Wien, 27. Mai. 2017, 21.30Uhr – Die heutige Notiz hätte ich lieber morgen schreiben sollen. Viel Ärger bleibt einem nämlich erspart, wenn man seine spontanen Gedanken nicht sofort hinausposaunt, sondern lieber eine Nacht darüber schläft, und nachdenkt, ob etwa der “Witz”, der einem gerade die Schenkel zum glühen bringt, tatsächlich das gelbe vom Ei ist. Zum Glück bin ich kein Politiker (mehr) und Rücktrittsaufforderungen machen bei mir keinen Sinn.
Ich hab mich heute selbst überschätzt. Die sogenannten “sozialen Medien” verleiten einem gerne dazu, dir und der Welt etwas vorzugaukeln, das gar nicht der Realität entspricht.
Ich hatte das Gefühl Bäume ausreißen zu können und dachte, dass es nach 27 Tagen Mindestsicherung schon ein paar Leute gäbe, die das Interesse verspüren, sich zu treffen und auszutauschen.
Ich hatte gehofft, dass es irgendwie gelingt, ein Picknick zu organisieren, das viele Menschen zusammenbringt. Ich wünschte mir, dass es möglich sei, unterschiedliche Lebensrealitäten auf einen Tisch,…in diesem Fall auf eine Picknickdecke zusammenzubringen. Doch, es hat nicht funktioniert.
Es gibt natürlich unterschiedliche Gründe, warum wir heute nur zu dritt waren (Danke Elisa Beth und Elmar fürs Kommen!). Wien bietet an Samstagen – besonders wenn das Wetter schön ist – unglaublich viele Möglichkeiten.
Doch als ich in den ersten zwei Stunden so alleine auf meiner Decke lag, kamen mir auch andere Gedanken in den Kopf, woran es womöglich liegen könnte:
“Wer glaubt in nur einem Monat jene, die jahrelang von Mindestsicherung leben, verstehen zu können, der ist nur ein Clown, einer, der uns nicht ernst nimmt. Wir lassen uns nicht verarschen!”, denken sich vielleicht manche, die es tatsächlich betrifft.
Die “politischen Gefangenen” halten mein “Experiment” sowieso für unnötig, denn es gibt nur eine Sache, die hilft: One solution, Revolution!
Besonders von meinen linken Freundinnen und Freunden spürte ich in den letzten Wochen eine merkliche Distanzierung. “Da Wögerer macht auf heiligen Samariter und konzentriert sich auf Symptombekämpfung”, dürften sich vielleicht einige denken.
Mir wird immer klarer, wie groß die Distanz ist zwischen jenen Menschen, die die Welt verändern wollen und jenen, die hier und jetzt konkrete Unterstützung brauchen, um ein halbwegs gutes Leben führen zu können.
Gerade politischen Bewegungen würde es meines Erachtens aber gut tun nicht nur die Zukunft erschaffen zu wollen, sondern auch in der Gegenwart anzupacken und die Situation der heutigen Opfer des Kapitalismus besser zu kennen und praktische Lösungen anzubieten.
Kurz nach 11 Uhr war ich heute beim Foodpoint – Dein Sozialmarkt, Alexander war – wie immer – zur Stelle und ich durfte ein paar Sachen fürs Picknick mitnehmen. Schnell noch einen Kaffee um 1 Euro und dann ab zum Südwindfest. Beim “Billa” am Campus hab ich insgesamt noch 8,05 Euro ausgegeben. Eigentlich hätte ich heute sogar 20 Euro eingeplant. Der erste Tag, an dem ich ungewollt gespart hab. Wir feiern ein andermal. 40,67 Euro hab ich noch für 4 Tage.
Die bisherigen Tagesnotizen:
31 Tage Mindestsicherung – Eine Annäherung (30.4.)
Tag 1 – Kein Spiel! (1.5.)
Tag 2 – Konsumgesellschaft (2.5.)
Tag 3 – Öffentlichkeit schaffen! (3.5.)
Tag 4 – Lebensrealitäten (4.5.)
Tag 5 – Freundschaft (5.5.)
Tag 6 – Netzwerke (6.5.)
Tag 7 – Kein Märchen (7.5.)
Tag 8 – Befreiung (8.5.)
Tag 9 – Nachhaltigkeit (9.5.)
Tag 10 – Durchatmen (10.5.)
Tag 11 – Lebenserwartung (11.5.)
Tag 12 – Exklusiv (12.5.)
Tag 13 – Soziale Hängematte (13.5.)
Tag 14 – Sigi, du fehlst! (14.5.)
Tag 15 – Halbzeit (15.5.)
Tag 16 – Beim Frisör (16.5.)
Tag 17 – Für Lisa (17.5.)
Tag 18 – Hunger auf Kultur (18.5.)
Tag 19 – Gratis-Essen für alle (19.5.)
Tag 20 – Wenn ich Sozialminister wäre (20.5.)
Tag 21 – Grundbedürfnisse (21.5.)
Tag 22 – Planung (22.5.)
Tag 23 – Helfen und reden (23.5.)
Tag 24 – Mobilität (24.5.)
Tag 25 – Hotel Mama (25.5.)
Tag 26 – Wien, Stadt der Gegensätze (26.5.)
Foto: Wokandapix; pixabay.com; Creative Commons CC0.
Michael Wögerer ist ein Journalist aus Wien. Er ist Mitbegründer und Redakteur von „Unsere Zeitung – Die Demokratische“, einem Kooperationspartner von Neue Debatte, war bei der Austria Presse Agentur und schreibt über Gewerkschaften, Soziales, Lateinamerika, Fußball und Liebe.