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Denken & Bildung

Schluss mit Pauken und Noten! – Teil 4: Kriteriumsorientierte Leistungsmessung

Geht es im Bildungssystem auch ohne Noten? Gerhard Kugler stellt im vierten Teil seiner Beitragsserie „Schluss mit Pauken und Noten!“ seine Überlegungen zur Leistungsmessung vor, die sich an den individuellen Fähigkeiten orientiert und Kompetenzprofile zulässt.

Nehmen wir an, wir haben mit einer Gruppe (oder Klasse) von Kindern eine Wanderung vor. Ich begehe testweise die Route. An einer Stelle muss man über einen Bach hüpfen, da es weit und breit keine Brücke gibt. Ich kann die Gruppe darauf vorbereiten, indem ich mit ihr „im Trockenen“ übe, sagen wir mal: über zwei Meter zu hüpfen (Weitsprung). Ich trainiere mit den Kindern. Mit denen, die das nicht zuverlässig können, noch mehr als mit den anderen. Kann es eines oder ein paar Kinder bis zum Wandertag nicht, müssen sie zuhause bleiben. Sie haben die kriteriumsorientierte Leistungsmessung nicht bestanden. Alle anderen haben bestanden und können mit, egal, wie gut oder knapp sie das Kriterium erfüllt haben. Es reicht vielleicht schon, wenn sie so springen, dass sie es schaffen, wenn man ihnen den Arm entgegenstreckt.

Eine gebräuchliche kriteriumsorientierte Leistungsmessung unserer Gesellschaft ist die Führerscheinprüfung. Bestanden oder nicht bestanden. Darum geht es. Im Führerschein steht nicht, wie gut die Prüfung bestanden wurde.

Die notenorientierte Leistungsbeurteilung genügt nicht zufällig keinen mathematischen (statistischen) Kriterien. Sie täuscht Objektivität vor, wo sie nicht sein kann. In ihr stecken die Lehrer-Schüler-Beziehung, der implizite Vergleich mit dem Klassendurchschnitt, der vorausgehende Ruf des Schülers und/oder die Bemühung, möglichst vielen den Zugang zu einer Uni zu ermöglichen. Letzteres wird dann bundesweit möglichst überboten, was sich in der steigenden Zahl der Note eins Komma null über die Jahre zeigt.

Auch eine kriteriumsorientierte Leistungsmessung kann Willkürlichkeiten ausgesetzt sein, wenn die Kriterien unklar festgelegt sind. Der externe Druck hält sich aber in Grenzen, da es über die „Äste“ hinweg um Schwerpunkte des Schülers geht, nicht um seine allgemeine Beurteilung.

Die Leistungsmessung besteht zum einen in der „Betrachtung“ der Projekt-Ergebnisse. Dabei werden die verschiedenen Beiträge der Teilnehmer durch Befragen der einzelnen Teilnehmer erkundet, sodass Beurteilende erfassen können, ob die Beiträge wirklich von den geprüften Teilnehmern geleistet worden sind. Fehler sind unerheblich, wenn die Sache offensichtlich verstanden wurde. Auch Hilfsmittel (etwa Internet) sind unproblematisch, wenn verstehend übernommen worden ist.

Prüfer sind Lehrer und interessierte Schüler fortgeschrittener Äste. Aber auch die Projektteilnehmer können erklären und begründen, ob Beiträge nützlich und angemessen waren. Weitere Prüfer können auch von den geprüften Schülern benannt bzw. gebeten werden. Bei intern unterschiedlicher Beurteilung müssen sie ein Verfahren der Einigung finden oder die Prüfung wird sogar (bei neuer Zusammensetzung) wiederholt.

Es gibt nur die Ergebnisse „bestanden“ oder „nicht bestanden“. Bestanden heißt, dass der Stand des Verstehens und Umgehens mit den Inhalten eines Astes ausreicht, in weiteren Ästen mitmachen zu können, die davon abhängig sind, darauf aufbauen.

Meistens wird bei der Beurteilung nicht nur die Eigenständigkeit der Bewältigung des geprüften Bereiches relevant sein, sondern auch die Kooperationsfähigkeit in diesem Bereich, wie sie bei der Meisterung des Projekts gefragt war. Selbständigkeit und Kooperationsfähigkeit sind gleich wichtig. Sie ergänzen sich.

Profile

Über die Jahre würden sich die Schüler „profilieren“. Sie würden in der Äste-Erarbeitung Schwerpunkte setzen, ihre Schwerpunkte ausbauen. Ideal wäre unter den abgehenden Schülern ein buntes Gemisch von Profilen. Ab einem noch zu setzenden Alter könnten die Schüler die Schule mit dem Profil erworbener Kompetenzen verlassen, zu dem sie stehen können. Bis zur Volljährigkeit bräuchten sie natürlich die Zustimmung der Eltern oder Erziehungsberechtigten.

In diesem System gäbe es kein „Durchfallen“. Niemand müsste eine Jahrgangsklasse verlassen und wiederholen. Wenn ein Schüler einen angestrebten Ast nocht nicht erfolgreich abschließt, wiederholt er ihn in einem neuen Projekt oder er orientiert sich um, weil er merkt, dass seine Stärken woanders liegen.

Bäume als Ansatz für ein alternatives Bildungssystem. (Grafik: Gerhard Kugler)
Bäume und der perfekte Baum. (Grafik: Gerhard Kugler)

In der Grafik ist oben der „perfekte“ Baum. Darunter sind mittels Zufallszahlen gestutzte „Bäume“ von Abschluss-Profilen angedeutet. Sie lassen erahnen, dass sich die Schüler auf die Verfeinerung ihrer Interessen und Stärken konzentrieren können. Sie müssen sich nicht jahrelang in Fächern durchquälen – und schlimmstenfalls demütigen lassen -, die ihnen nicht liegen. Das Erarbeiten aller Äste zu einem perfekten, vollständigen Baum wäre für einen Schüler nicht einmal erstrebenswert, da er dann keine Schwerpunkte hat, auf die er sich weiter konzentrieren kann.

Nachfolgende Institutionen (von Handwerkskammern bis zu Universitäten) würden Mindestanforderungen bezüglich der Profile stellen. Da es keine Noten gibt, würden sich die Anforderungen natürlich nur auf die geforderten Muster beziehen können.

Die Gesellschaft sollte sich freuen: Sie hätte ganz unterschiedlich gebildete Menschen, keine Gleichmacherei. Und trotzdem gäbe es nicht die vielen, die keinen „anständigen“ Platz in der Gesellschaft fänden. Vielleicht würden sie auch nach  Schule oder Ausbildung an ihrem Profil Fehlendes ergänzen.

Im fünften Teil wird die „neue“ Rolle des Lehrers vorgestellt, aber auch das positive Bild des Menschen, der in der Zukunft mehr kann als die Maschinen der 4.0-Technologie.


Weitere Teile der Serie „Schluss mit Pauken und Noten!“

Teil 1: Der gegenwärtige Zustand des Bildungssystems

Teil 2: Grundsätzliches zu einer Alternative

Teil 3: Äste statt (Schul-)Fächer

Teil 5: Aufgaben der Lehrer


Fotos/Grafiken: Lacie Slezak (Unsplash.com) und Gerhard Kugler.

Psychologischer Psychotherapeut

Gerhard Kugler (Jahrgang 1946) war Psychologischer Psychotherapeut im Ruhestand. Er gehörte zu den Gründungsmitgliedern der Deutschen Gesellschaft für Verhaltenstherapie (DGVT) und der Gesellschaft für kontextuelle Verhaltenswissenschaften (DGKV), deren Therapieansatz die Akzeptanz- und Commitment-Therapie (ACT) ist.

Von Gerhard Kugler

Gerhard Kugler (Jahrgang 1946) war Psychologischer Psychotherapeut im Ruhestand. Er gehörte zu den Gründungsmitgliedern der Deutschen Gesellschaft für Verhaltenstherapie (DGVT) und der Gesellschaft für kontextuelle Verhaltenswissenschaften (DGKV), deren Therapieansatz die Akzeptanz- und Commitment-Therapie (ACT) ist.

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