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Katalonien: Ein neuer Weg für Spanien oder gefangen in der Systemdiktatur?

Der erneute Wahlsieg der Unabhängigkeitsbefürworter in Katalonien ist ein Meilenstein für die dortige Unabhängigkeitsbewegung und der vorläufige demokratische Gefrierpunkt für Spanien und die Europäische Union.

In der autonomen Region Katalonien wurde gewählt. Die Beteiligung an der durch die spanische Zentralregierung in Madrid verordnete Neuwahl war hoch. Der von der Zentralregierung erhoffte Effekt, ein Ergebnis, das die Befürworter der Unabhängigkeit in die zweite Reihe verbannt und die auf Staatslinie fahrenden Parteien ans Ruder bringt, blieb aus. Das Lager der Unabhängigkeitsbefürworter hat die Nase vorne.

Wenn sich die Katalanen bei der Wahl für die Unabhängigkeit entschieden haben, so heißt das aber nicht, dass sie plötzlich alle bürgerliche Nationalisten geworden sind. Die Menschen haben offensichtlich die autoritäre, halbfaschistische spanische Zentralmacht abgewählt, was überhaupt nicht bedeuten muss, dass sie keine überzeugten Spanier mehr sind. Sie wollen nur “dieses” Spanien nicht mehr und der Weg zu einem anderen Spanien führt offensichtlich über ein unabhängiges Katalonien.

Ein kurzer Rückblick

Dies wurde schon bei der Wahl 2015 deutlich. Damals wurde Carles Puigdemont Präsident der autonomen Region – und die tanzte aus der Reihe. Die Unabhängigkeit von Spanien, ein Wahlversprechen der Regierungsparteien CUP und Junts pel Si, wurde zum unterschätzten Thema und plötzlich zur Realität. Das Unabhängigkeitsreferendum am 1. Oktober 2017 markierte für die Befürworter der Unabhängigkeit einen Meilenstein und für Spanien und die Europäische Union den ersten vorläufigen demokratischen Gefrierpunkt.

Das spanische Verfassungsgericht erklärte das Referendum im Vorfeld für rechtswidrig und somit illegal, weil die spanische Verfassung keine Abstimmungen über die Unabhängigkeit einer Autonomen Gemeinschaft vorsehe. Dies wurde von der Zentralregierung als Freibrief verstanden, um die zum Referendum aufgerufenen Bürger von der Abstimmung abzuhalten. Wahllokale wurden geschlossen, Wahlurnen und Wahlunterlagen beschlagnahmt und die Abstimmungswilligen von eilig herangeschafften Polizeieinheiten niedergeknüppelt.

Dabei war das Referendum keine Überraschung, sondern ein Wahlversprechen, dass eingehalten wurde. Das Regionalparlament setzte ein beschlossenes Gesetz um, das vorsah, die Unabhängigkeit Kataloniens zu erklären, sollte sich für diese bei einem Referendum eine Mehrheit der Bevölkerung aussprechen. Unter den gegebenen Umständen entstand ein Muster ohne Wert. Bei einer Wahlbeteiligung von nur 42,3 % soll die Zustimmung rund 90 % betragen haben.

Unabhängigkeit als Gefahr

Der Artikel 155 der spanischen Verfassung ermächtigt die Zentralregierung in Madrid, “die notwendigen Mittel zu ergreifen”, um eine autonome Region zur Erfüllung ihrer gesamtstaatlichen Pflichten zu zwingen. Der spanische Verfassungszentralismus verhindert so von vorherein und bis in alle Ewigkeit jegliche Möglichkeit von Regionen, sich demokratisch für eine staatliche Eigenständigkeit zu entscheiden.

Dieser als politische Keule eingesetzte Paragraf setzt die Hoheit eines durch und durch korrupten Nachfolgestaates der Franko-Diktatur gegen einen scheinbar rückständigen Nationalismus in Katalonien durch. Ein eigenständiges Katalonien wäre auch international gefährlich, weil eine wirkliche Demokratie in diesem Landesteil in der Tradition des sozialistischen und anarchistischen Kampfes der Bevölkerung gegen das faschistische Franco-Regime im Spanischen Bürgerkrieg stände.

In Katalonien ist ein Vorreiter für wirkliche Volksdemokratie in ganz Spanien angelegt, die zu einem Vorbild für viele Gebiete in Europa werden könnte. Deshalb zieht sich die EU mit dem fadenscheinigen Argument, der Katalonienkonflikt sei eine innerspanische Angelegenheit, aus der Verantwortung. Schweigend, mit kaum verhohlener Sympathie schaut das offizielle Europa zu, wie Madrid die Repression in Katalonien durchzieht.

Was passierte? Die Regionalregierung wurde abgesetzt. Aktivisten der Unabhängigkeitsbewegung und demokratisch gewählte Politiker kamen in Haft. Kataloniens Präsident Carles Puigdemont entzog sich der Strafverfolgung wegen u.a. Rebellion und Auflehnung gegen die Staatsgewalt durch Flucht ins Ausland – gejagt von der spanischen Justiz mittels internationalen Haftbefehls.

Ausgehebelte Demokratie

In diesen Sauerteig aus Ungehorsam, Repression und Gleichgültigkeit wurden Neuwahlen gemischt, die das süßliche Aroma von Demokratie verströmen sollen. Spaniens Ministerpräsident Mariano Rajoy bemühte gar das Wort von der Normalität, die zurückkehren solle – er meint damit die „Normalität“ eines zentralistischen, korruptionszerfressenen, von Kapitaldynastien beherrschten Landes, in dem die Demokratie längst ausgehebelt ist.

Ministerpräsident Mariano Rajoy ist einer der Brandstifter. Natürlich: Ein Mann, der mit samt seiner Partei Partido Popular (PP), die im katalanischen Regionalparlament lediglich eine Statistenrolle einnimmt, bis zum Scheitel im Sumpf der Korruption steckt, wird alles tun, um von eigenen Fehltritten abzulenken.

Der Fall Gürtel, der wohl größte Korruptionsskandal in der Geschichte Spaniens, ist aus den Schlagzeilen verschwunden. Das Unabhängigkeitsbestreben Kataloniens überschattet alles.

Dabei wäre es schon lange angebracht, nicht nur den Rücktritt des Ministerpräsidenten zu fordern, sondern alle unter Korruptionsverdacht stehenden Abgeordneten bis zur endgültigen Klärung aus den Parlamenten zu entfernen. Es passiert nichts dergleichen. Was sagt Europa dazu? Schweigen von Brüssel über Paris bis nach Berlin … Warum? Weil Korruption eine gezüchtete Missbildung des Systems ist, die sich in Brüssel, Paris und Berlin ebenso findet wie in Madrid oder sonst wo. Sie wird von einer Politikergeneration auf die andere vererbt.

Mathieu Brichard hat diesen Systemfehler in seinem beachtenswerten Beitrag “Die Korruption in ihrem natürlichen Element” am Beispiel Frankreichs ausführlich dargelegt und die Mechanismen der strukturellen Korruption herausgearbeitet:

“Korruption ist in der französischen Politik keine Ausnahme, sondern folgt den Regeln einer kapitalistischen Ökonomie. Dahinter steckt ein Herrschaftsprinzip, (…). Wenn man das Herrschaftsprinzip überall erkennt, wo es sich versteckt, dann ist das Bewusstsein erwacht.”

In Katalonien sitzen Politiker hinter Gittern, weil ihr Ansinnen, ein von Spanien unabhängiges Katalonien zu erreichen, eine Gefahr für die Einheit des Staates darstellen soll. Vielleicht ist das so. Es erstaunt allerdings, dass bestechliche Regierungsmitglieder nicht als Gefahr für Demokratie und Staat wahrgenommen werden. Ein Zeichen dafür, wie biegsam das Verständnis der Gefährlichkeit sein kann – nicht nur in Spanien.

Herrschaft und reale Macht

Macht und Herrschaft sind die Begrifflichkeiten, die es zu ergründen gilt. Beide stecken im organisatorischen Überbau, der die jeweiligen Staaten zusammenhält. Diese Strukturen haben sich in praktisch allen Demokratien Europas verselbstständigt und mutieren nun Schritt für Schritt zur offenen Systemdiktatur.

Denn während Demokratie eben nur ein Wort ist, dass erst in der konkreten Umsetzung von unten nach oben mit Leben gefüllt wird, leitet sich Herrschaft von oben nach unten aus real existierender Macht ab, die sich ihrerseits aus den Besitzverhältnissen und der daraus erwachsenden Verfügungsmacht und Weisungskompetenz ableitet.

Sie setzt sich auf staatlicher Ebene über interessengebundene Parteien, in den Parlamenten, Verwaltungen und Justiz und der die bestehenden Gesellschafts- und Herrschaftsverhältnisse in letzter Instanz absichernden geballten Staatsgewalt in Gestalt von Geheimdiensten, Polizei und Militär durch. In den engen, lobbygetriggerten Beziehungen zu Kapital und Wirtschaft setzen sich die Kapital- und Finanzinteressen über die Kanäle der Korruption und käuflichen Machenschaften in reale Politik um.

Dem stehen die ständig abgehetzte, von Burn-out bedrohte, arbeitende Bevölkerung, vereinnahmte Gewerkschaften und die verbrauchte Schlacke des Humankapitals gegenüber, die sich in den Sozialsystemen ablagert und nach außen schamhaft ihre Armut zu kaschieren sucht oder in Madrid, Barcelona, Frankfurt, Rom oder Hamburg in Suppenküchen essen muss und obdachlos unter den Brücken schläft. Diese Menschen haben keine Lobby. Im Gegenteil: Sie sind in diesen parlamentarischen Demokratien Europas ein nutzloses, nur Kosten verursachendes Ärgernis.

Relevanz und Machtzentren

Wer ist nun befugt und vor allem durch wen? Der Normalo, der sich außerhalb der Organisationsstruktur bewegt und durch seine Arbeitskraft und Konsum für Wohlstand und Profite sorgt, ist es auf jeden Fall nicht.

Diese Tatsache wird nicht dadurch abgeschwächt, dass beständig wiederholt wird, Demokratie sei die Herrschaft des Volkes. Sie kann es nicht sein, sonst wäre unmittelbarer Einfluss durch das Volk möglich. Diesen gibt es nicht. Oder nehmen Polizei und Militär in Spanien, Deutschland, Europa oder irgendwo sonst auf dem Globus Anweisungen vom Volk entgegen, die ohne Wenn und Aber ausgeführt werden? Natürlich nicht. Dafür gibt es die Volksvertreter, die angeblich wissen, was gut und schlecht für die Menschen ist.

Sieht der Fall also anders aus, wenn eine Million Bürger, die nicht in die Strukturen der Organisation eingebunden sind zum Beispiel den Volksvertretern, der Verwaltung oder der Justiz eine Anweisung geben – etwa durch eine Volksabstimmung, große Demonstrationen, Streiks, außerparlamentarische Bewegungen? Nein! Die vereinte Stimme von einer Million Menschen hat weder Weisungsbefugnis noch sonstige Relevanz, außer für die Art und die Tricks und Winkelzüge, mit denen die Interessen von den oberen Eliten politisch durchgesetzt werden.

Der Widerstand gegen die weitere Zulassung des Pflanzenvernichtungsmittels Glyphosat in der Europäischen Union ist ein gutes Beispiel zur Verdeutlichung. Eine Bürgerinitiative hat nach eigenen Angaben über 1,3 Millionen Unterschriften gesammelt, um die Politik zu bewegen, Glyphosat zu verbieten. Was ist passiert? Nichts ist passiert. Das Gift landet für weitere fünf Jahre auf den Äckern und am Ende der Nahrungskette auf den Tellern und in den Bäuchen.

Wo ist die Grenze? Wann reagiert das System? Bei zwei Millionen Menschen? Fünf Millionen? Zehn Millionen? Es gibt keine. Der organisatorische Überbau herrscht aus sich selbst heraus und reflektiert lediglich auf die Forderungen anderer Machtzentren.

Wann wird die Bevölkerung zu einem Machtfaktor? Wenn sie als Massenbewegung, wie zum Beispiel in Katalonien die Systemfrage stellt; wenn sich die politische Überzeugung massenhaft verbreitet, dass man seine berechtigten Interessen und Forderungen innerhalb der bestehenden Ordnung unter den bestehenden Herrschaftsverhältnissen nicht durchsetzen kann; wenn sich die bestehenden gesellschaftlichen Verhältnisse durch Krisen und Kriege dermaßen verschlimmern, dass die Bevölkerung um das Überleben kämpfen muss; wenn sie, wie heute in Katalonien oder in Griechenland, oder wie 1989 am Ende der DDR, mit dem Rücken an der Wand steht, alle Illusionen verliert und ihre Hoffnungen nur noch in eine neue Gesellschaft setzen kann und sich mit kollektivem Widerstand, Generalstreiks und Verweigerung in zivilem Ungehorsam auf einen selbstbestimmten Weg macht.

Hilflose Antworten auf soziale Ungleichheit

Schon im Wort Ungehorsam steckt die ganze Wahrheit über die angebliche Gleichheit der Menschen: Ungehorsam kann nur jener niedere Stand sein, der seinen Herren die Gefolgschaft verweigert.

Am Anfang stehen meist Kleinteiligkeit der Anliegen und egoistische Partialinteressen, kanalisiert in der nicht ausgesprochenen Konkurrenzsituation großer und kleiner Organisationen. Dieser Stand von illusionsbehafteten Aktivitäten verhindert insbesondere in Deutschland jeden Versuch, Einfluss auszuüben, um Bedeutsames zu verändern. Vereinzelte Vorstöße verglühen an der undurchdringlichen Panzerung des Systems, es sei denn, Teile des staatlichen Überbaus, der innerlich permanent durch Grabenkämpfe erschüttert wird, erkennen einen Eigenvorteil und vereinnahmen die Bewegung.

Und plötzlich kommt Katalonien. Auch wenn zunächst in der Frage der Separation die Bevölkerung gespalten war, hat sie die Menschen tatsächlich auf einen gemeinsamen Nenner gebracht – das übergeordnete Ziel. Das kann sich kein Staat gefallen lassen und Europa schon gar nicht.

Das Gerede eines Martin Schulz von den Vereinigten Staaten von Europa bzw. der Republik Europa (vgl. Ulrike Guérot), das erstaunlicherweise an Intensität zu nimmt, je deutlicher sich die Folgen sozialer Ungleichheit niederschlagen, kommt nicht von ungefähr.

Die United Nations of Europe, die nie mit der sozialen Frage verknüpft werden, sind kein Ziel zum Wohl der Massen, sondern eine emanzipatorische Falle jener, die im organisatorischen Überbau den Ton angeben, aber unfähig sind, dem leckgeschlagenen Supertanker EU einen neuen Kurs zu geben, der den sozialen Frieden ansteuert.

Dafür müsste die freie Geisterfahrt des Kapitals und der Großkonzerne beendet werden – für bessere intellektuelle Kreise und die Politelite selbst dann unvorstellbar, wenn die Bude schon lichterloh brennt:

Arbeitslosigkeit und Unterbeschäftigung gehören nach wie vor zu den größten sozialen Problemen der Europäischen Union. Im Jahr 2016 waren 20,9 Millionen Personen arbeitslos, darunter 4,2 Millionen unter 25-Jährige bzw. 9,6 Millionen Langzeitarbeitslose. Hinzu kommen 9,5 Millionen Teilzeitbeschäftigte, die gern mehr Stunden arbeiten würden, und weitere 11,1 Millionen Personen der sogenannten Stillen Reserve (Nichterwerbspersonen mit einer gewissen Bindung an den Arbeitsmarkt).

(Quelle: Bundeszentrale für politische Bildung)

Dazu kommt die eklatante Armut, die sich in der Peripherie ausbreitete, sich nicht nur dort als überdauernder Zustand etabliert und immer deutlicher das Bild von Kerneuropa und auch von Deutschland prägt:

In Deutschland ist jeder Fünfte von Armut oder sozialer Ausgrenzung bedroht. 2016 traf das auf 16 Millionen Menschen zu, was einem Anteil von 19,7 Prozent der Bevölkerung entspricht. In Europa sind es rund 120 Millionen Menschen!

Die hilflosen Antworten auf diese katastrophale Lage sind in Kerneuropa identisch: Mehr Überwachung, mehr Polizei, mehr Geheimdienst, noch mehr Militär, eine europäische Armee als Krönung der Gewaltmonopolisierung und parallel die schleichende Einschränkung von Presse- und Meinungsfreiheit und Bürgerrechten, Abbau sozialer Standards, Privatisierung von Staatseigentum – also dem Eigentum aller Menschen -, und dies alles zum Wohle der Bürgerinnen und Bürger versteht sich. Aber was soll das bringen und wem hilft diese Verwandlung?

Die Rollenverteilung

Wer sich die Mühe macht, eine Definition zu suchen, was ein Staat sein soll, der wird überrascht: eine wirklich verbindliche Erklärung ist nicht zu finden. Dennoch hat dieses Gebilde seinen Zweck. Es steckt geografisch ein Gebiet ab, das als Produktionsstandort und Markt fungiert. Die Menschen innerhalb des Territoriums sind Marktteilnehmer. Auf der einen Seite finden sich die vielen Individuen, die die Doppelfunktion als Produzenten und Konsumenten von Waren und Dienstleistungen erfüllen, die arbeitende Bevölkerung also, und jene wenigen, die den Markt beherrschen – der organisatorische Überbau mit seinen Verflechtungen zu Kapital und Wirtschaft, wobei sich diese zunehmend reduziert auf wenige Global Player. Damit sind die Rollen verteilt.

Es sollte daher bei Unabhängigkeitsbestrebungen, Separation, Religionskämpfen usw. verstanden werden, dass es sich immer nur um spezielle Aus- und Erscheinungsformen von Klassenkämpfen handelt. Es geht niemals wirklich um Religion oder Nation usw., sondern um die soziale Frage, um Unterdrückung und Ausbeutung. Was heißt das für Spanien?

Als Schuldnerstaat steht Spanien kurz davor in den Armengürtel um die europäischen Gläubigerstaaten – vor allem Deutschland – zusammen mit Griechenland und Italien abzusacken und aus dieser Situation nicht mehr herauszukommen. Gleichzeitig befindet sich das Land fest im Griff des internationalen Finanzkapitals und wird von diesem und der einheimischen Oligarchie ausgesaugt. Armut, Elend, Jugendarbeitslosigkeit und keine Aussicht auf Besserung treiben die Menschen ins Aufbegehren, in den Widerstand, viele wohl auch in hilflose Resignation.

In dieser Lage gewinnen die Kampf- und Widerstandstraditionen an Aktualität. Im kollektiven Bewusstsein der spanischen und katalanischen Bevölkerung ist auf der einen Seite der grausame Bürgerkrieg und der Kampf gegen Franco um die sozialistische Republik, aber auch die Erinnerung an regional befreite Gebiete mit anarchistisch-basisdemokratischer Ordnung.

Katalonien, das bis zuletzt gegen Franco kämpfte, als der Rest von Spanien bereits faschistisch war, setzt heute praktisch wieder dort an, wo damals aufgehört wurde. Allerdings mit dem Unterschied, dass sich die Katalanen dieses Mal in der Position des Agierenden befinden: Das offensive Aufbegehren gegen einen autoritären, korrupten, zentralistischen Ausbeuterstaat, der keine Zukunft mehr hat.

Unabhängigkeit oder Kniefall

Im Lichte der Geschichte betrachtet wäre ein unabhängiges Katalonien somit der denkbare Ausgangspunkt für einen neuen spanischen Weg, der über ein republikanisch-sozialistisches Katalonien führt, deren Vorbild sich weitere Regionen anschließen, was final in ein republikanisch-sozialistisches Spanien mündet.

Die Frage ist, ob die gesellschaftlichen und politischen Kräfte der Unabhängigkeitsbewegung genug Vertrauen in die eigenen Ideen und Fähigkeiten haben und den nötigen Willen besitzen. In Griechenland war das nicht der Fall.

Ministerpräsident Alexis Tsipras und der damalige Finanzminister Yanis Varoufakis standen 2015 vor der entscheidenden Frage: Das Volk in die Unabhängigkeit führen oder sich beugen. Die Pläne lagen bereit: U.a. Ausgabe eigener Schuldscheine, Erklärung eines Schuldenschnitts und Übernahme der Kontrolle der griechischen Zentralbank.

Da sie gegen die ganze EU antraten, scheint ihr letztliches Handeln nachvollziehbar zu sein – sie beugten das Knie. Varoufakis trat zurück und Tsipras führte Griechenland in die soziale Dauerkrise. In Katalonien stellt sich das zunächst noch anders dar: Es geht vor allem gegen die Zentralregierung, die Oligarchie und die Interessen des Finanzkapitals in Spanien – eine innere Angelegenheit, wenn man so will.


Foto: Luis Alvarez Marra (Flickr.com); Lizenz: CC BY 2.0.

Historiker

Reinhard Paulsen studierte in den Jahren 1967-1974 Geschichte an der Universität in Kiel und schloss das Studium mit dem Grad eines Magister Artium ab. Danach verließ er das akademische Intellektuellenmilieu und absolvierte eine Schlosserlehre.

Reinhard Paulsen arbeitete als Betriebsschlosser in einer Aluminiumhütte und wechselte 1977 zu einem weltweit tätigen Konzern der Chemischen Industrie, in dem er 35 Jahre bis zu seinem Ruhestand 2012 angestellt war. Seine Arbeit umfasste Schlosser-, Techniker- und Ingenieursarbeit und Tätigkeiten in der Qualitätssicherung und im Reklamationswesen. In all diesen Jahren war Paulsen basisgewerkschaftlich engagiert: sei es als Vertrauensmann, als Betriebsrat oder in der gewerkschaftlichen Erwachsenenbildung, wobei er persönlich kritische Distanz zum Gewerkschaftsmanagement hielt.

2002 kehrte er nach 28 Jahren und parallel zu seiner beruflichen Tätigkeit an die Universität zurück. Er arbeitete ab 2006 an der Universität Hamburg (Fakultät für Geisteswissenschaften) an einem Promotionsprojekt zu hamburgischer und europäischer Schifffahrt im Mittelalter sowie deutscher Forschungsvergangenheit, das er 2014 mit dem Grad eines Dr. phil. in mittelalterlicher Geschichte abschloss. 2013 und 2014 nahm er Lehraufträge in mittelalterlicher Geschichte an der Universität Hamburg wahr.

Gunther Sosna studierte Psychologie, Soziologie und Sportwissenschaften in Kiel und Hamburg. Er war als Handballtrainer tätig, arbeitete dann als Journalist für Tageszeitungen und Magazine und später im Bereich Kommunikation und Werbung. Er lebte hauptsächlich im europäischen Ausland und war international in der Pressearbeit und im Marketing tätig. Sosna ist Initiator von Neue Debatte und weiterer Projekte aus den Bereichen Medien, Bildung, Diplomatie und Zukunftsfragen. Regelmäßig schreibt er über soziologische Themen, Militarisierung und gesellschaftlichen Wandel. Außerdem führt er Interviews mit Aktivisten, Politikern, Querdenkern und kreativen Köpfen aus allen Milieus und sozialen Schichten zu aktuellen Fragestellungen. Gunther Sosna ist Befürworter des bedingungslosen Grundeinkommens und tritt für die freie Potenzialentfaltung ein, die die Talente, Fähigkeiten und die Persönlichkeit des Menschen in den Mittelpunkt stellt, ohne sie den Zwängen der Verwertungsgesellschaft unterzuordnen. Im Umbau der Unternehmen zu gemeinnützigen und ausschließlich dem Gemeinwohl verpflichteten sowie genossenschaftlich und basisdemokratisch organisierten Betrieben sieht er einen Ausweg aus dem gesellschaftlichen Niedergang, der vorangetrieben wird durch eine auf privaten Profit ausgerichtete Wirtschaft, Überproduktion, Kapitalanhäufung und Bullshit Jobs, die keinerlei Sinn mehr haben.

5 Antworten auf „Katalonien: Ein neuer Weg für Spanien oder gefangen in der Systemdiktatur?“

Es ist kein politisches Problem, sondern ein gesellschaftliches. Solange die Gesellschaft nicht selbstverantwortlich, unabhängig auf eigenen Füssen zu stehen vermag, also unabhängig von Herrschafts-Führer-Systemen, findet immer nur ein Austausch perfider Machtstrukturen statt. Arbeit um des Überlebens Willen ist auch Sklaverei. Die DDR hat nur den Wandel von einer sozialistischen in eine kapitalistische Diktatur vollzogen. Eine wirkliche Veränderung Kataloniens ist nur möglich, wenn das System entwurzelt würde, da bleibt dann auch kein Amt mehr für den Putschdämon übrig…

Politik löst keine Probleme, Politik ist das Problem. Ein Grossteil politischer Entscheidungen, nicht nur in Europa, wird von der Mehrheit der Bevölkerung nicht mitgetragen. Dennoch unterstützt das Volk die Politik durch Wahlen und gibt dadurch nicht nur die Verantwortung ab, sondern auch die Chance, auf eine selbstbestimmte, unabhängige Gesellschaft. Ein Putschdämon mag wohl eine unabhängiges Katalonien ausrufen, aber er kann es nicht verwirklichen und die Bevölkerung die hinter ihm steht auch nicht, denn beide sind Gefangene eines Systems, welches weiterhin funktionieren würde, ganz gleich, welchen Status irgendein Land, oder eine Region besitzt. Das können wir mittlerweile weltweit beobachten.

Es ist nicht mehr der Mensch, welcher lenkt, sondern er wird gelenkt, durch die eigens von ihm erschaffenen korrupten Strukturen, Gesetze, Verordnungen und Paragraphen. Und er verstrickt sich immer mehr in einem künstlichen Konstrukt aus unsinnigen und lebensfeindlichen Bestimmungen. Und dieses System hat ein Eigenleben entwickelt. Und was noch schlimme ist, wir vererben es von Generation zu Generation an unsere Kinder.

Das System entwurzeln, heisst: Nicht gewaltsam zerschlagen. Denn jede Aktion ruft eine Reaktion hervor und würde nur noch mehr Energie verschwenden. Siehe Militarisierung der Polizei, der EU, weltweites Aufrüsten, Hochrüsten…
Schenken wir dem Ganzen einfach keine Beachtung mehr, machen wir einfach nicht mehr mit, entziehen wir unsere Energie.

Es nützt nichts gegen den Raubbau der 3. Welt zu sein und jedes Jahr ein neues Handy zu kaufen.
Es ist unsinnig sich über Flüchtlinge aufzuregen und zur nächsten Wahl zu gehen und die Kriegsparteien, die das Elend massgeblich verursachen, wieder zu wählen.
Welch ein Wahnsinn, auf Grund einer angeblich selbstregulierenden, freien Marktwirtschaft 40% unserer Lebensmittel zu vernichten, während jedes Jahr hunderttausende Kinder verhungern!
Anstatt auf Billigflüge zu verzichten, handeln wir lieber mit CO2 und holzen weiterhin mit gutem Gewissen Regenwälder ab, weil E10 Biosprit die Alergien und Atemwegserkrankungen unserer Kinder um 10% senken.

Es wird wohl noch Generationen dauern, sollten wir es überleben, bis wir in der Lage sind, ohne Herrschaftsformen auszukommen, die niemals uneigennützig handeln, wie die menschliche Geschichte es wohl mehrfach, eindrucksvoll bewiesen hat.

Eine geistig gesunde Gesellschaft erkennt man daran, wie sie ihre schwächsten Mitglieder behandelt. Wir sind immer noch nicht einmal in der Lage ohne Kriege zu leben!

Und wie kann es sein, dass ein angeblicher Staatsfeind, mit internationalem Haftbefehl, sich frei im Machtzentrum der EU bewegen kann’ während “sein” Volk niedergeknüppelt und verhaftet wird?

Das ist auch ein Grund mit, warum sich nichts ändern wird. Das Volk und nicht nur das spanische, vergeudet seine Energien. Wir haben die Macht, aber nicht das Vertrauen in uns selbst. Wir geben unsere Macht ab, an irgendeinen Funktionär, irgendeine Marionette, einen Hofnarren, Politiker und glauben, dass das uns selbst und die Welt retten wird.
Ich find RTL doof, ich guck jetzt lieber RTL2… ;-)

Was würde wohl passieren, wenn wir ab morgen alle mal nichts tun würden? Dem Ganzen Wahnsinn einfach die Energie entziehen. Wäre das unser Untergang? Oder unsere geistige Genesung?

Eine ganz ausgezeichnete Zusammenfassung der Gegebenheit, die neben der politisch-gesellschaftlichen Lage zwei für mich entscheidende Frage berührt: Zum einen die nach der Freiheit des Einzelnen. Wie frei ist jeder wirklich in seiner Entfaltung und damit verbunden in seiner Entscheidungskompetenz?! Kann der Mensch so frei sein, dass er, wie beschrieben, seine Ernergie umlenkt, weg vom nicht veränderbaren System, dass aber durch seine Power lebt, hin zu … Ja, zu welcher Gesellschaftsform. Was kann das Ziel sein?! Wenn ich es richtig verstehe, wäre eine anarchistisch-basisdemokratische Gesellschaft der Vorschlag. Liege ich damit richtig? Dazu folgt so oder so der zweite Punkt, der Moral und Ethik umfasst. Ist der Mensch, der geprägt ist durch die bisherige Ordnung, die ihn in vielen Lebensbereichen zum Objekt abwertet, ist dieser Mensch selbstkritisch genug und moralisch gefestigt, einen Wechsel der Systematik für sich und somit für andere zu erreichen, in dem er sich selbst ein neues Ziel (dass dann zu einem für alle verbindlichen Ziel eventuell werden könnte) sucht und aktiv an der Realisation wirkt. Ist das auch ein Teil des Gedankes, der den Entzug der Energie beschreibt?

PS: Bei RTL2 kann ich nicht mitreden, weil ich keinen Fernseher habe.

Wie frei kann ein Mensch sein? Nun, ich glaube, dass hängt ganz entscheidend davon ab, wie offen er für das Leben ist. Ist die Weltsicht begrenzt auf das System, in dem er sich bewegt, sind somit die Möglichkeiten und auch die Freiheit in diesem Rahmen abgesteckt, also begrenzt.
Freiheit hängt also sehr davon ab, wie weit es mir möglich ist, über den Tellerrand hinaus zu schauen. Ist die Welt in der ich lebe, die einzige Welt, Möglichkeit? Für einen Grossteil der Menschen mit Sicherheit, weil sie so konditioniert worden sind und weiterhin werden, seit Kindertagen an.
Hinzu kommt der angebliche Verlust von Sicherheit, sobald ich mir bekanntes Terrain verlassen will/kann.

Ich höre oft, was kann ich all Einzelner schon tun? Dabei übersieht man, dass nur der Einzelne wirklich etwas tun kann. Und ganz viele Einzelne sind die Masse die etwas bewegt.
Wir sind viel zu streng mit uns selbst. Anstatt mit kleinen Schritten zufrieden zu sein, erhoffen wir uns sofortige Veränderungen durch den einen grossen Schritt. Aber den gibt es nicht, viele kleine Schritte führen zu Ziel. So bleibt man auch weiter motiviert und kann andere ebenso begeistern.

Genauso vollzieht sich Bewusstseinserweiterung. Man wird nicht urplötzlich eine Morgens ein anderer Mensch, sondern es ist ein Reifeprozess, der sich automatisch vollzieht, sobald man die eigenen Fesseln erkannt hat und gewillt ist diese abzustreifen.
Die Schmerzgrenze wird niedriger, je mehr man sich sensibilisiert für das Leiden in der Welt.
Gleichzeitig findet aber auch eine Erkenntnis statt, dass Leiden menschgemacht sind und nichts Natürliches. Anstatt also seine Energien darauf zu verwenden die Leiden zu lindern, was Leiden eigentlich nur verstärkt, sollte man sie als das erkennen was sie sind. Eine Illusion, die durch die von uns erschaffenen künstlichen Lebensstrukturen genährt werden.

Kann es Leben ohne Leiden geben? Anders gefragt, können wir dieses Dasein, welches wir seit Jahrtausenden fristen und unendlich viel Leid hervorgebracht hat und weiterhin bringt, ändern? Sind wir bereit dazu und wer ist wir? Wie anmassend ist es, wenn ich meinen Weg, als den Heilsweg für alle anderen proklamiere? Vielleicht lebe ich auch nur in einer von mir geschaffenen Bewusstseinsblase und habe noch nicht einmal die leiseste Ahnung davon, was für fantastische Möglichkeiten das Leben ausserhalb einer illusionären, profitverseuchten Plastikwelt bietet. Vielleicht wäre eine anarchistisch-basisdemokratische Gesellschaft eine Lösung?!

In diesem Sinne kann ich nur eines tun, offen sein für alles was da kommt, auch für die Dinge die mir nicht so in den Kram passen, denn meist handelt es sich dabei um ein Spiegelbild. Und wenn ich das Glück habe meine Gedanken und Energien mit anderen zu teilen und dadurch positive Resonanzen verstärke, die vielleicht zu positiven Veränderungen führen, so sollte ich dankbar sein für die Fülle des Lebens, welche meine subjektiven Empfindungen bestätigen. ;-)

Herzlichen Dank, für diese bereichernde Diskussion…

PS: Kein Fernsehen, ist ein weiterer Schritt in die Freiheit.

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