bei Amstetten) zu fahren.

Das günstigste Zugticket um 8,90 Euro (Westbahn) war mir bei einem durchschnittlichen Tagesbudget von 7,50 Euro viel zu teuer und meine Suche bei diversen Online-Mitfahrbörsen blieb erfolglos. Also musste ich es auf die altmodische Art per Autostopp versuchen (mir ist übrigens bewusst, dass ich hier als Mann weniger Bedenken haben muss).

Nach meinem heutigen Kurzdienst in der APA mache ich mich also um 11.30 Uhr auf den Weg nach Wien-Hütteldorf. Zuvor hatte ich noch ein Schild gebastelt, um auf mein Reiseziel aufmerksam zu machen. Kurz nach 12 stand ich an der Hadikgasse vor der Auffahrt zur Westautobahn. Ein wenig mulmig war mir schon, aber nachdem ich es bereits großspurig angekündigt hatte, musste ich da jetzt durch.

Alle PKW mit einem P (Stadt St. Pölten) oder PL (St. Pölten Land) auf der Nummerntafel versuche ich mit einem salsa-artigen Schildwackler und „Saaaankt Pööölten“-Rufe, besonders zum Stehenbleiben zu animieren.

Nach 20 Minuten stoppt fast unbemerkt ein rotes Auto und schiebt ein paar Meter zurück. Ich öffne die Beifahrertür und frage ungläubig: „Fahren Sie nach St. Pölten?“ – „Jo, I nimm die mit!“, antwortet der junge Mann am Steuer. Rucksack und Schild auf die Rückbank und los geht’s.

Gregor studiert in Wien Forstwirtschaft und ist am Weg nach Hause. Er kommt aus der Nähe von Fuschl in Salzburg und nachdem das Semester fast gelaufen ist, ist endlich wieder Heimaturlaub angesagt. Wir unterhalten uns über sein Studium, meinen Selbstversuch, über dieses und jenes. Starker Regen setzt ein. Dreifaches Glück, schon so bald eine Mitfahrgelegenheit gefunden zu haben und noch dazu mit einem sympathischen und sicheren Fahrer.

So kurzweilig ist mir die Fahrt von Wien nach Sankt Pölten bisher nur selten vorgekommen. Gregor bringt mich sogar in die Nähe des niederösterreichischen Landhauses. Es ist 12.45 Uhr und um 13.15 Uhr soll das Ergebnis von Jakobs Musikwettbewerb verkündet werden. Perfekt!

Vor dem Festspielhaus warten bereits meine Schwester Klaudia, ihr Mann Markus, Jakob und sein Musiklehrer auf mich. Schon bald werden wir erfahren, dass Jakob den ersten Preis erreicht hat und somit einer der besten Posaunenspieler Österreichs in seiner Altersgruppe ist. Nach einem kurzen Stadtrundgang durch unsere geringgeschätzte Landeshauptstadt fahren wir weiter nach Winklarn. Endlich wieder mal zu Hause!

Meine heutigen Ausgaben belaufen sich auf lediglich 1,95 Euro für Frühstück und ein wenig Reiseproviant. Noch 70,40 für 7 Tage.


Fragen, Anmerkungen, Lob und Tadel sowie Feedback zur Aktion, können als Kommentar unter dem Beitrag geschrieben oder an seine E-Mail michael.woegerer(at)gmail.com gesendet werden.


Die bisherigen Tagesnotizen:

31 Tage Mindestsicherung – Eine Annäherung (30.4.)

Tag 1 – Kein Spiel! (1.5.)

Tag 2 – Konsumgesellschaft (2.5.)

Tag 3 – Öffentlichkeit schaffen! (3.5.)

Tag 4 – Lebensrealitäten (4.5.)

Tag 5 – Freundschaft (5.5.)

Tag 6 – Netzwerke (6.5.)

Tag 7 – Kein Märchen (7.5.)

Tag 8 – Befreiung (8.5.)

Tag 9 – Nachhaltigkeit (9.5.)

Tag 10 – Durchatmen (10.5.)

Tag 11 – Lebenserwartung (11.5.)

Tag 12 – Exklusiv (12.5.)

Tag 13 – Soziale Hängematte (13.5.)

Tag 14 – Sigi, du fehlst! (14.5.)

Tag 15 – Halbzeit (15.5.)

Tag 16 – Beim Frisör (16.5.)

Tag 17 – Für Lisa (17.5.)

Tag 18 – Hunger auf Kultur (18.5.)

Tag 19 – Gratis-Essen für alle (19.5.)

Tag 20 – Wenn ich Sozialminister wäre (20.5.)

Tag 21 – Grundbedürfnisse (21.5.)

Tag 22 – Planung (22.5.)

Tag 23 – Helfen und reden (23.5.)


Fotos: Michael Wögerer (Unsere Zeitung) und TheDigitalWay; pixabay.com; Creative Commons CC0.

 

Journalist bei Unsere Zeitung | Webseite

Michael Wögerer ist ein Journalist aus Wien. Er ist Mitbegründer und Redakteur von „Unsere Zeitung – Die Demokratische“, einem Kooperationspartner von Neue Debatte, war bei der Austria Presse Agentur und schreibt über Gewerkschaften, Soziales, Lateinamerika, Fußball und Liebe.

Von Michael Wögerer

Michael Wögerer ist ein Journalist aus Wien. Er ist Mitbegründer und Redakteur von „Unsere Zeitung – Die Demokratische“, einem Kooperationspartner von Neue Debatte, war bei der Austria Presse Agentur und schreibt über Gewerkschaften, Soziales, Lateinamerika, Fußball und Liebe.

2 Antworten auf „Leben mit Mindestsicherung: Tag 24 – Mobilität“

Beste Grüße aus Hamburg – in der schönsten Stadt der Welt gibt es ein äußerst fortschrittliches Preissystem im ÖPNV, das gerade auch Menschen mit geringerem Einkommen berücksichtigt. Zwar ist der Hamburger Verkehrsverbund (HVV) im deutschlandweiten Vergleich am teuersten (http://www.zeit.de/mobilitaet/2017-02/bus-bahn-oeffentlicher-nahverkehr-studie-grafiken), dafür gibt es eine sogenannte Sozialkarte (http://www.hamburg.de/sozialkarte), mit der man zwar keine Einzelfahrscheine günstiger bekommt (ca. € 3,20), sich dafür die Monatkarte im Preis im € 20,80 reduziert. Konkret bedeutet das, dass die ursprünglich über € 86 kostende Karte mit Sozialkarte nur über € 65 kostet. Für Arbeitslosengeld-II-Empfangende übersteigt dies die vorgesehenen »Regelbedarf«-Kosten nach § 5 RBEG (https://www.buzer.de/gesetz/12347/a202657.htm) um über € 32 im Monat.
Wer sich also Mobilität (und damit gesellschaftliche Teilhabe) leisten möchte, muss an seiner physischen Existenz sparen (Vorsicht! Das Arbeitslosengeld kann natürlich auch schon vorher gekürzt werden, etwa, wenn man ein Jobangebot mit unmenschlichen Arbeitsbedingungen ablehnt).
Ach so, außerhalb des HVV-Bereiches muss man natürlich sehen, wie man vorankommt. Für eine Fahrt in die nahegelegene Stadt Kiel etwa bezahlt man mit der Regionalbahn (Tageskarte nach SH-Tarif, man möchte ja auch zurückkommen) knapp das, was im »Regelbedarf« eben für den Verkehr vorgesehen ist – danach hat man die monatliche Mobilität schon aufgebraucht.

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