Der Bettler wackelte mit dem Kopf und sah nach unten. So erhielt er sicher nicht viel Geld. Der Mann war ihm schon ein paar Mal aufgefallen. Er sonderte sich von den anderen Bettlern ab, und sie schienen Gefallen daran zu finden, ihn zu ärgern.
Heute sah er zum ersten Mal das Gesicht, und irgendwie kam es ihm bekannt vor.
Auf dem Weg vom Supermarkt nach Hause stand das Gesicht weiter vor seinen Augen. Irgendwo hatte er diesen Mann schon gesehen. Doch es wollte ihm nicht einfallen. Dann, als er die Wohnungstür aufschloss, fiel es ihm auf. Der Bettler sah aus wie dieser Linguistikprofessor, der früher öfter in der philosophischen Talkshow am Dienstagabend im öffentlichen Fernsehen zu Gast gewesen war. Er versuchte sich an den Namen zu erinnern, Löwiczek, nein, Lavoisier, richtig. Vermutlich ein Franzose. Der Bettler sah wirklich genau aus wie dieser Lavoisier. Er war irgendwann aus der philosophischen Talkshow verschwunden. Hatte er nicht irgendwas darüber gelesen?
Es fiel ihm nicht mehr ein.
Als er das nächste Mal im Supermarkt einkaufte, saß der Bettler wieder dort. Er schmiss dem Bettler ein Zwei-Eurostück in den Hut und wartete, dass dieser ihm das Gesicht zuwandte. Die Ähnlichkeit war verblüffend.
“Herr Lavoisier?”
Die Frage war ihm einfach so rausgerutscht. Der Bettler schien erst nicht verstanden zu haben, dann wandte der Bettler sich ihm mit einem bösen Lachen entgegen.
“Seien Sie vorsichtig, was Sie fragen, oder es könnte Ihnen genauso ergehen, wie mir.”
“Sie sind Professor Lavoisier?”
“Ich war Professor Lavoisier. Ich bin ein Niemand, Nichts.”
“Was ist passiert? Entschuldigen Sie, wenn ich frage. Ich habe natürlich kein Recht.”
“Sie werden die Antwort nicht hören wollen. Und es ist gefährlich.”
Der Bettler sah sich misstrauisch um, dann blickte er gierig über die Straße auf ein Restaurant.
“Wenn Sie mir ein Mittagessen ausgeben, erzähle ich alles.”
Das Restaurant war nicht teuer und er hatte auch Zeit. Also lud er den Bettler ein. Er erwartete nicht, die Wahrheit zu hören, aber vielleicht war es ganz amüsant. Also saß ihm der Bettler nun gegenüber und schlürfte eine Gulaschsuppe. Danach würde er ihm noch etwas zu trinken kaufen.
Er selbst trank einen Latte macchiato.
Nachdem der Bettler die Reste der Gulaschsuppe mit Brot aufgetunkt hatte, setzte er sich auf. Ein Bier stand vor ihm, zitternd führte der Bettler es an die Lippen.
“Sie benutzen uns.”
Die Worte tropften aus ihm heraus.
“Wer?”
Der Bettler lachte. “Na wer schon? Sie, die Worte.”
Er schwieg einen Augenblick, bevor er fortfuhr.
“Haben Sie sich nie Gedanken gemacht, wie es dazu kommt, dass bestimmte Worte sich immer weiter ausbreiten und andere verloren gehen? Worte sind wie Viren. Sie benutzen uns, um sich fortzupflanzen, um sich auszubreiten, überall. Und dabei stehen sie in evolutionärer Konkurrenz zueinander. Sie verdrängen andere Worte aus ihrem angestammten Lebensraum, mutieren zu neuen Bedeutungen, mischen sich mit anderen Worten und pflanzen sich fort und bekämpfen sich auf Sein und Nichtsein. Wir sind nur ihre Wirtstiere, nicht mehr. Schriftsteller, Linguisten bilden sich ein, sie wären die Meister der Worte und dabei sind es die Worte, die die Menschen manipulieren, beherrschen, und nicht umgekehrt. Die Worte sind die Herrscher. Sie steuern, was passiert. Dabei geht es ihnen immer nur um ihre maximale Verbreitung und sonst nichts.”
“Na ja …”
Der Bettler fuchtelte wild mit den Armen.
“Nichts na ja. Frieden, was wird nicht alles Frieden genannt. Schauen Sie sich an, wie sich dieses Wort heute verbreitet, wie es mutiert und jede beliebige Bedeutung annimmt, nur um sich auszubreiten, um aus jedem Winkel zu kriechen. Oder sozial, heute ist es sozial, Menschen wie mich betteln zu lassen, heute ist das Wort sozial auf der Siegesstraße, es ist in aller Munde und die Menschen krepieren.”
Mitleidig schaute der Mann den Bettler an. “Aber was hat das mit Ihrer Situation zu tun?”
“Ich habe nicht mehr geschwiegen. Ich habe es aufgedeckt, in meinen Vorlesungen, in Vorträgen, selbst im Fernsehen, auch im Fernsehen. Das konnten die Worte nicht zulassen. Die Menschen dürfen nicht begreifen, dass sie nur ein biologischer Vektor für die Ausbreitung und Vermehrung von Worten sind. Sie könnten anfangen, das Reden zu verweigern oder den Worten nicht mehr zu trauen. Die Worte wissen das zu verhindern. Also haben sie eins der ihren auf mich losgelassen.
Verrückt, auch so ein Wort, ich wurde für verrückt erklärt. Sie halten mich auch für verrückt, oder?
Die Worte gewinnen immer. Seien Sie vorsichtig. Und lassen Sie mich in Ruhe.”
Damit stand der Bettler auf und verließ das Lokal.
Er sah ihn nie wieder am Supermarkt.
In der Zeitung stand, dass bei der robusten Friedensmission 10.000 Menschen durch die Bombardierung getötet worden seien. Ein Reporter verlor seinen Job, weil er von Krieg und Mord schrieb.
Dabei diente der Einsatz doch dem Leben.
Foto: Larm Rmah (Unsplash.com).
Yuriko Yushimata wurde als Distanzsetzung zur Realität entworfen. Es handelt sich um eine fiktionale und bewusst entfremdete Autorinnenposition, die über die Realität schreibt. Die SoFies (Social Fiction) zeigen in der Zuspitzung zukünftiger fiktiver sozialer Welten die Fragwürdigkeiten der Religionen und Ersatzreligionen unserer Zeit. Teilweise sind die Texte aber auch einfach nur witzig. Sie befindet sich im Archiv der HerausgeberInnengemeinschaft Paula & Karla Irrliche (www.irrliche.org). Spiegelung und Verbreitung der Texte sind ausdrücklich gewünscht!
Eine Antwort auf „Yuriko Yushimata – Virale Worte“
Danke, eine kleine feine Geschichte – ohne einen Funken Unwahrheit. Das nennt man Werbung, Marketing. Die Wahrheit mit freundlichen Assoziationen entschärfen. Manche nennen es auch Lügen. Vielen Dank dafür.