Intelligente Kleidung wurde bereits über zwei Jahrzehnte vertrieben, als die intelligente Kleidung der zweiten Generation auf den Markt kam. Bei der ersten Generation intelligenter Kleidung ging es noch um die automatische Anpassung vor allem der Oberbekleidung an die Witterungsverhältnisse, um Jacken, die bei Regen automatisch wasserundurchlässig wurden, bei Hitze als Klimamembran wirkten und im Winter Wärmeenergie speicherten und bei Bedarf automatisch freisetzten.
Die zweite Generation war die erste Generation medizinisch wirksamer Kleidung. Der Durchbruch kam mit Kleidung, die virologische Risiken mit Hilfe von Sensoren erkannte, analysierte und automatisch die notwendigen Impfungen durchführte.
Die Lebenserwartung stieg dadurch nachweislich. Langsam begann sich dann die Neue Funktionskleidung auch in anderen Altersgruppen durchzusetzen. Das Tragen medizinisch wirksamer Kleidung wurde immer mehr zur Selbstverständlichkeit und die komplexen Kleidungsstücke wurden ergänzt durch kleine handliche Impfarmbänder. Selbst beim Sexualverkehr trugen die Menschen Impfarmbänder. Schließlich barg gerade das Teilen von Körperlichkeit mit anderen besondere Infektionsrisiken.
Die Armbänder wurden mit der Zeit darüber hinaus zu einem modischem Accessoire, das es in den unterschiedlichsten Varianten gab, verspielt in Herzform mit Rüschen, aus schwarzen Leder für harte Kerle und für die SM-Szene mit Metallnoppen, aus buntem Plastik im Popartdesign, als Hippiefransen und, und …
Menschen und Gruppen, die sich diesen Impfpraxen verweigerten, wurden zunehmend ausgegrenzt. Sie galten als Hochrisikogruppen für die Verbreitung ansteckender Krankheiten.
Impfverweigerern wurde ohne weitere Begründung die Arbeitsstelle entzogen. Wohnungen bekamen sie nur noch in bestimmten Stadtvierteln. Falls sie sich weigerten, ihre Kinder mit der Neuen Funktionskleidung auszustatten oder mit Impfarmbändern, konnte ihnen das Sorgerecht entzogen werden.
Dies geschah aber fast nur bei Kindern aus den oberen sozialen Schichten.
In den Armutsbezirken der Städte vegetierten die Menschen mit dysfunktionaler und veralteter Funktionskleidung dahin. Da Viruserkrankungen, als selbstverschuldet, nicht mehr von den Krankenversicherungen abgedeckt wurden und die Menschen in den Armutsgebieten sich selbst eine Behandlung nicht leisten konnten, kam es in den Ghettos immer wieder zum Auftreten von Pandemien mit Tausenden von Toten.
Dies war die Normalität, auch für Klara. Klara saß am FKK-Strand und las die Tageszeitung, sie trug ein neckisches Impfarmband mit einer Äskulapschlange mit Apfel im Mund. Sie musste daran denken, es nachher zu verschieben, damit sie dort keinen weißen Ring nicht gebräunter Haut behielt. Sie wollte sich gerade wieder der Zeitung zuwenden, als ihr Blick an der alten Frau haften blieb.
Irgendetwas an der Alten irritierte sie. Sie hatte nichts gegen alte Leute beim FKK. Im Gegenteil, sie fand das mutig. Aber diese Frau machte sie unruhig. Sie sah, dass es auch anderen so ging. Sie versuchte wegzuschauen, doch ihr Blick glitt immer wieder zu der alten Frau, ihre runzlige Haut sah etwas verquollen aus.
Dann begriff sie. Es war unglaublich.
Die Alte trug kein Impfarmband. Sie war völlig nackt. Offensichtlich fehlte der Alten jegliches Schamgefühl. Wie konnte die Alte so verantwortungslos sein, erstaunlich, dass die Frau mit einer solchen Einstellung dieses Alter erreicht hatte. Sie konnte es nicht fassen, Ekelschauer ließen ihre Haut erzittern.
Dann sah sie die jungen Männer, die sich der Alten näherten.
Zuerst spielten die Männer immer nur einen Ball direkt über die Alte hinweg. Da sie döste, schien sie das gar nicht richtig zu merken. Dann traf sie ein Schuss mit voller Wucht am Kopf. Ihr Ohr blutete, verwirrt setzte sie sich auf. Um sie herum standen die jungen Männer. Einer warf ihr den Ball zu. Sie fing ihn automatisch. Ein anderer trat ihn ihr aus der Hand. Sie war jetzt völlig durcheinander.
“Was, was soll das?”
“Dreck wegräumen.”
Die Alte sah sich hilfesuchend um, doch alle am Strand schauten weg, vertieften sich in ihre Bücher oder entschlossen sich auf einmal, noch mal schwimmen zu gehen. Die Jungmänner spritzten Bier auf die Alte. Als sie sich aufraffte, um zu fliehen, stellte einer ihr ein Bein. Sie stolperte. Ihr Handtuch blieb liegen. Sie kroch weiter. Dann richtete sie sich zitternd wieder auf und wandte sich zum Übergang zum Parkplatz. Ein Jungmann sprang direkt vor sie.
“Na Alte, willste noch Bier?”
Sie versuchte, zur Seite auszuweichen und stolperte wieder. Leicht humpelnd stand sie wieder auf. Sie floh seitwärts in die Dünen.
Klara sah zwei große Hunde hinter ihr her springen. Dann konnte sie nichts mehr sehen, nur die Schreie waren zu hören. Alle am Strand schauten unangenehm berührt, aber niemand tat etwas. Ein Jungmann brüllte hinter den Hunden her. Endlich, nach Minuten kamen die Hunde zurück. Die Alte brüllte jetzt nicht mehr.
Später bei der Polizei sagte Klara aus, dass es ein Unfall war, ein tragischer Unfall. Die alte Frau war ja wohl auch verrückt gewesen, ohne Impfarmband rumzulaufen.
Klara sah als Teil der gebildeten Schicht einer helleren Zukunft entgegen. Irgendwann würden sie diese letzten Reste des alten Verhaltens überwinden.
Das Schicksal der Alten tat ihr leid, der Fortschritt war manchmal unerbittlich. Doch letztendlich würde er allen zugute kommen.
Zwei Jahre später kam es zum ersten großen Seuchenausbruch unter den Trägerinnen und Trägern von Funktionskleidung. Die Dauerimpfungen hatten das Immunsystem der Menschen stark geschwächt, Millionen starben. In der Folge kam es zu Pogromen gegen die Bevölkerung in den Armenghettos, denen die Schuld an der Seuche gegeben wurde.
Ganze Viertel wurden niedergebrannt und die Bewohnerinnen und Bewohner bestialisch abgeschlachtet.
Dann kam der nächste Schub der Seuche und noch mehr starben und auch die Pogrome flammten wieder auf, die Armutsbevölkerung begann sich zu wehren. Und sie war gegen die Seuche immun.
Zehn Jahre später, nach weiteren Schüben der Seuche, Bürgerkrieg und Zerfall der Gesellschaft hatte nicht einmal 0,5 Prozent der europäischen Bevölkerung überlebt.
Klara stand am Strand und erinnerte sich kurz an die Szene mit der alten Frau am Strand. Damals, als ihre Welt noch existierte, vor der Seuche und dem Bürgerkrieg. Keine ihrer Freundinnen, kein Verwandter hatte überlebt. Sie war eine der wenigen Überlebenden aus der Oberschicht, allein. Der Strand war ihre Zuflucht geworden vor der Gewalt und anderen Menschen.
Die Menschen erschlugen sich wahllos wegen etwas zu essen.
Sie durften sie nicht finden. Sie hielt sich jetzt in den Dünen versteckt. Sobald sie Menschen hörte oder sah, floh sie.
Klara hatte sich eine notdürftige Höhle in den Sanddornbüschen gebaut.
Sie schlürfte gierig ein Möwenei.
Foto: Kris Atomic (Unsplash.com).
Yuriko Yushimata wurde als Distanzsetzung zur Realität entworfen. Es handelt sich um eine fiktionale und bewusst entfremdete Autorinnenposition, die über die Realität schreibt. Die SoFies (Social Fiction) zeigen in der Zuspitzung zukünftiger fiktiver sozialer Welten die Fragwürdigkeiten der Religionen und Ersatzreligionen unserer Zeit. Teilweise sind die Texte aber auch einfach nur witzig. Sie befindet sich im Archiv der HerausgeberInnengemeinschaft Paula & Karla Irrliche (www.irrliche.org). Spiegelung und Verbreitung der Texte sind ausdrücklich gewünscht!