Es war die immer wieder auftauchende Werbung von Computerspielen, die mich bestürzt aufhören ließ, und mich zu diesem Essay motivierte. Da ist die Rede von „Suchtfaktor garantiert“ oder „Spiele es ein-, zweimal und Du wirst süchtig danach!“
Eben eine derartige Werbung halte ich nicht nur für ethisch bedenklich, sondern für gefährlich: Da wird versucht, dem ohnehin reizüberfluteten Konsumenten einzureden, eine Sucht wäre etwas Positives, Erstrebenswertes, einfach um ein bestimmtes Produkt – in diesem Falle ein Computerspiel – besser zu verkaufen …
Eine Erinnerung: Im Wintersemester 1997/98 besuchte ich in meinem Nebenfach Religionswissenschaft ein Seminar zu dem kulturkritischen Text „Das Unbehagen in der Kultur“ von Sigmund Freud(1).
Herausgekommen sind dabei – neben einer Hausarbeit zum Scheinerwerb – diverse Erkenntnisse:
- Leben besteht aus Leiden, Enttäuschungen, Triebversagungen und unlösbaren Aufgaben.
- Daher bedienen sich Menschen verschiedenster Linderungsmittel, als da sind (nach Freud):
(a.) Gewollte Vereinsamung
(b.) Unterwerfung der Natur
(c.) Intoxikation
(d.) Ertötung der Triebe (orientalische Lebensweisheit; Buddhismus)
(e.) Libidoverschiebungen (Sublimation)
Aus der Wissenschaft zurück in die Gesellschaft: Waren es einst toxische Stoffe wie Nikotin und Alkohol, um nur die zu nennen, die verharmlost wurden, sind es seit Mitte der 1990er-Jahre zunehmend „digitale Schnuller“ wie Internet, Smartphone, Computerspiele und gefühlskalte soziale Netzwerke, die vielen Menschen zur Leidvermeidung dienen. Doch welches Leid?
Sigmund Freud verortete hier eine „soziale Leidensquelle“, will sagen, die Gesellschaft, in der wir lebten und leben, ist eben doch nicht so humanistisch und menschenfreundlich, wie sie es von sich unreflektiert behauptet …
„Als „Nicht-stoffgebundene Abhängigkeiten” gelten Glücksspiel, Computerspiel- oder Internetsucht, aber auch Arbeitssucht oder Sexsucht. Krankhaftes Stehlen (Kleptomanie) oder Brandstiften (Pyromanie) werden medizinisch nicht zu den Suchterkrankungen gezählt. Diese Verhaltensauffälligkeiten werden als Störungen der Impulskontrolle zusammengefasst, d.h. der Patient kann seine Handlungen nicht bewusst steuern.“ (Quelle: Was ist Sucht? Neurologen und Psychiater im Netz)
Nun, es ist ja nicht jedem gegeben, aufgeklärt und reflektiert durch unsere Gesellschaft zu wandeln. Wünschenswert wäre es allerdings schon, Menschen und Bürger zu sehen, die mündig dem Verblendungszusammenhang entgegentreten, wenn es heißt, der Suchtfaktor wäre garantiert.
Quellen und Anmerkungen
(1) Sigmund Freud (1856 – 1939) war ein Neurologe, Tiefenpsychologe, Kulturtheoretiker und Religionskritiker aus Österreich. Er begründete die Psychoanalyse und gilt als einer der wichtigsten Denker des 20. Jahrhunderts. 1930 schrieb er den Aufsatz „Das Unbehagen in der Kultur“. Freud setzte sich darin mit der Frage auseinander, was Kultur für die Menschen bedeutet und welche Bedingungen erfüllt sein müssen, damit Kultur entsteht und erhalten bleibt. Freud nahm an, dass der eigentliche Sinn des Lebens im Streben nach Glück liegen würde und schon das Ausbleiben eines Unglücksgefühls Glück bedeuten könne. Freuds Theorien und Methoden werden bis heute diskutiert und teilweise angewendet. ↩
Foto: Rhett Noonan (Unsplash.com).
Dr. Christian Ferch studierte Linguistik, Philosophie und Religionswissenschaft mit den Schwerpunkten Semantik, Kommunikationstheorie und Religionskritik. Er war Chefredakteur der Studentenzeitung „Die Spitze“ und schrieb seine Dissertation unter dem Titel „Elemente einer allgemeinen Kommunikationstheorie“ an der Freien Universität Berlin. Christian Ferch veröffentlicht zahlreiche philosophische Texte auf seiner Homepage. Im Podcast Philosophie Heros reflektiert er auf gesellschaftliche Aspekte aus dem Blickwinkel der Philosophie und der Kommunikation.
Eine Antwort auf „Hurra, wir leiden noch: Ein Essay über Sucht und Verblendung“
Sucht und Abhängigkeit sind das Fundament des allesbeglückenden, freien Marktes der Konsumgüter. Humanistisch und menschenfreundlich zu sein, bedeutet, niemandem mit Absicht zu schaden aber jedem gleichberechtigt alle Mittel im freien Verkauf anzubieten, mit denen er oder sie sich selbst oder anderen schaden kann. Wir glauben schließlich an Eigenverantwortung und freien Willen. Wer das anzweifelt, kann ja nach Kuba auswandern.