Das Zeitalter der Nationalstaaten ist vorbei. Weltkonzerne und Finanzplätze haben sich verselbstständigt. Sie agieren global ober- und außerhalb der Nationalstaaten, die nur noch der Spaltung und Disziplinierung der Weltbevölkerung dienen. Das haben große Teile der konservativen Linken nicht bemerkt. Sie verharren wie mumifiziert in ihrer Retrowelt vergangener Parteien- und Nationalkämpfe und ihrer liebgewordenen Auseinandersetzungen um die spärlichen Brotkrumen vom Tisch der Herrschenden. Der Lauf der Welt hat sie längst abgehängt.
Die Diskussion über die inhaltliche Ausrichtung der G-20-Proteste in Hamburg hat Grundfragen des linken Spektrums hochgespült. Hinzu kommt momentan die Problematik, wie man von linker Seite mit den bevorstehenden Bundestagswahlen umzugehen hat.
Beides verlangt danach, sich grundlegend mit dem Zustand der politischen Linken in Deutschland zu beschäftigen, aber auch einen kritischen Blick auf die Weltanschauung zu werfen, die von großen Teilen des konservativen linken Spektrums vertreten wird.
Ein solches Anliegen kann nur anhand einer illusionslosen Beurteilung der heutigen Weltlage erfolgen. Es wird sich dabei zeigen, dass eine mangelhafte ökonomisch-historische Analyse gepaart mit halbherziger Vergangenheitsbewältigung maßgebliche Teile der Linken in alten Konzepten verharren lässt – sie ist politisch mumifiziert.
Wir erleben, wie die Partei DIE LINKE Stück für Stück in das herrschende politische System hineingezogen wird. Die Art, wie diese Partei immer mehr faule Kompromisse zwecks „Regierungsfähigkeit“ und Akzeptanz im bundesdeutschen Politzirkus eingeht, hat seine historischen Vorläufer und aktuellen grünen Parallelen.
Immer weitergehender wird eine notwendige und eindeutige antikapitalistische Positionierung ausgeblendet. Der Sog der auf Kapitalbesitz basierenden und gesteuerten „freiheitlich-demokratischen, parlamentarischen Grundordnung“ lässt sie vergessen, dass man Kapital nicht abwählen und kapitalistische Ausbeutung nicht wegregieren kann.
Mediale Argumente und strategische Motive
Beschäftigen wir uns zunächst mit einer aktuellen Nachlese zu den G-20-Protesten. In dem Artikel „Linke und Liberale gegen G20 – wie sich die Argumente gleichen“ vertritt der frühere Mitherausgeber der „Zeitschrift für Sozialistische Politik und Wirtschaft – spw“ und Gründer des Marx-Engels-Zentrums Berlin Andreas Wehr zum wiederholten Mal die Position, Linke und Liberale hätten in das gleiche Anti-G20-Horn geblasen.
Die Linken hätten profillos nach der Pfeife von liberalen Leitmedien getanzt, die schon lange vor dem Gipfel das „Drehbuch für die G20-Proteste“ geschrieben und „die Linie der Kritik“ vorgegeben hätten.
Am Beispiel der „Neuen Züricher Zeitung“ macht Andreas Wehr deutlich, dass in dieser schweizerischen Zeitung nichts steht, was nicht „ein strategisches Ziel verfolgt“, und er macht deutlich, dass es dabei um die internationale, strategische Aufstellung der Schweiz geht. Das sehe ich genauso. Nur, warum legt Andreas Wehr diesen gleichen Maßstab nicht an die deutsche Presse an? Warum fragt er nicht nach den strategischen Motiven, die in der deutschen Leitpresse mit deren G-20-Kritik verfolgt werden?
Worauf zielt die bundesdeutsche liberale Leitpresse ab?
Deutschland, als Hegemon von Deutscheuropa – und neben China der größte Gläubigerstaat auf der Welt -, weitet seine strategischen Ambitionen aus, stößt in das Vakuum vor, das die USA auf ihrem Rückzug als Weltführer und Weltpolizist hinterlassen. Das tun die USA nicht freiwillig, sondern aus einer Position der Schwäche heraus. Sie können ihre bisherige Rolle weder ökonomisch noch politisch-militärisch durchhalten. Wir befinden uns in einer explosiven Zeit weltweit verschärfter Konkurrenz- und Machtkämpfe und Umgruppierungen.
Solche Zeiten gab es in der Geschichte schon früher, zum Beispiel Ende des 19. Jahrhunderts, als sich in der „unipolaren Welt“ einer imperialistischen englischen Supermacht das Deutsche Kaiserreich und die damalige USA für eine „multipolare Welt“ starkmachten: Sie forderten ihren „Platz an der Sonne“ in einer neu aufzuteilenden Welt ein.
Auch damals wurde in Deutschland der Wahnsinn einer „gerechter aufzuteilenden Welt“ propagiert, damit die aufstrebenden Mächte auf Augenhöhe „gleichberechtigter“ und „multipolarer“ mit der damaligen Supermacht, dem Britischen Empire umgehen konnten. Und schon damals gab es in Deutschland einen linken, sozialdemokratischen Block, der es mit der aufstrebenden Macht hielt und ihre massiven Kriegsrüstungen absegnete. Leider irrte man sich schrecklich, denn man hielt zu dem aggressiv nach oben drängelnden Kaiserdeutschland.
Und heute? Auch heute geht es wieder darum, dass Deutschland in der Welt einen neuen angemessenen „Platz an der Sonne“ bekommt, zum Beispiel im UN-Sicherheitsrat. Auch heute fordert die deutsche Machtstrategie eine anders legitimierte Stellung im Weltstaatenzirkus, damit, wie es dann aus der Presse tönt, die deutsche Kanzlerin endlich die Welt retten kann (Merkels „guter Wille, über Klima, Hilfe für Afrika, über die Bekämpfung von Epidemien und mehr Chancen für Frauen“ zu reden – aus Spiegel-Online, zitiert von Andreas Wehr).
Die Leitpresse will keinen Platz Deutschlands in einem nicht legitimierten G20-Round-Table, sondern will für die deutsche Politkaste einen entsprechend deutscher Wirtschaftskraft vollgültigen, legitimierten, Platz im Kreis der politischen Weltbeherrscher.
Die Zeit des Wiederaufstiegs eines geteilten Deutschlands im Windschatten der USA und der Sowjetunion ist längst vorüber. Das vereinte, neoliberale, wieder zur Hegemonialmacht aufgestiegene Deutschland macht Schluss mit seiner pro-amerikanischen Demutshaltung.
Man ist wieder wer und man will seinen Platz. Dieses Ziel aber lässt sich eher – so meint man – über die UNO als über G-20-Politshows verwirklichen. Die informelle, nicht legitimierte G-20-Plattform bringe für ein ambitioniertes Deutschland zu wenig.
Deshalb zieht die deutsche, liberale, staatstragende Presse gegen G-20 zu Felde.
Die ausweglose Lage des globalen Kapitalismus

Geschichtliche Vergleiche hinken immer in vielerlei Gesichtspunkten. So auch der Vergleich mit der Zeit vor dem Ersten Weltkrieg. Damals gab es auf der Welt noch etwas zu erobern und aufzuteilen. Damals war der Kapitalismus auf seinem Weg zum Monopol- und Finanzkapitalismus in voller Blüte und auf einem rasanten Vormarsch.
Nach der Eisenbahn kamen nun Automobil und Luftfahrtindustrie. Es entwickelte sich eine chemische Großindustrie und eine Elektroindustrie gewaltigen Ausmaßes, nicht zu vergessen ein noch gewaltigerer militärisch-industrieller Komplex mit umfassender Flottenrüstung und chemisch-landgestützter Rüstungsspirale.
Das hat sich heute grundlegend verändert. Der Zweite Weltkrieg hat die Ökonomie der Welt auf null zurückgebombt. Produktionsanlagen und Infrastruktur waren zerstört; die Arbeitskräfte zu Millionen umgebracht; die USA mithilfe des nuklearen Massenmordes in Japan zur weltumspannenden Supermacht aufgestiegen.
Und so legte der Weltkapitalismus von Neuem los und hat Folgendes bewirkt:
(1) Er hat die Herrschaft des Kapitals in den folgenden 70 Jahren nach Ende des Zweiten Weltkriegs bis in jeden Winkel der Welt vorgetrieben und in jede Form des menschlichen Daseins und menschlicher Regung eingepflanzt.
(2) Er hat die Welt lückenlos mit Monopolgesellschaften und Finanznetzwerken überzogen, für die es keine menschliche Moral und Ethik mehr gibt, sondern nur noch Verwertungsprobleme von Kapital und den Run nach immer seltener werdenden profitträchtigen Anlagemöglichkeiten.
(3) Er ist allseits an die qualitativen und vermehrt auch die quantitativen Grenzen von Wachstum gestoßen, an denen das Kapital nach seiner eigenen Logik nicht mehr funktionieren kann und nichts Sinnvolles und dringend Notwendiges mehr zustande bekommt.
(4) Durch die globale Börsen- und Bankenvernetzung und die gegenseitige, hierarchische Kapitaldurchdringung aller Länder besteht nicht mehr eine realistische Chance, durch Weltkriege, wie sie nur zweimal auf einem bestimmten Stand der Entwicklung des Weltkapitalismus funktionieren konnten, einem finalen Breakdown zu entkommen. Der berüchtigte Dominoeffekt besteht auf allen Ebenen. Fällt zum Beispiel nur eine einzige der Weltbörsen aus, sagen wir in Tokio nach einem Erdbeben, kippen alle anderen Börsen und bricht die Weltwirtschaft zusammen. Jeder große Krieg bedeutet automatisch das Ende der bekannten Welt, in der man zumindest auf Teilen der Welt, noch halbwegs vernünftig leben kann.
(5) Die Welt wird nur noch vordergründig von Präsidenten, Regierungen und Politikern regiert. Die wahren Mächtigen und „Weltenlenker“, die vorgeben, wo es langgeht, sitzen heute oberhalb und unerreichbar von einzelnen Staaten, Institutionen und deren Jurisdiktion in einem monopol-und finanzkapitalistischen Olymp. Dieses Walhalla ist bevölkert von den Spitzenbankern der vernetzten Großbanken dieser Welt, von den Vorständen und Aufsichtsratsvorsitzenden multinationaler Monopolgesellschaften, von Medientycoonen, Ölscheichs und Oligarchen jeder Couleur bis hin zu Drogenpaten. Die Göttermütter und -väter in diesem Olymp sind die über allem thronenden, privaten Besitzerclans und Dynastien dieses Finanzhimmels, für die ihr unübersehbarer privater Kapitalbesitz vor allem eines bedeutet: Macht. Einzelmacht als Hauptgott und olympische Kollektivmacht über Menschen, Länder und Staaten.
(6) Die letzte Zuflucht für den zusammenbrechenden Weltkapitalismus ist die Cyberwelt eines sinnentleerten Finanzkapitalismus, in der sogenannte „Finanzprodukte“ verzockt werden, in denen Fiatgeld jeglichen Bezug zur wirklichen Welt und wirklichem Wert verloren hat. Es hat sich eine ungeheure Schere zwischen unproduktivem, gehortetem und verzocktem Reichtum und einer fürchterlichen Armut auf diesem Planeten aufgetan. Immer größere Teile der Welt brechen zusammen; ihre Arbeitsgesellschaften kollabieren; ihre korruptionszerfressenen Staaten werden Beute von Rauschgiftbanden, religiösem und offen primitivstem Bandenterror. Die Menschen werden zu Subsistenzwirtschaft gezwungen, mit der sie sich kaum am Leben halten können.
(7) Diese „outgesourcten“ Gebiete auf der Welt und deren Bewohner werden von den Metropolen als überflüssiges, nicht einmal mehr ausbeutbares Menschenmaterial abgeschrieben. Sie werden sich selbst überlassen und der „biologischen Lösung“ durch Hungerkatstrophen, Epidemien und Lagerelend in riesigen Slumgebieten überlassen. Wer sein Heil in der Flucht in die Metropolregionen sucht, wird auf der Flucht umgebracht durch Ertrinken lassen im Meer, durch KZ-artige Lagerinseln im Mittelmeer oder durch Zurückschicken in ihre explosiven und lebensgefährlichen „Schurkenländer“. Die Welt des noch halbwegs funktionierenden Kapitalismus in der Phase seines Niederganges wird immer kleiner und eingekreister.

(8) Der hochgezüchtete, monopolistische Kapitalismus vernichtet sich unumkehrbar selber, indem er den für seine Weiterexistenz absolut notwendigen Kapitalgesamtkreislauf zerstört. Der Verwertungsprozess von Kapital besteht aus zwei Schritten: aus der kapitalistischen Produktion von Waren durch arbeitende Menschen und der anschließenden Distribution selbiger, das heißt, durch den Verkauf der Produkte auf Märkten an konsumierende Menschen. Der Kapitalismus funktioniert nur in der Doppelrolle der Menschen als Produzenten und Konsumenten. Der heutige Stand der Produktivkräfte ermöglicht weitgehende technisch-elektronische Rationalisierung und Roboterisierung der Produktionsabläufe. Die Maschine wird zum Taktgeber und ersetzt schließlich den arbeitenden Menschen bis auf wenige, hoch spezialisierte Experten. Diese Entwicklung durchdringt heute auch schon die Dienstleistungssektoren der Gesellschaft. Arbeitsplätze fallen ersatzlos fort und können heute nicht mehr durch Strukturreformen ausgeglichen werden, da dieser Prozess überall läuft und neue Branchen nicht mehr entstehen. Immer mehr Menschen werden ökonomisch überflüssig, verarmen im Heer der Arbeitslosen mit der Folge, dass die maschinenproduzierten Waren nicht mehr gekauft werden können. Der Kapitalismus schrottet sich selber und reißt die Bevölkerungen mit in den Abgrund.
(9) Gleichzeitig gibt es natürlich genug Arbeit auf der Welt, um alle die existierenden Probleme, Defizite, und Bedürfnisse der Menschen angehen zu können. Gleichzeitig gibt es eine Menschheit, die noch nie so gut ausgebildet und arbeitswillig war wie heute. Es gab noch niemals so viele wissenschaftliche Ansätze, Projekte, Pläne und Erfahrungen, um die Sanierung der Welt, der planetaren Natur und der Lebenswelt der Menschen anpacken zu können. Das Hauptproblem ist, dass uns der Kapitalolymp nicht arbeiten lässt, weil wir ihnen nicht profitabel genug arbeiten. Sie verhindern alles, was nicht ihrer angestrebten Profitrate entspricht.
Das also ist die Situation der Menschheit auf dem endlichen Planeten Erde.
Der Zusammenbruch des Kapitalismus mit seinen fürchterlichen Begleitumständen hat bereits in vielen Regionen der Welt eingesetzt und hat, was Klima und Umwelt angeht, bereits schon einiges an nur noch schwer zu bereinigendem Unheil angerichtet. Keine einzige Frage, kein einziges politisches, diplomatisches und zwischenstaatliches Problem und erst recht nicht so etwas wie die G-20-Politshow kann realistisch analysiert und beurteilt werden, wenn man diese Lage der Welt und des Kapitalismus ausklammert.
Wenn man nicht wahrhaben will oder nicht mitbekommt,
• dass heute der Kapitalismus generell und seine Existenzform in Nationalstaaten, feindlichen Wirtschaftsblöcken und politischen Machtallianzen am Ende seiner Entwicklung und Existenz angekommen ist,
• dass alle die Konkurrenz und gegenseitigen Bedrohungen nicht aus einer Position der Stärke heraus erfolgen, sondern, am Beispiel der USA besonders deutlich, eher dem gefährlichen um sich Beißen eines angeschossenen mächtigen Tieres ähneln,
• dass der Finanzolymp als Ganzes mit seinen Vertretern, Politlakaien, Statthaltern und Wissenschaftspriestern in allen Ländern der Feind der Menschheit ist – unabhängig davon, wie sie sich im Olymp prügeln, gegenseitig anscheißen, bedrohen und austricksen,
• und, dass schließlich – durch die Bank – für alle die vielfältigen, bunten und gleichberechtigten Bevölkerungen der Welt gelten muss: „Grenzenlose Solidarität zwischen uns gegen olympische G-20“,
wenn man also das alles ausblendet, braucht man politische Scheuklappen, offenbart man doch eine Weltanschauung, die offenbar in der Vergangenheit hängen geblieben ist.
Das zurückgebliebene Weltbild beim Großteil der heutigen Linken

Wie sieht das Weltbild von Linken aus, die die G-20-Staaten in eine zu bekämpfende und eine zu unterstützende Fraktion aufteilen?
Im Rahmen eines G-20-Treffens filtern sie die westlichen G-7-Staaten – die Täter – heraus. Ihre Solidarität aber gilt den „Opferstaaten“ von deren aggressiver Politik, wozu sie Russland, China, Brasilien, Indien, Südafrika, Mexiko (oder auch die Türkei?) zählen.
Im Besonderen gelten ihre Sympathien Russlands Wladimir Putin und Chinas Xi Jinping, die zum Beispiel nach Meinung von Andreas Wehr schließlich mit keinerlei Kriegen, Vertreibung, Rassismus, Klimawandel und sozialer Spaltung – mit dem menschlichen und sozialen Desaster auf der Welt – etwas zu tun haben. Also nicht mehr wie in den 1960ern „Ho-Ho-Ho-Chi Minh“ sondern „Xi-Xi-Xi Jinping“? Nicht mehr „Hoch die internationaaale Solidarität“, sondern „Hoch die multipolaaare Welt“?
Die Theorie von der friedlicheren “multipolaren Welt”
Es macht an dieser Stelle wenig Sinn, den monopolistischen Finanzkapitalismus einer Nomenklatur gesteuerten, oligarchischen Herrschaftselite Russlands und Chinas zu erklären. Wer die heute noch für sozialistische Länder hält, dem ist eh nicht mehr zu helfen.
Ich frage mich, welche ideologischen Scheuklappen Linke davon abhalten, die globalisierte, bis in die letzten Winkel der Erde durchkapitalisierten Herrschaftssysteme am Ende ihrer objektiven systemischen Entwicklungsmöglichkeiten wahrzunehmen.
Ich frage mich, weshalb man offenbar nicht akzeptieren kann, dass die Politiker und Machthaber Russlands und Chinas Bestandteil der menschheitsfeindlichen, monopolistischen und finanzkapitalistischen Welt sind und weshalb man die Kennzeichnung der heutigen Welt als „kalt und grausam“ durch den G-20-Demonstrationsaufruf als banal und Allerweltskennzeichnung abtut.
Ich frage mich, weshalb Linke offenbar grundlegende und analytische Einschätzungen, wie ich sie oben unter den Punkten 1-9 über die Lage der Welt wiedergegeben habe, ignorieren und uns dafür das Politmärchen von der friedlichen, Demokratie anstrebenden „multipolaren Welt“ auftischen.
Die ideologischen Wurzeln in der 68er-Studentenbewegung
Diese Theorie der multipolaren, friedlicher werdenden Welt fällt nicht vom Himmel, sondern hat seine ideologischen Wurzeln in der Geschichte der deutschen Linken, die in ihrer Diversität auf die Studentenbewegung der 1960er und 70er-Jahre und auf die weltweite Widerstandsbewegung gegen den Vietnamkrieg zurückreicht.
Im Laufe von 10 Jahren zerfaserte diese damalige Linke in eine Bandbreite, die über im Staat Karriere machenden Studentenführern linkssozialdemokratischer, ehemaliger SDS-Prominenz bis zur RAF als Vorhut-Stadtguerilla gegen den Staat reichte. Die Ersteren mutierten zu den obersten Wächtern der deutschen Kapitalistenwelt wie Gerhard Schröder und ein sich staatsmännisch wichtigtuender Joschka Fischer.

Die Mitglieder der RAF ihrerseits lieferten als wild gewordene politisierte Kleinbürger dem Staat den Vorwand zum Schulterschluss von arbeitender Bevölkerung und herrschender Elite sowie polizeistaatlicher Ausrichtung der Gesellschaft.
Alle gesellschaftlichen Kräfte und politischen Richtungen waren in diesen Jahrzehnten von der Weltanschauung einer „bipolaren Nachkriegswelt“ geprägt, die aus dem „multipolaren Zweiten Weltkrieg“ hervorgegangen war. Der westliche und der östliche Pol rangen in einem angeblichen Wettstreit der Systeme mit allen Mitteln miteinander und nannten es „Kalten Krieg“. Der politische Standort ergab sich daraus, welcher Seite, welchem Pol man sich zugehörig fühlte und aktiv unterstützte.
Bei allen Differenzen, welchem Teil des sozialistischen Lagers man sich jeweils verbunden fühlte, war sich diese Linke in zwei Punkten einig, die ihren Zusammenhalt begründeten:
- Die Feindschaft gegen den US-Imperialismus und die westliche, alles beherrschende Supermacht USA.
- Die Akzeptierung des west-östlichen Blockdenkens, wobei der östliche, als sozialistisch und zukunftsweisend angesehene Block, die Sympathien und die aktive Unterstützung der Linken hatte.
Es gibt keinen Wettstreit der Systeme in der Epoche der Klassengesellschaften
Es hat sich inzwischen herausgestellt, dass es keinen „Wettstreit der Systeme“ gegeben hat! In Wahrheit handelte es sich um einen Wettstreit der geschicktesten und historisch modernsten Methoden der Ausbeutung, sprich Abkassierung der arbeitenden Menschen durch eine herrschende, privilegierte, die ökonomische und politische Verfügungsgewalt über die Gesellschaft beanspruchende, also herrschende Minderheit – denn nichts anderes war im historischen Vergleich die Parteielite und privilegierte Nomenklatura der sogenannten sozialistischen Staaten.
Die „Systemfrage“ wurde bereits von circa 5000 Jahren entschieden, als die menschliche Gesellschaft zivilisierte Staaten herausbildete, in denen herrschende Klassen als gesellschaftliche Parasiten durch unterschiedlichste Methoden die arbeitenden, das gesellschaftliche Leben reproduzierenden unteren Wirtsklassen dazu zwangen, die erarbeiteten Überschüsse ohne Gegenleistung abzuliefern.
Ab diesem Zeitpunkt ging es in der historischen Zeit immer nur noch um einen Wettstreit der Ausbeutungsmethoden, die von unterschiedlichen herrschenden Klassen entwickelt und angewendet wurden.
Historische Parallelen zum ehemaligen “sozialistischen Lager”

Was als sozialistisches Lager firmierte, ähnelt historisch-strukturell den ersten, frühesten Klassen- und Ausbeutungsstaaten, den Gottkönigtümern an Euphrat und Tigris und am Nil.
Sie kannten noch nicht das Privateigentum westlicher Prägung, das eine Erfindung der Griechen und Römer werden sollte. Die Ausbeutung erfolgte durch Kollektivverfügung von Priester- und Kriegerkasten über die Produktion und Verteilung der Güter.
Planwirtschaftliche Organisation der Arbeit von Königsbauern in fruchtbaren Flusstälern, monopolisierte Tempellagerhaltung und dosierte Verteilung der Güter an die Bevölkerung kennzeichneten diese frühe Epoche der Klassengesellschaft, die erstaunlich viele Parallelen zu dem ehemaligen planwirtschaftlichen Vorgehen mit genormter Ablieferungspflicht der östlichen Volkswirtschaften aufzuweisen hat.
Die Kaderpartei der „Diktatur des Proletariats“ vereinigte sowohl die Ideologie tragende Priesterkaste als auch die frühere aristokratische Königselite des Herrscherpalastes in sich.
Personenkult und Pseudoreligion um die Partei
Der Personenkult um die angeblich unfehlbaren Führungsfiguren des „sozialistischen Lagers“ war nichts anderes als eine moderne Variante des früheren Gottkönigtums beziehungsweise auch des Unfehlbarkeitsdogmas des katholischen Papstes.
Es handelte sich um eine Pseudoreligion von der Partei und der Unfehlbarkeit gottgleicher „Klassiker des Marxismus-Leninismus“:
Marx, Engels, Lenin, Stalin und Mao Tse-tung, wobei je nach politischer Richtung dieser oder jener Klassiker – mal Lenin, mal Stalin, mal Mao, mal auch alle drei – fehlen konnten. Nur Marx und Engels konnten sich gegen diesen Missbrauch nicht mehr wehren.
Wer das übertrieben findet, den frage ich: Kennt ihr noch das „Lied von der Partei“? Ich selbst habe diesen pseudoreligiösen, verklärenden Unsinn in jungen Jahren mitgeschmettert und ich glaube, manch ein Altgenosse in der Partei DIE LINKE, der DKP, Rote Fahne, MLxx, etc. bekommt bei dem Lied immer noch eine Gänsehaut und feuchte Augen. Dagegen können auch historische Fakten und die ungeschminkte Wahrheit wenig ausrichten:
Sie hat uns alles gegeben, Sonne und Wind und sie geizte nie.
Und wo sie war, war das Leben, und was wir sind, sind wir durch sie.
Sie hat uns niemals verlassen, wenn die Welt fast erfror, war uns warm.
Uns führte die Mutter der Massen, es trug uns ihr mächtiger Arm.
DIE PARTEI, DIE PARTEI die hat immer recht, Genossen es bleibt dabei,
Denn wer für das Recht kämpft, hat immer recht gegen Lügen und Ausbeuterei.
Wer das Leben beleidigt, ist dumm oder schlecht, wer die Menschheit verteidigt, hat immer recht, denn aus Lenin’schem Geist wächst von Stalin geschweißt, DIE PARTEI, DIE PARTEI, DIE PARTEI.
Der Wettstreit der Ausbeutungsmethoden wurde vom Westen gewonnen, der anschließend ab den 1990ern neoliberal jede Hemmung und alle Skrupel fallen lassen konnte.
Ich glaube, dass heute noch viel von dieser konservierenden, also konservativen Weltsicht von einem fortschrittlichen, sozialistischen Lager um Russland und China in der linken Psyche überwintert hat, inklusive der Partei als Führerin der sozialistischen Nation.
Es lässt sich nicht mehr leugnen, dass Russland und China heute monopol- und finanzkapitalistische Länder westlichen Zuschnitts sind, und dass sie niemandem mehr als sozialistisch verkauft werden können. Wenn man aber trotzdem an der Tradition des fortschrittlichen, friedfertigen, Aggressionen abwehrenden Lagers verhaftet bleibt, muss man etwas scheinbar Neues erfinden, nämlich die Nachfolgetheorie von der anzustrebenden „multipolaren Welt“.
In ihr neutralisieren dann aufstrebende Pole, sprich Machtzentren, das westliche Lager mit seiner US-Führungsmacht. Im Grunde läuft das auf ein neues „Gleichgewicht des Schreckens“ hinaus und ist nichts weiter als die Restauration der Verhältnisse des „Kalten Krieges“ – nur, und das wird dabei leider vergessen, unter den Bedingungen des Zusammenbruchs des allen gemeinsamen und alle im Griff haltenden globalen Monopol- und Finanzkapitalismus.
Mit ihrer Theorie von der „multipolaren Welt“ und der friedliebenden, Demokratie anstrebenden, von uns zu unterstützenden G20-Fraktion haben insbesondere Vertreter der konservativen Linken das große Problem, dass alle diese Staaten von herrschenden Eliten, Cliquen, Nomenklaturen, Drogenbanden oder Militärjunten beherrscht werden, die allesamt von Korruption zerfressen, eigentlich in den Knast gehören.
Die Ladenhüterideologie von den Nationalstaaten
An dieser Stelle hilft eine weitere Ladenhüterideologie weiter, nämlich die von den Nationalstaaten und den inneren Verhältnissen dieser angeblich souveränen Gebilde, die ihre Anführer selber bestimmen und in deren innere Angelegenheiten, spricht deren Ausbeutung und Unterdrückung der einheimischen Menschen, wir uns nicht einzumischen haben.
Wenn man diesen Wirtschafts- und Politikkriminellen, Usurpatoren und Autokraten (man denke an Erdogan), das Mäntelchen der fortschrittlichen, friedliebenden multipolaren Gegenkraft gegen den G-7-Westen umhängt, begeht man Verrat an den Bevölkerungen dieser Länder, kollaboriert man „staatsmännisch“ mit ihren Ausbeutern und Unterdrückern, wird man zum nützlichen Politidioten dieser Fraktion des finanzkapitalistischen Olymps.
Es bleibt dabei:
„Grenzenlose Solidarität (von unten mit unseresgleichen überall auf der Welt) statt (die gesamte, zerstrittene, die Welt in den Abgrund reißende Bande der) G20!“
Das Zeitalter der Nationalstaaten ist passé. Alle großen Weltkonzerne und Finanzplätze sind aus dieser Zwangsjacke herausgewachsen und agieren global ober- und außerhalb irgendwelcher Nationalstaaten. Sie benutzen die Nationalstaaten nur noch zur Spaltung und Disziplinierung der Weltbevölkerung.
Nationen und Nationalstaaten sind Erfindungen der historisch siegreichen unternehmerischen Bourgeoisien, die im 19. Jahrhundert Europa parzellierten. Diese Regionen waren im Kern die geografisch und marktmäßig abgesteckten staatlichen Claims bestimmter Kapitalgruppen, um in ihnen die ihnen genehmen wirtschaftlichen und politischen Verhältnisse zu errichteten – in Konkurrenz, Abgrenzung und Kampf mit den übrigen ideologisch aufgeplusterten Nationalgebilden.
Die Menschheit lässt sich nicht in irgendwelche unterschiedlich bewertete und hierarchisierte Nationen aufspalten. Wenn heute von linker Seite die UNO als Weltregierung und Plattform für die Lösung der globalen Probleme hochgehalten wird, so zeigt das nur deren historische Unwissenheit.
Vereinte Nationen (UN) sind ein Widerspruch in sich. Nationen sind ein Zeichen herrschaftlich-bourgeoiser Spaltung der Menschheit. Nationen kann man nicht vereinen, ohne sie aufzulösen und das Zusammenleben auf diesem Planeten völlig neu, gleichberechtigt, herrschaftsfrei und ausgehend von den Lebens- und Organisationsformen freier Menschen überall auf der Welt zu gestalten.
An Hand der Diskussion um G20 in Hamburg wird für mich klar, dass die Positionierung „links“ und „Linke“ jeglichen verbindenden Inhalt verloren hat. Große Teile der Linken, wozu ich ausdrücklich die Partei DIE LINKE zähle, sind in der Geschichte hängen geblieben. Sie sind hängengeblieben und mumifiziert in
- antiquiertem Nationalstaatsdenken,
- altem Blockdenken,
- (Kader-)Parteipolitik,
- parlamentarischen, sie neutralisierenden Systemspielchen;
oder sie sind unfähig
- zu einer zu Ende geführten ökonomischen Analyse des Wirtschaftssystems,
- einer realistischen Expertise über die tatsächliche Weltbedrohung und den planetaren Marsch des Monopol- und Finanzkapitalismus in einen apokalyptischen Abgrund,
- zum Aufbau einer offen und ungeschminkt antikapitalistischen basisdemokratischen Organisation als Teil einer weltweiten Front der Abgrundverweigerer zur Ausschaltung des Finanzkapitals und zum Aufbau alternativer, lebenswerter Gegengesellschaften.
Erhebliche Teile der heutigen Linken sind konservativ geworden, das heißt, der Lauf der Welt hat sie abgehängt. Sie verharren auf dem Stand vergangener Parteien-, National- und Blockkämpfe und traditioneller Auseinandersetzungen um die Vergrößerung der Brotkrumen vom Tisch der Herrschenden, während dieser Tisch aber bereits im Sumpf globalen Zusammenbruchs am Versinken ist.
Es wird Zeit, dass die konservative Linke sich schüttelt und in der wirklichen Welt des finalen Countdowns des Weltwirtschaftssystems ankommt, das allseits an planetare und Systemgrenzen stößt und sich weder reparieren noch demokratisch regulieren lässt. Von inneren Widersprüchen getrieben, bricht es zwangsläufig in einer Kette von Krisen zusammen.
Zugleich befinden wir uns damit im „final breakdown“ der Jahrtausende alten Menschheitsepoche ausbeuterischer Klassengesellschaften.
Selbst die ökonomische Ausbeutung des arbeitenden Menschen wird durch seine sukzessive Ersetzung durch nicht ausbeutbare computergesteuerte Maschinen untergraben und hinterlässt immer größere Bevölkerungen von – nach kapitalistischer Logik – ökonomisch unbrauchbarem Menschenmaterial.
Tatsache ist, dass eine winzige, allmächtige, besitzende und waffenstarrende Minderheit auf diesem Planeten dabei ist, die dünne Lebenssphäre auf seiner Oberfläche kaputt zu wirtschaften und die Menschheit in den ökonomischen, gesellschaftlichen und zivilisatorischen Abgrund zu reißen.
Liebe Linke, beendet den Prozess der Selbstmumifizierung und wacht endlich aus euren reformistischen, linkssozialdemokratischen, parlamentarischen Illusionen und Wahlspielchen auf. Es stehen heute ganze andere, konsequent antikapitalistische Schlussfolgerungen, Aufgaben und Frontstellungen auf der Tagesordnung der Geschichte.
Fotos: Karl Marx, Josef Stalin, Wladimir Iljitsch Lenin, Friedrich Engels (aufgenommen von George Lester etwa 1868) und Kaiser Wilhelm II – alle gemeinfrei sowie Portrait Mao Zedong von Zhang Zhenshi (1914–1992) aufgenommen von Richard Fischer (flickr.com); CC BY 2.0 Lizenz; Xi Jinping von Antilong (Eigenes Werk), CC BY-SA 3.0, https://commons.wikimedia.org/w/index.php?curid=33807498 und Titelbild von Julian Stallabrass (flickr.com), CC BY 2.0.
Reinhard Paulsen studierte in den Jahren 1967-1974 Geschichte an der Universität in Kiel und schloss das Studium mit dem Grad eines Magister Artium ab. Danach verließ er das akademische Intellektuellenmilieu und absolvierte eine Schlosserlehre.
Reinhard Paulsen arbeitete als Betriebsschlosser in einer Aluminiumhütte und wechselte 1977 zu einem weltweit tätigen Konzern der Chemischen Industrie, in dem er 35 Jahre bis zu seinem Ruhestand 2012 angestellt war. Seine Arbeit umfasste Schlosser-, Techniker- und Ingenieursarbeit und Tätigkeiten in der Qualitätssicherung und im Reklamationswesen. In all diesen Jahren war Paulsen basisgewerkschaftlich engagiert: sei es als Vertrauensmann, als Betriebsrat oder in der gewerkschaftlichen Erwachsenenbildung, wobei er persönlich kritische Distanz zum Gewerkschaftsmanagement hielt.
2002 kehrte er nach 28 Jahren und parallel zu seiner beruflichen Tätigkeit an die Universität zurück. Er arbeitete ab 2006 an der Universität Hamburg (Fakultät für Geisteswissenschaften) an einem Promotionsprojekt zu hamburgischer und europäischer Schifffahrt im Mittelalter sowie deutscher Forschungsvergangenheit, das er 2014 mit dem Grad eines Dr. phil. in mittelalterlicher Geschichte abschloss. 2013 und 2014 nahm er Lehraufträge in mittelalterlicher Geschichte an der Universität Hamburg wahr.
6 Antworten auf „Mumifiziert – Die konservativen Linken in Deutschland“
Es wundert mich schon, dass der Autor mit seinen 70 Lebensjahren (ich habe das gleiche Alter) immer noch daran glaubt, dass das kapitalistische Wirtschaftssystem kurz vor dem Zusammenbruch steht. Da sehe ich gewisse Parallelen im Denken der Jehova Zeugen, welche fest daran glauben, dass die Apokalypse vor der Tür steht. Besser als das Warten auf den Zusammenbruch des Kapitalismus und die Erwartung einer danach besseren Weltordnung, erscheint mir der Weg, schon jetzt und gemeinsam mit anderen sympathischen Mitmenschen aus dem Hamsterrad der Produktion überflüssigen Krams und seines Konsums auszusteigen und sich dem kreativen Müßiggang und der Kunst des Lebens zu widmen.
Lieber wulewuu,
Es tut mir meinerseits leid, dass sie mit ihren ebenfalls 70 Jahren immer noch nicht in der Lage zu sein scheinen, einer ökonomischen-historischen Analyse des Ganges der Weltökonomie des Kapitalismus zu folgen, bzw. nicht gewillt sind, in eine ernsthafte wissenschaftlichen Diskussion einzusteigen, anstatt mich übelst (Zeugen Jehovas) anzupöbeln.
Ich kann ihnen im Übrigen ein hervorragendes, analytisches Buch empfehlen
:
Tomasz Konicz, Kapitalkollaps. Die finale Krise der Weltwirtschaft, Hamburg 2016.
Sie müssen sich allerdings durch wissenschaftlich fundierte 277 Seiten durcharbeiten. Schaffen sie das?
Immerhin hat sie der Artikel doch soweit aktiviert, dass sie sich die Mühe einer Antwort gemacht haben – ich befürchte allerdings, weil ihnen der Artikel ein Stück weit ihren „kreativen Müßiggang“ und ihre (sie sei ihnen echt gegönnt) “Kunst des Lebens“ vermiest hat und dafür möchte ich mich bei ihnen entschuldigen. Nichts für ungut,
Ihr
Reinhard Paulsen
,
Aber nein, Reinhard Paulsen, Ihr Artikel hat mir überhaupt nichts vermiest. Mein Vergleich mit den Zeugen Jehovas war, zugegeben, schon als Provokation gemeint, doch Sie zu beleidigen, war nicht meine Absicht.
So, wie es Reinhard Paulsen beschreibt, zeigt sich die Stärke gelebter Demokratie:
Veränderungen in den gesellschaftlichen Verhältnissen lassen sich nicht willkürlich herbeiführen. Der Wille aufzubegehren entsteht per se, wenn die vermeintlichen Machthaber nicht mehr so weitermachen können wie bisher, da sie dem Chaos, das sie angerichtet haben nicht mehr Herr werden und wenn die Unterdrückten nicht mehr weiter so mitmachen wollen, da sie erkannt haben, dass es gute Alternativen gib.
Damit die notwendigen Veränderungen erfolgreich durchgesetzt werden können, ist es notwendig, dass es Vorstellungen gibt, wie denn was verbessert werden müsste und mit welchen Zielstellungen die Veränderungen auf demokratischen Weg erreicht werden können. Um diejenigen die von gesellschaftlichen Missständen betroffen sind zu motivieren, sich am Widerstand gegen Missstände und an der Neugestaltung der gesellschaftlichen Verhältnisse zu beteiligen, sollte man sie zuerst fragen: Was brauchst du, um gut leben zu können, warum willst du es so und wie kannst du es erreichen? Durch das gemeinsame Suchen nach Antworten auf diese Fragen wird gemeinsames Handeln ermöglicht.
Ich möchte in Teilen der ( v.a.historischen) Analyse widersprechen, in weiten Teilen aber auch dankend zustimmen.
Nur scheint mir die Zuschreibung “konservative Linke” doch etwas unpräzise und gleichzeitig schablonenhaft. Wer ist gemeint? Die Stalinisten, Maoisten usw., die Marx/Engels “Diktatur des Proletriats” ins Gegenteil pervertierten und einen autoritären Staatskapitalismus kreierten? Die Sozialdemokratie des 20 Jh., die den Parlamentarismus als Selbstzweck (oder zum Eigennutz) entdeckten, sich spätestens 1919 vor Revolutionen fürchteten und diese später mithilfe reaktionärer, präfaschistischer Freikorps zu entledigen suchten? Oder gar die Anhänger Luxemburgs/Liebknechts? Vielleicht aber auch die Befürworter der Kubanischen Revolution? usw, usf… A. Wehr halte ich nicht für einen “konservativen” Linken (obwohl ich den Text, auf dem sich R. Paulsen bezieht, ncht kenne).
Die Strategie, die R.Paulsen vorschlägt, ist doch zumindest in Ansätzen schon vorhanden und nichts neues. Man denke an das Weltsozialforum, “99%”, Genossenschaftsbewegungen etc. Nur eines ist auch klar. Eine spontane Weltrevolution ist eine Illusion. Sie braucht Ausgangspunkte, die sich vielleicht auch widersprechen können, wenn sie sich im Austausch weiterentwickeln können. Und dennoch ist diese Welt faktisch und formal noch in Staaten/Nationen gegliedert. Zwischen beiden strategischen Ausgangspunkten (“Graswurzelbewegungen” und der Überwindung der Staatsmacht) besteht kein Widerspruch. Aus meiner Sicht sollten sich diese beiden Ansätze ergänzen und gegenseitig bereichern. Dem Transnationalismus des Kapitals den Internationalismus der Entrechteten und Ausgebeuteten entgegenstellen. Da sind wir wieder bei Marx, wenn er richtig verstanden wird.
Und wenn ich die Kritik an A. Wehr hier richtig interpretiere, arbeitet sie zumindest mit der Unterstellung, dass Wehr u.a. Russland und China zu moderen “Sozialismen” verklären. Ich denke, Wehr u.a. geht es eher darum Verständigung statt Konfrontation einzufordern, um eben eine Eskalation wie 1914 zu vermeiden.
ich habe nur zu bemerken, dass ich dem obigen artikel und seinen analysen in vollem umfang zustimme, und zwar so sehr zustimme, als hätte ich es selbst geschrieben !
ich glaube allerdings nicht daran, dass “die linke” noch “aufwachen” könnte, ich glaube auch nicht daran, dass wir den finalen irgendwann-komplett crash des mittlerweile weltweiten “kapitalismus und sonderformen” noch aufhalten könnten, mir fehlt auch der glaube an überhaupt irgendwelche ideologien, weil alle solche (religiösen + rationalen) aus dem formenkreis magisch-animistischer vorzeitlicher welterlebensweisen stammen.
was uns, meiner meinung, noch retten könnte, wäre eine automatisierte = in “realtime” autopilotisch-ablaufende “weltregierung”, die menschenfern = ohne regierungsbeteiligung von menschen mit all ihrem ungenügen, abliefe, mit jedem einzelnen der weltbevölkerung und der umwelten als je multi-messpunken als dateninput fürs autopilotische system = es ist ein böser witz, dass heute fast jeder traktor auf dem feld autopilotische funktionen hat, die börsen der welt automatisiert ablaufen, flugzeuge usw ganz selbstverständlich autopiloten haben, wir aber die grundlagen unser aller existenz (ökonomie und ökologie usw) immer noch menschlichem nichtskönnen und/oder bösartigem tun überlassen, als wärs ganz selbstverständlich, von “irren” regiert zu werden – aber das sind und bleiben träume …