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Yuriko Yushimata – Eine harmlose Liebhaberei

Das Sammeln von Viren ist eine harmlose Liebhaberei. Desinfektionsmittel sollten aber immer in Reichweite sein. Dann wird alles gut. Hoffentlich.

Sein Großvater hatte Schmetterlinge gesammelt. Er erinnerte sich noch gut an die Glaskästen mit den bunten Flügeln, die hinter dem Glas immer leicht angestaubt erschienen. Als Kind hatten ihn diese Kästen gleichzeitig angezogen und abgestoßen. Er stellte sich vor, wie es war, aufgespießt zu werden und aufzuspießen.

Ein Mann braucht ein Hobby.
Seine Großmutter hatte ihm dies zuerst gesagt.
Später hörte er es noch viele Male.

Als junger Mann arbeitete er als Aushilfspfleger. Ein älterer Mann sprach ihn im WC an. Zuerst vermutete er ein sexuelles Interesse, doch das Angebot war andersartig. Für 20 Euro je Reagenzglas verschaffte er dem Älteren Proben des Stuhlgangs der Kranken.
Was als Geschäft begann, wurde auch für ihn bald zu einer Art Obsession. Der Ältere schien das mit Wohlgefallen zu betrachten. Als er das bemerkte, wollte er aufhören, ihm wurde das alles zu viel. Doch der Ältere nahm ihn kurzerhand mit zu sich.

In der großen Altbauwohnung roch es nach Desinfektionsmitteln. Bis auf einen Raum mit Bett und Schrankwand waren alle Räume mit Kühlaggregaten vollgestellt. Der junge Mann blickte sich misstrauisch um. In einem Raum hatte der ältere Mann ein modernes Labor eingerichtet. Freundlich erklärte er dem Jüngeren alles, führte ihn ein in seine Leidenschaft. Er war ein Sammler von Viren. Er zeigte dem Jüngeren Bilder des komplizierten und doch so einfach wirkenden Aufbaus der Viren. Der ältere Mann hatte mehr als 100 unterschiedliche Subtypen des Grippevirus, TBC-Erreger, Masern und Kinderlähmung im Reagenzglas. Zärtlich streichelte der Ältere über die einzelnen Reagenzien, die er sorgsam gekühlt hielt.

Zuerst war dem jungen Mann das völlig verrückt vorgekommen. Doch dann war er wieder hingegangen.
Er begann, dem Älteren bei der Beschaffung und Isolierung von Viren zu helfen. Und irgendwann begann er, selbst zu sammeln.
Ein Mann braucht ein Hobby.

Er fing mit Schnupfenviren an, das waren die Kinderalben der Virensammler.
Doch bald reichte ihm das nicht mehr. Die Liebhaberei wurde zur Passion. Kinder und Familie hatte er nie, das war auch nicht möglich. Die Viren waren seine Familie. Er berauschte sich an ihrer Schönheit, der Perfektion ihrer Architektur und der Intelligenz ihrer strukturellen Organisation. Sie waren allen anderen Lebensformen überlegen, sie waren seine Kinder und er war ihr Meister.

Das gesamte Tiefgeschoss seines Hauses war mit Kühlaggregaten zugestellt. Er hatte die Stromzufuhr mit Notstromaggregaten abgesichert.

Inzwischen war er selbst alt. Der ältere Mann war lange tot. Die Sammlung hatte er geerbt und sie mit seiner eigenen vereinigt. Nun war dies die größte Privatsammlung, die existierte. Jedenfalls hatte er noch nie von einer größeren gehört. Und er pflegte regen Austausch mit anderen Sammlern. Im Internet hatten sie ein Forum eingerichtet, dass als Treffpunkt für Menschen mit abnormalen sexuellen Vorlieben getarnt war.
‘Suche schnell fickenden Marburger.’

Da hoffte tatsächlich jemand, den Marburgvirus im Tausch bekommen zu können. Das war sicher ein neuer Teilnehmer. Denn das war die rote Mauritius der Virensammler. Selbst er besaß ihn nicht.

Das Sammeln von Viren war eine anspruchsvolle und nicht ungefährliche Tätigkeit. Er wusste noch bei jedem Virus, wie er ihn bekommen hatte. Er hatte Urlaube in afrikanischen Elendsgebieten und in den Slums von Rio de Janeiro verbracht, nur für seine Sammlung. Am Victoriasee hatte er bei Prostituierten AIDS-Viren gesammelt. Zweimal war er mit dem Tod bedroht und noch öfter war er ausgeraubt worden. Aber um Viren zu sammeln, musste man in den tiefsten Dschungel vordringen, das war heute wie vor 100 Jahren.

Seit Jahren beschäftigte er illegale Migrantinnen als Hausangestellte. Er wählte möglichst krank aussehende Frauen aus und entließ sie nach kurzer Zeit und der Probenentnahme wieder. Einmal hatte er dabei Glück gehabt und eine seltene Form des Denguefiebers einsammeln können.

Freitag hoffte er einen guten Tausch zu machen; ein Sammler aus Bayern hatte sich angekündigt. Damit würde sich seine Sammlung weiter vervollständigen. Nur die Stromrechnung wurde immer teurer.

Heute war Dienstag. Noch einmal ging er die für den Tausch vorbereiteten Objekte durch, als ein Luftzug das Fenster aufriss. Eine der Röhren fiel auf den Fußboden. Schnell lief er ins Bad, um die Desinfektionsmittel zu holen. Doch sein rechtes Bein versagte ihm in letzter Zeit immer öfter den Dienst. Er knickte um und fiel in die Scherben.

Er badete sich regelrecht in Desinfektionsmitteln. Es würde schon reichen, es hatte immer gereicht. Er hatte sich noch nie angesteckt.

Doch am nächsten Tag kam das Fieber. Er hatte den Vorfall aber schon wieder vergessen. Nur ein Schnupfen, sagte er sich. Das Fieber stieg den nächsten Tag weiter und ein eitriger Ausschlag bedeckte seine Hand. Es würde sich schon legen. Er musste sich nur hinlegen und ausruhen. Doch auf der Treppe brach er zusammen und blieb dort liegen. Niemand war im Haus, außer seinen Kindern in ihren Kühlaggregaten.

Am Freitag trat der Sammler aus Bayern ins Haus. Die Tür war nicht abgeschlossen. Auf das Klopfen hatte niemand reagiert. Als er die eitrige Gestalt auf der Treppe liegen sah, begriff er sofort.

Der alte Mann lebte noch und war scheinbar sogar bei Bewusstsein. Er sah den Sammler aus Bayern an und versuchte zu reden, doch nur Blut und Eiter quollen aus seinem Mund. Der Bayer nickte jovial mit dem Kopf und zog sich seine Schutzhandschuhe und die Gesichtsmaske über und beugte sich dann über den alten Mann. Das war einmalig. Dieser Virus musste eine Mutation sein. Der Sammler konnte sein Glück kaum fassen. Vorsichtig füllte er etwas Eiter und Blut in ein Reagenzglas. Der alte Mann zitterte. Der Sammler aus Bayern packte das Reagenzglas vorsichtig ein, lächelte dem am Boden liegenden zitternden Kranken noch einmal zu und ging.

An der Tür wandte er sich noch einmal kurz zu dem alten Mann um, der in seinem Blut, in Eiter und Erbrochenem und Fäkalien lag.
“I dank Eana! Griaß God.”
Damit schloss er die Tür.


Foto: Andre Benz (Unsplash.com).

Yuriko Yushimata wurde als Distanzsetzung zur Realität entworfen. Es handelt sich um eine fiktionale und bewusst entfremdete Autorinnenposition, die über die Realität schreibt. Die SoFies (Social Fiction) zeigen in der Zuspitzung zukünftiger fiktiver sozialer Welten die Fragwürdigkeiten der Religionen und Ersatzreligionen unserer Zeit. Teilweise sind die Texte aber auch einfach nur witzig. Sie befindet sich im Archiv der HerausgeberInnengemeinschaft Paula & Karla Irrliche (www.irrliche.org). Spiegelung und Verbreitung der Texte sind ausdrücklich gewünscht!

Von Yuriko Yushimata

Yuriko Yushimata wurde als Distanzsetzung zur Realität entworfen. Es handelt sich um eine fiktionale und bewusst entfremdete Autorinnenposition, die über die Realität schreibt. Die SoFies (Social Fiction) zeigen in der Zuspitzung zukünftiger fiktiver sozialer Welten die Fragwürdigkeiten der Religionen und Ersatzreligionen unserer Zeit. Teilweise sind die Texte aber auch einfach nur witzig. Sie befindet sich im Archiv der HerausgeberInnengemeinschaft Paula & Karla Irrliche (www.irrliche.org). Spiegelung und Verbreitung der Texte sind ausdrücklich gewünscht!

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