Der Titel des Beitrags „Die Wahrheit über die Demokratie“ von Prof. Rainer Mausfeld, der auf Rubikon erstmals erschien und von Neue Debatte ebenfalls veröffentlicht wurde, stellt ein großes Versprechen dar. Doch bei Mausfeld kam nicht alles auf den Tisch.
Der Historiker Reinhard Paulsen reflektiert auf die wichtigsten Aspekte in Mausfelds Überlegungen mit einer Rezension. Sie dient als Einleitung zu der vierteiligen Ausarbeitung „Realität und Perspektive“, die Mausfelds Betrachtungen erheblich erweitert und Lücken im Verständnis von Staat und Demokratie und über die Zukunftschancen der Menschheit schließt.
„Demokratie“ und „demokratisch“ gehören wohl zu den am meisten ideologisch verzerrten, missbrauchten und politisch abgedroschenen Begriffen. Andererseits berühren sie grundlegendste Fragen der Geschichte der Menschheit und ihres Zusammenlebens in Staaten, deren Verständnis es heute erfordert, den Blick weit zurück in vormoderne und sogar in die frühen Zeiten der Staatsentstehung und Herrschaftsausbildung zu richten.
Was erfährt man bei Prof. Rainer Mausfeld und was nicht?
Es macht neugierig, was Prof. Rainer Mausfeld zu sagen hat. Sein Artikel „Die Wahrheit über die Demokratie“ stellt sich auf den ersten Blick als eine kompromisslose Analyse und Entlarvung der in der Moderne praktizierten politischen Strukturen dar, als eine „Demokratie ohne Demokratie“.
Die Stärke seines Beitrags besteht darin, dass er die heutige Staatsform der repräsentativen Demokratie in einer Weise entlarvt, wie es in der bundesdeutschen Öffentlichkeit eigentlich tabu ist und nur im akademischen Gesellschaftsséparée und isolierten linken Enklaven diskutiert werden kann – ansonsten würde man als Feind der Demokratie und der freiheitlich-demokratischen Grundordnung geoutet und bekämpft werden.
Mausfeld entlarvt die Politiklandschaft als die vordergründige Erscheinungsform einer Eliteherrschaft. Es handele sich um „eine neuartige Form totalitärer Herrschaft“ eines globalisierten neoliberalen „gigantischen Universums eigener Art“, mit politischen Zentren autoritärer Macht – weit außerhalb jeder demokratischen Kontrolle.
Er sieht praktisch nicht abwählbare Elitegruppierungen der Erfolgreichen und Besitzenden im Wettstreit miteinander am Werk. Es gehe vor allem um den Schutz der Eigentumsordnung und die Pflege der Illusion von demokratischer Kontrolle, während in Wirklichkeit ein korrupter Umverteilungs-, Subventions- sowie Überwachungsstaat vor allem auch für den Schutz der Eigentumsordnung zuständig sei.
Wirkliche Demokratie gefährde diese Eigentumsordnung, weshalb bei Anbeginn des „modernen Staats“ eine „repräsentative Demokratie“ erfunden worden sei, mit dem Ziel, das Volk von Demokratie und Mitbestimmung fernzuhalten. Die gesellschaftliche Wirklichkeit sei eine Demokratie ohne Demokratie gewesen.
Diese Demokratie ohne Demokratie sei im 20. Jahrhundert immer ausgefeilter und verdeckter als autoritäre Eliteherrschaft zum Standardmodell geworden. Mit allen Mitteln der politischen Propaganda, der Meinungsmanipulation und der sozialen Bestechung habe man einen scheinbaren Klassenkompromiss inklusive der Hinnahme des Kapitalismus durch „die nichtkapitalistische Mehrheit der Bevölkerung“ erreicht.
Alles ist in Wirklichkeit darauf ausgerichtet, dass die politischen Entscheidungen immer von den unerreichbaren Zentralen der Macht einer autoritären Elite gefällt werden. Von Volksparteien würden Illusionen von demokratischer Kontrolle verbreitet. Geheimdienste und umfassende Netzwerke von unkontrollierbaren staatlichen Einrichtungen und privaten Organisationen trügen ihrerseits ihren Teil dazu bei, die herrschende Ordnung stabil zu halten.
Das Fazit von Rainer Mausfeld zum Thema der Wahrheit über die Demokratie lautet,
„dass westlich-kapitalistische Demokratien tatsächlich eine neuartige Form totalitärer Herrschaft […]“ „im autoritären und zunehmend totalitären Spätkapitalismus“ darstellen;
und dass die „Hülse der repräsentativen Demokratie“ nur noch dazu dient, die „eigentlichen politischen Zentren für die Öffentlichkeit unsichtbar zu machen“.
Der Artikel hinterlässt eine Wirkung, wie man sie häufig bei kritischen und linken Analysen beobachten kann: Der Leser bleibt zwar klüger, aber doch ratlos, eingeschüchtert und mutlos zurück.
Bei aller scheinbaren Radikalität werden keine realistischen Auswege, Widerstandsmöglichkeiten und Zukunftsperspektiven erarbeitet und diskutiert. Letztlich werden Allmacht und Stärke der „eigentlichen Zentren politischer Macht“ aufgezeigt, gegen die die unteren Klassen hier und weltweit keine Chance haben.
Und so endet der Artikel auch mit einem bedrückenden Abgesang:
Politische Veränderungsbedürfnisse der Bevölkerung können sich dadurch nicht mehr auf die Zentren der Macht richten, sondern nur noch auf Ablenkziele, womit sie politisch ins Leere laufen.
Worauf man öfter im linken akademischen Spektrum stößt, zeigt sich auch bei Mausfeld. Er sieht für sich nur die das Desaster begleitende „empirische Aufgabe“, ein noch “genaueres Verständnis“ der Formen heutiger totalitärer Herrschaft zu gewinnen. Für kritische, links-intellektuelle Theoretiker fällt es schwer, die Welt nicht nur zu interpretieren, sondern auf ihre Veränderung zu drängen.
Welche „politischen Veränderungsbedürfnisse“?
Allein in Europa – also einer noch halbwegs funktionierenden Metropolregion – sind rund 19 Millionen Menschen ohne Arbeit.[1] Die weltweite Arbeitslosigkeit ist steigend. 2017 sind über 200 Millionen Menschen arbeitslos.
1,4 Milliarden Menschen sind sozial ungeschützt, 776 Millionen sind prekär beschäftigt und bettelarm.[2] 65 Millionen Menschen sind weltweit auf der Flucht.[3] Im Schnitt wird alle drei Sekunden irgendwo auf der Welt ein Mensch zur Flucht gezwungen; jeder zweite Flüchtling ist ein Kind.[4]
Im Jemen läuft ein Völkermord mit an die Saudis geliefertem deutschem Militärmaterial. In Nordafrika verhungern gerade 4 Millionen Menschen mit ihren Kindern. Die Wetterkatastrophen scheinen immer ärger zu werden. Die Insekten verschwinden, die Anbauflächen veröden und die Polkappen schmelzen massiv ab. Im Nordmeer versenkte russische Militärreaktoren rosten durch, verschossene radioaktive Munition in Südosteuropa, im Irak und Syrien schädigt die Bevölkerung. US-Präsident Donald Trump und Nordkoreas Diktator Kim Jong-un drohen sich gegenseitig atomare Vernichtung an, usw. usw.
Rainer Mausfeld aber spricht angesichts dieser Weltlage in seinem Artikel über Demokratie zaghaft und euphemistisch von „politischen Veränderungsbedürfnissen der Bevölkerung“, und dass niemand die Zentren der Macht mehr erkenne. Wenn er sich da nicht täuscht oder genauer auf „die Stimme des Volkes“ hören würde.
Die Menschen auf der Flucht oder wer in einem von oben nach unten diktatorischen Konzern arbeitet, wer jemals einen Arbeitskampf mitgemacht hat oder wer von Hartz-IV leben muss, der weiß sehr genau, wo die Macht sitzt und wo oben und unten ist.
Soziale Analyse ohne Klassenbegriff, soziale Kämpfe und Ausbeutung?
Der Artikel spiegelt die heute herrschende Ratlosigkeit und depressive Grundstimmung des links-intellektuellen Spektrums wider, ja er vertieft sie durch scheinbar objektive Hilf- und Alternativlosigkeit für die manipulierten und oft verzweifelt aufbegehrenden Menschenmassen auf dieser Erde.
Das aber liegt nach meiner Einschätzung nicht an dem realen, historischen Gang der Welt. Mausfelds Argumentation leidet an fehlenden historischen Grundlagen, theoretischen Mängeln und methodischen Ungenauigkeiten im Umgang mit der Demokratieproblematik.
Wie kann man die Gesellschaftsgeschichte und den ökonomischen und politischen Gang der Welt erklären, ohne ein einziges Mal auf Ausbeutung zu sprechen zu kommen, ohne Klassen zu definierten, ohne hinter politischen und gesellschaftlichen Entwicklungen die treibende Kraft von Klassenkämpfen zu sehen? Und doch ist Mausfelds Analyse frei von diesen die Gesellschaften seit jeher determinierenden Gegebenheiten.
Man kann Rainer Mausfeld nur zustimmen, wenn er betont, dass zu kurz oder verzerrt angesetzte Analysen geeignet sind, ein „tiefer gehendes Verständnis der Natur dieser neuartigen Organisationen der Macht zu verstellen und somit die Entwicklung geeigneter Formen eines politischen Widerstandes zu blocken“.
Genau diese Gefahr aber sehe ich und möchte mit gebotener Solidarität auf einige Verkürzungen und Verzerrungen eingehen, die in dem Artikel von Rainer Mausfeld enthalten sind. Ich sehe in dieser Rezension eher eine ergänzende Abhandlung und eine Art Co-Referat, in dem ich die folgenden drei Themenkomplexe in der Beitragsserie “Realität und Perspektive” beisteuere.
- Die Klärung der Epoche der Menschheitsgeschichte, in der wir uns befinden. Das setzt eine Auseinandersetzung mit der Entstehung und geschichtlichen Rolle von Staaten, heutzutage Nationalstaaten, voraus.
- Die Frage nach der Stärke oder Schwäche der heutigen monopol- und finanzkapitalistisch beherrschten Welt, also die Frage von der Zukunfts- bzw. Transformationsfähigkeit des herrschenden Weltwirtschaftssystems.
- Die möglichen Perspektiven heutiger Klassenkämpfe und die Alternativen der Menschheit in einem planetaren Maßstab.
Alle weiteren Teile der Serie auf Neue Debatte:
Realität und Perspektive (Teil 1) – Die Epoche der Klassengesellschaften
Realität und Perspektive (Teil 2) – Was ist der moderne Staat?
Realität und Perspektive (Teil 3) – Das Ende einer Menschheitsepoche
Realität und Perspektive (Teil 4) – Es ginge auch anders
Quellen und Anmerkungen
[1] Eurostat (Statistisches Amt der Europäischen Union). Arbeitslosenquote in Europa im Juli 2017. ↩
[2] Spiegel-Online vom 13.1.2017. ↩
[3] Zeit online vom 19.6.2017. ↩
[4] UPDATE (18.05.2019): NEWS.at (vom 20. Juni. 2017): Vertreibung – Alle 3 Sekunden musste ein Mensch flüchten. ↩
Foto: Kayle Kaupanger (Unsplash.com).
Reinhard Paulsen studierte in den Jahren 1967-1974 Geschichte an der Universität in Kiel und schloss das Studium mit dem Grad eines Magister Artium ab. Danach verließ er das akademische Intellektuellenmilieu und absolvierte eine Schlosserlehre.
Reinhard Paulsen arbeitete als Betriebsschlosser in einer Aluminiumhütte und wechselte 1977 zu einem weltweit tätigen Konzern der Chemischen Industrie, in dem er 35 Jahre bis zu seinem Ruhestand 2012 angestellt war. Seine Arbeit umfasste Schlosser-, Techniker- und Ingenieursarbeit und Tätigkeiten in der Qualitätssicherung und im Reklamationswesen. In all diesen Jahren war Paulsen basisgewerkschaftlich engagiert: sei es als Vertrauensmann, als Betriebsrat oder in der gewerkschaftlichen Erwachsenenbildung, wobei er persönlich kritische Distanz zum Gewerkschaftsmanagement hielt.
2002 kehrte er nach 28 Jahren und parallel zu seiner beruflichen Tätigkeit an die Universität zurück. Er arbeitete ab 2006 an der Universität Hamburg (Fakultät für Geisteswissenschaften) an einem Promotionsprojekt zu hamburgischer und europäischer Schifffahrt im Mittelalter sowie deutscher Forschungsvergangenheit, das er 2014 mit dem Grad eines Dr. phil. in mittelalterlicher Geschichte abschloss. 2013 und 2014 nahm er Lehraufträge in mittelalterlicher Geschichte an der Universität Hamburg wahr.