Unser Autor Dr. Christian Ferch beschäftigt sich nicht nur mit Philosophie, sondern setzt sich auch mit den Highlights und Abgründen der menschlichen Psyche auseinander. Frank Willenstein sprach mit ihm in Berlin über den heutigen Narzissmus im Netz, über Rausch, Gewalt und das ewige Gefummel an den geistigen und intellektuellen Funktionen des Menschen.
Frank Willenstein: Herr Dr. Ferch, lassen Sie uns gleich ins Thema einsteigen. Was halten Sie vom Narzissmus?
Dr. Christian Ferch: Narzissmus ist als Begrifflichkeit in der heutigen Diskussion völlig überbewertet. Er wird viel zu schnell pathologisch gesehen, und dabei wird übersehen, dass es einen gesunden Narzissmus, eine gesunde Selbstliebe gibt, die, wenn jemand sich selber mag und sich vielleicht ein wenig über die Maßen darstellt gleich pathologisch, also als krankhaft interpretiert oder diagnostiziert wird. Ich denke, dass in der Gesellschaft dieses Gefummel einfach mal aufhören sollte, und man sehen muss, tiefgründig und psychoanalytisch, was hinter dem Begriff Narzissmus wirklich steckt.
Sie reden von Gefummel. Was meinen Sie mit damit?
Die Computer haben uns gelehrt, dass wir alles berechnen können. Und das wird getan. Durch den Tenor der Berechenbarkeit, auch in Bereichen wie der Psychologie und Soziologie, soll der Mensch in allen seinen Facetten berechnet und unbedingt in feste Schemata eingeordnet werden. Das Einzigartige weicht dem Konzept der Routine. Das Basteln der Menschen an sich selbst, die gesunde Selbstverliebtheit also, in Verbindung mit der Leichtigkeit der Selbstdarstellung über das Internet, das Ungesunde, spielt dem in die Hände. Es werden Bewegungs- und Persönlichkeitsprofile ja nicht nur im echten Leben erstellt, sondern vor allem im Netz wird jeder Nutzer durch Trackingsoftware und sonstige Hilfsmittel verfolgt, seine Handlungen erfasst und seine Verbindungen durchstöbert. Der Mensch sitzt freiwillig im Glashaus und wird selbst zu Glas. Schauen Sie sich Facebook an. Es gibt Psychoprogramme, so nenne ich die, die das Nutzungsverhalten beobachten und die Folgehandlungen berechnen sollen. Das meine ich mit dem Begriff des Gefummels.
Haben derartige Diagnostiken auch mit Gewalt zu tun?
Ja, das ist ganz richtig. Diese Diagnostik ist Gewalt. Ich war selbst einmal in einer Lebensphase, da habe ich gedacht, jedes Substantiv sei schon Gewaltanwendung. Das hat mit meiner sprachlichen Sensitivität zu tun, was ich heute teilweise etwas anders sehe. Gewalt ist so, dass sie zweigeteilt ist, dass es physische und psychische Gewalt gibt. Da können wir als Gesellschaft von der feministischen Bewegung der neunziger Jahre sehr viel lernen. Das bedeutet, es gab und gibt Gewalt durch Sprache, Gewalt durch Kommunikation, und was dabei herauskommt, sah man in der Vergangenheit und sieht man in der Gegenwart. Die Staatsoberhäupter oder Politiker beleidigen sich, es entstehen individuelle Konflikte und am Ende gehen ganze Nationen aufeinander los. Durch ein falsches Wort kann ein Krieg entstehen und können die Panzer rollen. Das sind die Auswüchse.
Gewalt entsteht ja oft genug unter dem Einfluss von Drogen. Alkohol, die gesellschaftliche Droge Nummer 1, ist da ganz an der Spitze. Welche Meinung haben Sie dazu?
Alkohol entfesselt und enthemmt. Triebe und unbewusste Gefühle, die wir in uns haben, treten durch Alkohol und andere Drogen zutage. Das Innere kehrt sich nach außen und entlädt sich. Schwelende innere Konflikte, die normalerweise schon im Alltag zur Gewaltanwendung führen würden, und das muss keine körperliche Gewalt sein, unterdrücken wir, weil andere, teilweise viel banalere Dinge für uns wichtiger erscheinen, vielleicht einkaufen zu müssen, den Abwasch machen zu müssen oder unsere Wohnung zu saugen. Das Verdrängte, die unbewussten Gefühle treten im langsam aufziehenden Rausch hervor und lösen Handlungen aus. Und das können beleidigende Worte sein, Drohgebärden, Vandalismus, der Schlag mit der Faust, jede Form von Gewalt ist dann möglich, aber nicht zwingend.
Unbewusste Gefühle. Was meinen Sie damit genau?
All das, was die angeblich gesunde Psyche verdrängt, ins Unterbewusste, ins Hinterbewusste verschiebt, und uns sagt: “Nein, hör’ mal zu, du bist jetzt zu empfindlich, das ist nicht so wichtig” und so weiter und so fort, die treten durch Rauschmittel verstärkt hervor. Diese Rauschmittel, von denen der Alkohol eines ist, sind auch imstande die Konzentration auf eine Emotion, in diesem Fall auf Gewalt, zu kanalisieren und auszudrücken. Es kommen Dinge ans Licht, die sonst untergehen würden. Die können teilweise sogar positive Elemente in sich tragen. Nicht umsonst gibt es viele Künstler und Schriftsteller, die hauptsächlich im Rausch produzierten. Ernest Hemingway, Truman Capote oder Charles Bukowski sind da nur ein paar Beispiele von vielen. Sie sollten uns aber auch eine Mahnung sein, weil das Destruktive immer die Oberhand gewinnt. Wenn wir über Alkohol sprechen, sprechen wir über eine legale Droge, die Menschen enthemmt und die Gewalt förmlich aus ihnen herauskitzeln kann. Auf der anderen Seite sind Drogen wie Cannabis oder psychedelische Pilze strengstens verboten. Das klingt wie ein Plädoyer, möchte es aber nicht sein, sondern ein Hinweis auf das eigentliche Problem: Wir wissen nicht, welches Tier in uns lauert und unter welchen Voraussetzungen es ausbricht. Da braucht man keine Drogen. Vielleicht reicht ein Satz oder sogar nur ein Wort, oder einfach der Umstand, eine Machtposition gegenüber einem anderen zu haben, der diese Position nicht antasten kann. Nehmen Sie die Arbeitswelt, da findet sich das zuhauf.
Sie meinen verbale Gewalt?
… die, die als solche empfunden und beantwortet wird. Das lässt sich bei der Kommunikation zwischen Vorgesetzten und Untergebenen beobachten und bei Streitgesprächen im alltäglichen Leben. Selten kommt es zu gemeinsamen Lösungen, meistens wird sich einfach durch bestehende Macht- und Abhängigkeitsverhältnisse durchgesetzt. Da kann sich bei demjenigen, der ständig unterlegen ist und dadurch unterdrückt wird, unheimlich viel Frust aufbauen. Irgendwann schließt sich der Kreis und die negative Energie, die sich angesammelt hat, entlädt sich, so wie ich es vorhin schon beschrieben habe. Aber in welcher Form, kann man nicht sagen.
Glauben Sie, dass zu einer Diskussion, wenn man eine Diskussion führt, dass es besser ist, wenn man sich selber kennt oder dass man seinen Gegenüber einschätzen kann? Was glauben Sie hat Priorität bei einer Diskussion?
Ich denke, man sollte zunächst sich selber sehr gut kennen, bevor man sich auf eine ernsthafte Diskussion einlässt. Wer gewinnen will, versucht den anderen zu kennen, um seine Schwächen auszumachen und ihn zu schlagen und niederzureden. Wer sich selber kennt, der weiß um eigene Schwächen, der ist gefestigt in seinem Charakter und seiner Persönlichkeit und hat es dann einfach nicht nötig, aufzutrumpfen und andere niederzumachen. Ein jeder, der ernsthaft diskutieren will, sollte zunächst einmal sich selber kennen, um dann dazu imstande zu sein, den anderen und seine Argumente kennenzulernen. Alles andere sind verbale Machtspielchen, verbale Gewalt oder wechselnde Monologe, wie man sie in politischen Talkshows erleben kann. Gerade dort wird jede Diskussionskultur gekillt.
Es geht um Vertrauen?
Ja, um das Vertrauen in sich selbst und dann in andere.
Also sagen Sie, dass Vertrauen darauf aufbaut, dass erst wenn ich mir selber vertraue, ich auch anderen Menschen vertrauen kann. Ist das richtig?
Ja. Was das Menschliche und Geistige betrifft, auf jeden Fall. Selbstvertrauen hängt ja auch eng zusammen mit dem Selbstbewusstsein. Das heißt, wenn ich mir meiner selbst bewusst bin, wie gesagt, mit all meinen Schwächen, kann ich mir selber trauen und kann eine Welt aufmachen, in der das gute Argument, die Menschlichkeit usw. vielleicht obsiegt. Ob mein Gegenüber dann genauso gestimmt ist, das kann ich herausfinden, das ist aber ein anderes Thema. Für mich steht an erster Stelle, sich selber sehr gut zu kennen, und sich selber zu vertrauen, dann kann man diskutieren und die Gewalt wird zumindest von der eigenen Seite aus reduziert.
Das war ein sehr schöner Schlussatz. Ich freue mich auf unser nächstes Gespräch. Danke schön, Herr Dr. Ferch.
Ja, bitte, gerne.
Foto: Dimitris Vetsikas; pixabay.com; Creative Commons CC0.
Dr. Christian Ferch studierte Linguistik, Philosophie und Religionswissenschaft mit den Schwerpunkten Semantik, Kommunikationstheorie und Religionskritik. Er war Chefredakteur der Studentenzeitung „Die Spitze“ und schrieb seine Dissertation unter dem Titel „Elemente einer allgemeinen Kommunikationstheorie“ an der Freien Universität Berlin. Christian Ferch veröffentlicht zahlreiche philosophische Texte auf seiner Homepage. Im Podcast Philosophie Heros reflektiert er auf gesellschaftliche Aspekte aus dem Blickwinkel der Philosophie und der Kommunikation.