Der Westen hat seine Ordnung verloren. Mehr noch! Der Westen, so wie er sich im Jahr 1990 als Gewinner gegen den Osten in dem Wettstreit einer bipolaren Welt sah, ist nicht mehr existent.
Statt einer Epoche jenseits der Geschichte, neu, frei und marktwirtschaftlich, schlitterte das politische System des Westens in die Neuaufteilung der globalisierten Welt. Und, siehe da, was dabei herauskam, waren imperialistische Machtspiele, wie sie archaischer nicht sein konnten. Heute steht der alte Westen gegen die ehemalige Sowjetunion.
Mit der Supermacht jenseits des Atlantiks, die schwer an strategischer Überdehnung laboriert, hat der europäische Westen keinen zuverlässigen Partner mehr. Seitdem die USA nicht mehr alleinige Weltpolizei spielen wollen und alle Kosten dafür tragen, kommt der europäische Westen immer mehr zu der Erkenntnis, dass er mehr Verantwortung übernehmen muss. Nur, für was?
Es wird tunlichst verschwiegen, worin die Verantwortung eigentlich besteht. Dabei ist die Beantwortung der Frage relativ einfach. Verantwortung im Sinne derer, die sie in diesem Fall fordern, ist die Parteinahme mit den USA gegen deren Gegner und für die damit verbundenen Ziele.
Verantwortung heißt, der US-Diplomatie zu folgen, heißt Waffenlieferungen in die Länder zu gewähren, die im Interessenfeld der USA liegen. Verantwortung heißt, auch dort militärisch präsent zu sein, wo es die USA sind und Verantwortung heißt, das wichtigste strategische Ziel einer künftigen US-Weltherrschaft mit zu avisieren: Russland.
Wer Zugriff auf die Ressourcen des sogenannten Hinterlandes, sprich Russland, hat, der beherrscht die Welt, auch gegen ein mächtiges China. Das ist der Plot. Und das ist die Verantwortung, von der gesprochen wird.
Es stellt sich die Frage, ob es nicht schon längst zu spät ist, um einen Krieg gegen Russland zu verhindern. Die Zeichen stehen auf Sturm und die Abstinenz von politischer Bildung im Westen seit dem Jahr 1990 hat zur Folge, dass kaum noch jemand bemerkt, wie sehr die westlichen Propagandamaschinen laufen. Gegenwärtig sieht es so aus, als rege sich gegen die Aufrüstung gegenüber Russland, die bereits einem Aufmarsch gleicht, in den Zentren der Aggression kein Widerstand.
Schon die Stationierung von NATO-Raketen im Baltikum und in Polen wurde geschluckt, der inszenierte Bürgerkrieg in Georgien wurde hingenommen, der Putsch in der Ukraine ging durch und nun der Diplomatenkrieg. Das vermeintliche System der Rechtsstaatlichkeit wirft dem Beschuldigten vor, seine Unschuld nicht bewiesen zu haben. In jedem Amtsgericht würde eine solche Argumentation zum Abbruch des Verfahrens führen, aber hier, bei der Wertegemeinschaft, müssen Beschuldiger nichts, die Beschuldigten aber alles beweisen. Es ist ein Elend, es ist ein Malheur, aber der alte, uns so vertraute Westen existiert nicht mehr.
Und die neue, freie Welt, bewegt sich in den Worthülsen der alten. Das macht es ihr möglich, ihren monströsen Charakter für eine Weile zu verbergen. Die Neuaufteilung der Welt, deren nur noch mit Ekel kommentierbare Spaltung der Menschheit in astronomisch reich und bettelarm, die Enteignung aller, wirklich aller natürlichen Ressourcen durch diese astronomisch Reichen und die Durchsetzung ihrer Interessen mit Kriegen, egal was sie kosten und egal, wen sie das Leben kosten.
Wir sollten uns verabschieden von einem Diskurs, der dieser Gesellschaft gar nicht mehr gerecht wird. Es geht schon lange nicht mehr um zivilisatorische Werte. Es geht um Macht und Besitz. Alles andere ist Schmu.
Foto: Carlos3653 (Own work, Wikipedia, CC BY-SA 4.0).
Dr. Gerhard Mersmann ist studierter Politologe und Literaturwissenschaftler. Er arbeitete in leitender Funktion über Jahrzehnte in der Personal- und Organisationsentwicklung. In Indonesien beriet er die Regierung nach dem Sturz Soehartos bei ihrem Projekt der Dezentralisierung. In Deutschland versuchte er nach dem PISA-Schock die Schulen autonomer und administrativ selbständiger zu machen. Er leitete ein umfangreiches Change-Projekt in einer großstädtischen Kommunalverwaltung und lernte dabei das gesamte Spektrum politischer Widerstände bei Veränderungsprozessen kennen. Die jahrzehntelange Wahrnehmung von Direktionsrechten hielt ihn nicht davon ab, die geübte Perspektive von unten beizubehalten. Seine Erkenntnisse gibt er in Form von universitären Lehraufträgen weiter. Sein Blick auf aktuelle gesellschaftliche, kulturelle wie politische Ereignisse ist auf seinem Blog M7 sowie bei Neue Debatte regelmäßig nachzulesen.
Eine Antwort auf „Abgesang: Der alte Westen ist nicht mehr“
Guten Morgen Herr Mersmann,
Was schlagen Sie vor, was könnten wir dagegen setzen? Es ist tatsächlich eine Katastrophe. Wie bekommt man die Unbestechlichen an einen Tisch? Es gibt so viele gute Menschen! DOCH die räumlichen und sprachlichen Distanzen behindern einen effektiven größeren Zusammenschluß gegen die Dummheit der menschlichen Dragödie. Die vorauseilenden Gehorsamkeiten in unserer Gesellschaftsform sind der geistige Kondom gegen ein dringendes Aufwachen in voller Breite und durch alle Schichten unserer fortschreitenden Verblödung.
WAS bitte löst diesen gordischen Gehirnknoten?
REVOLUTION? Ich sehe leider noch keine tragbare kritische Masse dafür.
Ihnen allen ein friedliches Osterfest.
L.G.
Uwe Leonhardt