Dr. Schuhmann lachte in die Kameras. Er war sich sicher, dass diese Bilder heute Abend über alle Nachrichtenkanäle laufen würden. Neben ihm saß Linda Mutton, die Pressereferentin der Firma. Sie grüßte gezielt alle wichtigen Medienvertreterinnen und ‑vertreter und schenkte allen ein persönliches individuelles Lächeln. Die Aktien der Firma hatten gestern bereits einen Sprung nach oben gemacht, als die ersten Gerüchte durchgesickert waren.
Ja, sie hatten es geschafft. Das Elend würde ein Ende haben. Und nicht nur die Betroffenen würden profitieren, indirekt würde dies zur Erhöhung der Lebensqualität in ganzen Stadtquartieren führen. Nur die Polizei würde wohl Stellen einbüßen.
Die erste Frage durfte der Vertreter des größten Fernsehsenders im Land stellen.
“Stimmt es, dass Ihr Impfstoff nicht nur Heroin- und Kokainabhängige von ihrer Sucht kuriert, sondern auch bei Drogen wie Marihuana, Alkohol und Zigaretten wirksam ist?”
“Da unser Wirkstoff direkt im Gehirn ansetzt, wirkt er bei jeder Form von Drogenmissbrauch. Bei einer Übererregung spezifischer Hirnareale wird eine körperliche Gegenreaktion ausgelöst, die jeden Drogenkonsumenten auf Dauer von weiterem Konsum abhält. Insofern haben Sie das völlig richtig verstanden.”
Eine Journalistin hakte nach.
“Es handelt sich ja aber eigentlich nicht um einen Impfstoff?”
“Der Begriff Antidrogenimpfung ist von uns umgangssprachlich gewählt, wir regen den Körper an, auf Drogeneinnahme mit einer Art Immunabwehr zu reagieren. Ich glaube nicht, dass Ihr Publikum die Details wirklich interessieren. Das ist dann mehr eine Diskussion für Fachleute.”
Weitere Fragen wurden gestellt.
“Das bedeutet das Ende aller Drogenkartelle?”
“Ja.”
“Es wird keine Drogenabhängigen mehr geben?”
“Nicht ganz, in seltenen Einzelfällen kommt es zu Resistenzen, aber dies betrifft nach unseren Tests weniger als 0,1 Promille einer Population.”
Die Fragen gingen noch eine Weile weiter. Den ganzen Tag über gab es Sondersendungen und am Abend war er in eine Talkshow eingeladen. Überall beglückwünschten ihn die Menschen und gratulierten zum Erfolg. Seit der Entdeckung von Antibiotika hatte es vermutlich keine wichtigere medizinische Entwicklung gegeben.
Der Wirt des Restaurants, in dem er regelmäßig zu Mittag aß, scherzte am nächsten Tag, wann er denn nun den Nobelpreis erhalten würde.
Alles war gut.
Sie impften die gesamte Bevölkerung.
Guido saß wie immer auf einem Stofffetzen vor seinem Supermarkt. Wie jeden Tag defilierten die Spießer auf dem Weg hinein und hinaus an ihm vorbei. Ab und an fiel etwas Kleingeld in seinen Hut. Er hing jetzt schon so lange an der Nadel, dass er sich ein anderes Leben gar nicht mehr vorstellen konnte. Als die Cops kamen und ihn wegschleppten, ließen sie ihm nicht einmal mehr Zeit, den Hut mit dem Kleingeld einzusammeln. Er kannte das schon.
Doch diesmal war es anders. Sie stellten ihn vor die Wahl Knast oder freiwillige Zustimmung zur Antidrogenimpfung. Nach der Impfung wurde er in ein Krankenzimmer gebracht in einer Klinik. Noch in der Nacht verschwand er mit dem Flachbildschirm des TV-Gerätes aus dem Gemeinschaftsraum. Für den Flachbildschirm erhielt er genug Stoff für zwei Schüsse.
Zwei Tage später lag er wieder vor dem Supermarkt. Als die Cops ihn das nächste Mal holten, brachten sie ihn gleich in die Klinik. Eine ganze Gruppe Weißkittel untersuchte ihn, schob ihn in eine Röhre, spritzte ihm irgendwas und ließ ihn dann in einem abgedunkeltem Zimmer zurück. Diesmal war die Tür verschlossen.
Am nächsten Tag erhielt er die Diagnose Impfresistenz und eine Bescheinigung für die Apotheke. Er bekam sein Heroin nun umsonst, einer von elf resistenten Fällen in Deutschland. Außerdem wurde ihm ein Zimmer in einer betreuten Wohngemeinschaft angeboten. Besser als die Straße war das allemal. Immer wieder musste er zu den Weißkitteln und sich untersuchen lassen.
Er war ein interessanter Fall. Ihm wurde das unheimlich und er fragte nach einem Therapieplatz.
In der Entzugseinrichtung gab es außer ihm nur zwei anderen Abhängige, eine Frau und einen Mann. Die Einrichtung stand kurz vor der Schließung, aber auf jeden der drei Abhängigen kamen zwei Ärzte, eine Psychologin, ein Sozialarbeiter und zwei Krankenschwestern und zusätzlich noch Verwaltungspersonal.
Er gab nach kurzer Zeit jeden Widerstand auf.
Er war nun clean.
Monate zogen ins Land.
Dr. Schuhmann wurde immer noch herumgereicht. Aber im letzten Monat hatte sich sein Verhalten verändert. Misstrauisch beobachtete ihn die Pressereferentin. Sie konnte nicht glauben, was sie sah. Schuhmann war doch einer der ersten gewesen, die geimpft worden waren mit ihr zusammen – öffentlich, als Werbung – und nun das.
Dr. Schuhmann lallte und versuchte, seiner Mitarbeiterin an die Brüste zu grapschen. Fassungslos registrierte die Pressereferentin das Geschehen. Es hatte in der letzten Zeit mehrfach Getuschel über derartige Vorfälle gegeben. Aber sie hatte das nicht geglaubt, sie hatte gedacht, es wäre gemeiner Tratsch aus Eifersucht. Diesmal passierte es das erste Mal in der Öffentlichkeit. Sie versuchte, Schuhmann aus dem Vortragsraum zu zerren und ließ ihre Assistentin verbreiten, dass Dr. Schuhmann leider an einer schweren Grippe erkrankt sei. In einigen Tagen sicher aber wieder für Fragen zur Verfügung stünde. Mit Mühe gelang es ihr, Schuhmann vom Gang in einen kleinen Nebenraum zu bugsieren.
“Mein Gott, was ist los?”
“Milch, trinken Sie etwas Milch.”
“Nein Danke.”
Schuhmann tätschelte ihr die Wange.
“Ach, kommen Sie, seien Sie nicht so. Hier.”
Er hielt ihr eine aufgerissene Milchtüte hin.
“Nein.”
“Dann geh ich wieder raus.”
“Stopp, ich trinke die Milch und Sie tun dann, was ich sage.”
Sie musste unter allen Umständen dafür sorgen, dass die Presse Schuhmann so nicht zu Gesicht bekam. Schuhmann nickte grinsend. Zwar ekelte sie sich vor Milch, aber Job war Job.
Angeekelt schluckte sie etwas von der Milch hinunter. Es schmeckte erstaunlich. Sie nahm noch einen Schluck. An sich war es ja egal, sie trank die Tüte leer. Schuhmann hatte noch einen Liter. Sie riss ihn auf und trank weiter. Irgendetwas war seltsam. Schuhmann umarmte sie. Sie lachte. Dann ging irgendwie das Licht aus.
Als sie am nächsten Morgen aufwachte, lagen sie in Schuhmanns Wohnung auf der Couch. Sie hatten hier offensichtlich zu zweit übernachtet. Schuhmann kam gerade aus dem Bad, er hatte einen starken Kaffe gekocht und reichte ihr eine Tasse. Seine Hand zitterte leicht. Überall im Zimmer lagen leere Milchtüten. Es stank. Aber irgendwie löste der Geruch keinen Ekel bei ihr aus, sondern Durst. Milch, sie brauchte Milch.
Schuhmann unterbrach ihre Gedanken.
“Trinken Sie erst eine Tasse Kaffee.”
Sie versuchte Ordnung in ihre Gedanken zu bringen. Schuhmann sah ihren ungläubigen Blick. Er setzte sich ihr gegenüber an den Couchtisch.
“Es ist die Milch. Der Impfstoff führt dazu, dass Milch starke halluzinatorische und euphorisierende Effekte auslöst. Ich, ich kann es nicht mehr kontrollieren.”
“Was war letzte Nacht?”
Schuhmann schüttelte den Kopf.
“Ich weiß auch nicht.”
Sie stand auf und lief in die Küche. Dort stand eine offene Tüte Milch. Sie konnte dass nicht glauben, roch an der Milch. Sie roch ganz normal, sehr gut. Sie nahm einen Schluck, dann noch einen. Sie lachte. Es war doch alles gut.
Als Schuhmann in die Küche kam, tanzte sie auf einem der Stühle und reichte ihm den Rest der Milch. Sie blieben den Tag über in Schuhmanns Wohnung. Als sie alle vorhandenen Milchtüten ausgetrunken hatten, gingen sie kurz zum Supermarkt.
Sie waren nicht die einzigen.
Innerhalb weniger Monate waren mehr als 90 Prozent der Bevölkerung milchabhängig.
Die Milchpreise erreichten ein Allzeithoch. Bei politischen Empfängen wurde die Milch in großen Schüsseln und verschiedenen Farbnuancen und Geschmacksrichtungen serviert. Die Produktivität sank um fast 40 Prozent. Alle Arbeitslosen fanden eine Anstellung, da aufgrund der allgemeinen Milchsucht alle Stellen doppelt besetzt werden mussten, um zumindest halbwegs die Produktionsabläufe sicherzustellen. Auf den Straßen fanden regelrechte Milchorgien statt.
Milch wurde zum Nationalgetränk erhoben und Leute, die keine Milch tranken, galten schnell als asozial. Alle tranken Milch und nur Außenseiter nahmen sich davon aus.
Guido war immer noch clean. Milch schmeckte für ihn noch genauso widerlich wie früher. Wieder sahen ihn die Leute abschätzig an, immer wenn er das Mittrinken ablehnte. Früher hatte er gedacht, es gäbe nichts schlimmeres als verklemmte nüchterne Spießer.
Heute wusste er, dass Spießer auf Droge noch schlimmer waren.
Foto: Sarah Cervantes (Unsplash.com).
Yuriko Yushimata wurde als Distanzsetzung zur Realität entworfen. Es handelt sich um eine fiktionale und bewusst entfremdete Autorinnenposition, die über die Realität schreibt. Die SoFies (Social Fiction) zeigen in der Zuspitzung zukünftiger fiktiver sozialer Welten die Fragwürdigkeiten der Religionen und Ersatzreligionen unserer Zeit. Teilweise sind die Texte aber auch einfach nur witzig. Sie befindet sich im Archiv der HerausgeberInnengemeinschaft Paula & Karla Irrliche (www.irrliche.org). Spiegelung und Verbreitung der Texte sind ausdrücklich gewünscht!