Er war ein guter Junge.
Egal, was die Polizei sagte. Sie kannte ihn doch von klein auf, ihren Enkel. Und er war doch das einzige Opfer.
Die Verhöre dauerten jetzt schon wieder fast den ganzen Tag.
Sie hatten ihn gefunden, schon halb verwest in seinem Kellerlabor. Irgendein übereifriger Polizist hatte gleich alles absperren lassen.
Bioterrorismus!
So ein Unsinn, dabei hatte ihr Junge doch nur Kranken helfen wollen. Sie kannte ihn schließlich. Seine Mutter war ja abgehauen mit diesem ‘Farbigen’, wie man jetzt sagte. Das waren ja attraktive Männer, für eine Nacht, aber für immer?
Und sein Vater, ihr Sohn, war für sein Land gestorben in einem anderen Land.
Also war er bei ihr aufgewachsen.
Sie hatte ihm beigebracht, stolz auf sich zu sein. Nur Menschen, die auf sich selbst stolz sind, können auch andere Menschen respektieren.
Jetzt lag auch ihr Enkel schon im Grab, das heißt, das, was sie von ihm übrig gelassen hatten. Sie hatten ihn aufgeschnitten, Obduktion nannten sie das, und dann verbrannt, aus Sicherheitsgründen.
Wahrscheinlich wollten sie nur vertuschen, dass irgendeiner von diesen Junkies, die in diesem Viertel rumliefen, ihn ermordet hatte. Die wurden immer unverschämter.
Und die Polizei tat nichts.
Sie hatte ihren Enkel immer wieder gebeten, sich doch anderswo ein Labor zu suchen. Doch er hatte immer nur geantwortet: “Dies ist genau der richtige Ort.”
Und dann vor vier Wochen hatte er sie überraschend besucht.
Er war so glücklich gewesen. Die ganze Zeit hatte er davon geredet, dass er jetzt soweit wäre, dass sich alles ändern würde, dass die Welt jetzt begreifen müsste und das Land würde wieder auferstehen, gereinigt. Sie verstand davon nichts, aber sie hatte sich für ihn gefreut.
Dann hatte sie nichts mehr von ihm gehört, bis die Polizei kam.
Sie hatten sie immer wieder dasselbe gefragt. Und heute hatten sie sie noch einmal aufgefordert, ihre Aussagen zu wiederholen.
Dabei hatte sie doch alles gesagt.
Er war ein guter Junge.
Die alte Frau starrte aus dem Fenster.
Der Polizist betrachtete die alte Frau durch die Glasscheibe. Vermutlich hatte sie wirklich nichts gewusst, nichts von dem, was ihr Enkel geplant hatte.
Sie hatten Glück gehabt. Der Polizist, der zuerst zum Tatort gerufen wurde, hatte kurz vorher einen Kursus zur Seuchenbekämpfung absolviert. Übereifrig hatte er alles absperren lassen, glücklich, mit seinem Wissen wichtig zu tun. Dann hatte er den medizinischen Dienst informiert.
Die zuständige Medizinerin war zuerst nicht sehr engagiert gewesen. Doch dann sah sie das Labor und den Leichnam und verschärfte die Maßnahmen.
Sie hatten einen Ausbruch des Virus verhindern können.
Dem Polizisten graute immer noch, wenn er an das dachte, was der Tote geplant hatte. Der Polizist ging alles noch mal in Gedanken durch.
Der Tote hatte versucht, einen Virus zu entwickeln, der für alle farbigen Menschen tödlich war, für Weiße aber ungefährlich, von ihnen aber auch übertragen wurde. Und er war überzeugt gewesen, dass seine Versuche erfolgreich waren.
Offensichtlich hatte er alle Farbigen gehasst. Überall im Labor hingen Naziembleme.
Er hatte sich selbst infiziert, um den Virus zu verbreiten. Er hatte sich dann wohl schlafen gelegt, um am nächsten Morgen mit der Verbreitung des Virus zu beginnen, als menschlicher Todesbote.
Doch der Virus war unbemerkt mutiert und tötete nun auch Weiße. Der Virus hatte ihm keine Zeit gelassen.
Die Menschen hatten wahnsinniges Glück gehabt.
Die alte Frau stand auf. Sie durfte gehen.
Sie war jetzt allein.
Sie war sich sicher, dass einer dieser farbigen Junkies ihren Enkel auf dem Gewissen hatte. Die Polizei wollte das nur vertuschen.
Die Farbigen gehörten hier einfach nicht her, dieser Gedanke kreiste immer wieder in ihrem Kopf.
Am Abend benutzte sie das erste Mal das Parfum, das ihr Enkel ihr vor vier Wochen mitgebracht hatte. Er war doch ein guter Junge gewesen.
Zwei Wochen später war der Ausbruch des Virus nicht mehr zu stoppen.
Die alte Frau war das erste Opfer.
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Yuriko Yushimata wurde als Distanzsetzung zur Realität entworfen. Es handelt sich um eine fiktionale und bewusst entfremdete Autorinnenposition, die über die Realität schreibt. Die SoFies (Social Fiction) zeigen in der Zuspitzung zukünftiger fiktiver sozialer Welten die Fragwürdigkeiten der Religionen und Ersatzreligionen unserer Zeit. Teilweise sind die Texte aber auch einfach nur witzig. Sie befindet sich im Archiv der HerausgeberInnengemeinschaft Paula & Karla Irrliche (www.irrliche.org). Spiegelung und Verbreitung der Texte sind ausdrücklich gewünscht!