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Anarchismus

Anarchie: Ein missverstandenes Konzept

Wäre Kooperation statt Konkurrenz und Gier die Maxime und würden Menschen von Kindesbeinen an gefördert, gefordert und geliebt, wäre das Gesellschaftsmodell der Anarchie wohl die logische Folge.

Anarchie ist ein Wort, das zahlreiche negative Assoziationen hervorruft und untrennbar mit Chaos und Gefahr verwoben ist. Sei es in Filmen oder Zeitungsberichten, in den TV-Nachrichten und in Büchern … Dort, wo Anarchisten zu Werke sind, explodiert bald etwas, brennen Mülltonnen und Häuser, werden Scheiben eingeschlagen und Wände beschmiert. Dabei heißt Anarchie – unschuldig genug – nichts weiter als: “die Abwesenheit von Herrschaft”.

Was bedeutet Anarchie, und womit wird sie verwechselt?

Anomie bezeichnet das Vorherrschen von Chaos und Destruktivität, einen Ordnungsverlust, der von Plünderungen, Gewalt und dem Zusammenbruch jeglicher Struktur gekennzeichnet ist. Kurzum, den Zustand, der fälschlich mit dem Begriff Anarchie verknüpft ist.

Anarchie hingegen meint eine Gesellschaftsordnung, ein System der Selbstorganisation und somit gewissermaßen das Gegenteil von Chaos. Im scharfen Kontrast zum bestehenden System basiert eine anarchisch orientierte Gesellschaft jedoch auf Freiwilligkeit und Mitverantwortung jedes einzelnen. Es geht keineswegs um die Abwesenheit von Struktur (sonst wären sehr rasch nur noch Güter verfügbar, die autark herstellbar sind) oder Verhaltensregeln, sondern um die Abwesenheit von Fremdbestimmung. Die Unumstößlichkeit der persönlichen Freiheit jedes einzelnen und damit als zwingender, tiefster Grundsatz auch der Respekt vor der persönlichen Freiheit jedes anderen sind die tragenden Säulen dieser Weltanschauung.

Wie denkt ein echter Anarchist?

Wohlgemerkt, wir sprechen hier nicht von jugendlichen Rabauken, die sich das coole, anrüchige A-Symbol auf ihr Kapperl bügeln, und schon gar nicht von Bombenbastlern, die allen Ernstes glauben, eine friedliche Weltordnung durch gewalttätige Handlungen erreichen zu können. Das kann und wird niemals funktionieren und widerspricht obendrein vollkommen dem Geist der Idee.

Anarchie wäre (allem Zynismus zum Trotz) vielmehr irgendwann die gewachsene, friedliche Folge davon, wenn wir von Kindesbeinen an gefördert, gefordert und geliebt würden, wenn Zusammenarbeit statt Konkurrenz und Gier die Maxime wäre. Anders als wir jetzt lebenden Menschen, die von klein auf gelernt haben, dass alle anderen Konkurrenten und potenzielle Feinde sind, würde es in diesem Geiste aufgewachsenen Menschen leicht fallen, altruistisch zu handeln und darauf zu vertrauen, dass ihre Mitmenschen dies ebenso tun werden – ein Vertrauen, das Grundvoraussetzung für dieses Gesellschaftsmodell ist.

Um zu funktionieren, erfordert Anarchie Selbstverantwortung, Kooperation, Konsensfindung und Vernunft. Die Anforderung geht über bloßes Erwachsensein hinaus und umfasst eine Großzügigkeit im Denken, ein komplexes Verständnis dafür, dass das Gruppenwohl dem eigenen Wohl entspricht – denn den verpflichtenden Zivil- oder gar Heeresdienst oder zwangsweise erhobene Steuern und Abgaben kennt die Anarchie nicht.

Sie verbietet nichts, das anderen nicht schadet, und kommt überhaupt mit einem Minimum an (von der jeweiligen Gemeinschaft autark festgelegten) Regeln aus – wichtiger als bis ins letzte Detail ausgearbeitete (und dann doch umgehbare) Gesetze ist der Geist des Respekts voreinander. Es ist wohl müßig zu betonen, dass wir als Staaten der Welt, als Gesellschaften und (mit wenigen Ausnahmen) auch als Individuen weit davon entfernt sind, mit solchen Freiheiten umgehen zu können.

Dennoch ist es interessant, über folgenden Gedanken zu sinnieren: Menschen würden einerseits stehlen, plündern und morden, wenn die Staatsgewalt sie nicht daran hinderte … die Mehrzahl von uns ist sich dessen ebenso sicher wie andererseits der Tatsache, dass er oder sie selbst ein anständiger Mensch ohne kriminelle Neigungen ist.

Wer aber sind dann all diese Verbrecher, vor denen wir uns fürchten müssen? Ich würde meinen, es sind genau jene, die sich schon jetzt trotz aller Regeln und Polizeipräsenz nicht davon abhalten lassen – und zwar großteils aus Gründen, die es in einer Welt des freiwilligen Teilens und füreinander Sorgens nicht mehr gäbe. (siehe Artikel “Der Barbar in uns” sowie “Strafe und Sühne – ein Allheilmittel?“)

Ich will nicht behaupten, dass es in einer Welt ohne Mangel überhaupt kein Verbrechen mehr gibt – sowohl angeborene psychische Erkrankungen als auch die Lust am Verbotenen wird es wohl immer geben. Doch die überwältigende Mehrheit, nämlich die aus Not begangenen Straftaten und die weitergegebenen Misshandlungen, würden wegfallen.

Warum bricht das System der Freiwilligkeit zusammen, sobald eine Gruppe zu groß wird, um noch alle Mitglieder persönlich zu kennen?

Bedenkt man, wie wehrlos ein einzelner Mensch ist und wie wenig er ohne die gewaltige Zeitersparnis durch Gruppenvorteile wie Arbeitsteilung und Spezialisierung je herstellen könnte, so ist klar: Wir haben uns als Gemeinschaftswesen entwickelt und sind mit den sozialen Fähigkeiten ausgestattet, die dafür erforderlich sind. Unser bis in die Gene hinein verankerter Wille zur Gemeinschaft hat sich jedoch unter Umständen entwickelt, die heute nicht mehr gegeben sind.

Wir kannten alle Mitglieder unseres Stammes. Wenn wir etwas für alle taten, wurden wir dafür mit Respekt und Dankbarkeit belohnt und konnten uns umgekehrt nicht unendlich viel Fehlverhalten leisten, ohne dafür gemieden oder zur Rechenschaft gezogen zu werden.

Dieses Regulativ fällt plötzlich weg, sobald unsere Gruppen größer als etwa 150 Mitglieder werden, und an seine Stelle müsste abstrakte Sorge um das Gemeinwohl treten. Leider (und vielleicht unvermeidlicherweise) verlief unsere geistige Entwicklung gänzlich anders, womit wir uns im nächsten Artikel befassen werden.


Idealism Prevails ist ein unabhängiges Medium aus Österreich.

Redaktioneller Hinweis: Der Beitrag von Serena Nebo erschien erstmals auf Idealism Prevails. Idealism Prevails ist eine unabhängige Medienplattform, die sich auch als Ort zur gesellschaftlichen Begegnung und Bewusstseinsbildung versteht. Herausgeber ist der in Wien beheimatete Verein “Idealism Prevails – Bewegung für mehr Eigenverantwortung, Mitmenschlichkeit, freisinniges Denken und bürgerliche Freiheiten”. Seit 2018 wird inhaltlich auf vier Human Challenges fokussiert: Digitaler Wandel, Zusammenhalt der Gesellschaft, Gesundheit und gesundes Leben und die Grund-, Freiheits-, Menschen- und Bürgerrechte. Idealism Prevails veröffentlicht auf seiner Website bilinguale Berichte und Veranstaltungsreports und verbreitet Inhalte wie zum Beispiel Blog-Artikel und Videogesprächsformate in den sozialen Medien Facebook, Youtube und Twitter. Selbstveranstaltete Events sollen den Dialog zwischen Experten und der Bevölkerung zu den Human Challenges intensivieren. Und warum? To make the world a better place!


Fotos: Nikita Kachanovsky und Idealism Prevails.

Serena Nebo ist seit 2016 Autorin bei Idealism Prevails und schreibt über gesellschaftliche Zusammenhänge, Modelle des Zusammenlebens und die Notwendigkeit, eigene Überzeugungen stets zu hinterfragen.

Von Serena Nebo

Serena Nebo ist seit 2016 Autorin bei Idealism Prevails und schreibt über gesellschaftliche Zusammenhänge, Modelle des Zusammenlebens und die Notwendigkeit, eigene Überzeugungen stets zu hinterfragen.

4 Antworten auf „Anarchie: Ein missverstandenes Konzept“

Es gab zu allen Zeiten der Anarchie missgünstige Menschen, die Chaos und Herrschaftslosigkeit als Drohung verbreiteten: Es sind alle an Autoritäten oder ihre eigene Macht glaubenden, die diesen Unsinn verbreiten, und Augustin Souchy, der Gewerkschaften und genossenschaftliche Projekte in allerlei Ländern aufgebaut hatte, mit Lenin stritt und am 1. Januar 1984 in München starb, schrieb an seinen alten Bekannten Willy Brandt, warum er gegen besseres Wissen solchen Unsinn verbreiten würde?

Der Artikel ist wieder ein guter Anstoß, über die Organisation der zahlenmäßig explodierten Menschheit nachzudenken. Aber was ist eine “abstrakte Sorge um das Gemeinwohl”? Gemeint ist wohl, dass man die Sorge nicht mehr ohne Reflexion spürt. Das liegt nicht mehr nur an der Unübersichtlichkeit der großen Masse von Menschen, sondern auch an dem geldbasierten System unserer Organisation, wofür noch keine Alternative greifbar scheint.
Ich habe mal ein laienhaftes Filmchen gemacht, in dem ich Gruppen von 7 bis 13 Menschen vorschlage, die dann wieder räteartig nach “oben” vertreten werden:

Auf der nächsten Ebene wären das dann ungefähr die im Artikel genanten 150 Menschen. Zusätzlich helfen uns wohl auch die neuen Medien, die allerdings auch Abstumpfungen fördern.
Auch die Herrschaft des Geldes müssten wir von uns abschütteln, indem wir regional und ergänzend über die neuen Medien eine Greifbarkeit und Übersichtlichkeit des “Tausches” und Helfens organisieren.
Meine Vorschläge haben den Vorteil, dass man übers Analysieren hinaus experimentieren kann.
G.K.

Vielen Dank für den Kommentar und den Hinweis auf das hervorragende Video mit den Erklärungen zur Situation der globalisierten Gesellschaft und dem aufgezeigten Weg zur direkten Demokratie, um die Problematiken der Gegenwart und Zukunft zu lösen.

Auch diese Gedanken kann man weiter verfolgen. Die Sehnsucht nach Übersichtlichkeit auch in sozialen Gruppen scheint in uns ganz natürlich zu sein. Die Beduinen hatten früher eine feste Regel. Wenn es mehr als 50 Mitglieder in der Gruppe wurden, so mußte der Anführer die Überzähligen ausstoßen, sprich die Familie, welche die Schallmauer durchbrach, sollte die Gruppe verlassen. Das hatte vor allem den Grund, daß die Erfahrung der Alten gezeigt hatte, kleinere Verbände können in der Wüste besser überleben und die Tiere, die sie mitführten finden immer noch genügend Futter. O.K. – sicher weit weg. Aber auch bei uns wäre eine dörfliche Gemeinschaft sozialer, wenn die Mitglieder sich nicht als Konkurrenten zueinander sehen müßten. Die Hilfsbereitschaft wäre auch automatisch viel größer. Es gibt ( ich glaube in Meckpom ) eine dörfliche Gemeinschaft ( hervorgegangen aus der Idee eines Paares), die jetzt schon 150 Mitglieder in einer Art Kommune versammelt hat, und echt demokratisch gemeinsam darüber entscheidet, was täglich gearbeitet werden muß, um das lebenswerte Überleben zu sichern. Das Dorf ist gut organisiert und jeder hat die Chance sein besonders Talent für die Gemeinschaft einzusetzen. Das Ergebnis ist die Potenzierung einzelnen Glücks zum freudigen Gemeinwohl.

Nun, unsere überwiegende Wirklichkeit sieht anders aus. Es liegt jedoch vor allem an uns, ob wir weiterhin im kapitalistischen Hamsterrad rotieren- oder aber den Ausstieg vorziehen wollen.
Möglichkeiten gibt es. Regional- und bei sehr gutem Willen “Überregional” . Der innere Schweinehund ist der Kumpel der Herrschenden.

LG Uwe

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