Die Sonne stand niedrig über der sumpfigen Landschaft. Sie war nur dürftig in altes Sackleinen gekleidet. Hunger, Hunger schrie ihr Magen. Aber jedes Mal, wenn sie Menschen hörte, versteckte sie sich.
Sie wollte nicht sterben.
Dann hörte sie die Glöckchen und wusste, es war der Schwarze Mann. Sie glaubte schon, seine Kutte durch das Gebüsch zu sehen.
Er durfte ihr nicht zu nahe kommen. Sie nicht berühren.
Sie lief kopflos in den Sumpf. Doch das Läuten der Glöckchen hörte nicht auf.
Sie spürte, wie der Boden unter ihr nachgab, ein Sumpfloch, sie saß fest, die Glöckchen kamen näher, immer näher.
Nun würde es also auch sie treffen. Sie wimmerte.
Der schwarze Mann, die Pest, hatte ihr Dorf praktisch ausgerottet. Es war das Jahr 1347.
Schweißgebadet wachte Miriam auf. Wieder dieser Alptraum, wie so viele Nächte in letzter Zeit.
Ihre Mutter hatte schon Kaffee gekocht. Als sie in die Küche schlurfte, sah sie kopfschüttelnd ihre Tochter an.
“Du darfst nicht so lange wach bleiben. In Deinem Alter mussten wir schon arbeiten. Manchmal denke ich, das war gar nicht so schlecht.”
Ihr Vater schaute hinter der Zeitung hervor.
“Oder Du musst halt heiraten, aber das ist ja auch nichts mehr für Euch. Wie geht es eigentlich Thomas?”
Miriam nahm ohne ein Wort ihre Kaffeetasse und schlummelte in ihr Zimmer zurück. Sie spürte die missbilligenden Blicke ihrer Eltern im Rücken.
“Was willst Du denn werden?
Wir machen uns halt Gedanken.”
In der nächsten Nacht war sie wieder dort.
Diesmal stand sie mitten auf einer Lichtung, es war kalt, sie zitterte. Dann sah sie die Toten, einen Berg Leichen, halb verkohlt, aber nicht richtig verbrannt, der Pesteiter war noch überall.
Sie musste hier weg.
Sie versuchte zu laufen, aber ihre Beine gehorchten ihr nicht. Statt wegzulaufen trugen sie sie immer näher zu den Leichen hin.
Sie warf sich auf den Boden und schlug auf ihre Beine ein, sie schrie. Die Beine waren gelähmt.
Dann hörte sie wieder die Glöckchen. Sie kroch, nur mit Hilfe ihrer Arme, in den Schutz eines Gebüsches.
Diesmal sah sie sie wirklich. Ein Mann in schwarzer Kutte und mit den Pestglöckchen. Sie nahm zumindest an, dass es ein Mann war, das Gesicht konnte sie im Dunkel unter der Kapuze nicht sehen.
Der Schwarze Mann. Sie erinnerte sich an das Kinderspiel – Wer hat Angst vor dem Schwarzen Mann? –. Die Pest als Kinderbelustigung.
Wollt Ihr sterben?
Er zog einen Leiterwagen mit Leichen. Hinter ihm ging eine alte Frau in Lumpen gekleidet, die kichernd sabberte. Das Gesicht hatte sie irgendwo schon einmal gesehen, wenn sie sich nur erinnern könnte, wo?
Sie kamen direkt auf sie zu.
Sie verkroch sich tiefer im Gebüsch. Nicht, schrien ihre Gedanken, er durfte sie nicht berühren.
Kurz vor ihr bogen sie ab, und doch war Miriam sicher, dass die beiden sie die ganze Zeit beobachteten, alles sahen, als wäre kein Gebüsch da.
Sie spürte, dass nun auch ihre Arme ihr nicht mehr gehorchten. Sie spürte sie nicht mehr.
Was sollte sie tun?
Sie wollte nicht sterben.
Sie biss sich in die Hand, tiefer, bis der Schmerz ihr die Arme zurück gab.
Scheiße, sie hatte sich tatsächlich im Schlaf in die Hand gebissen. Das Blut tropfte auf das Bettlaken. Sie war mit einem Schlag ganz wach.
Im Badezimmer war Verbandszeug und etwas Jod.
Ihre Eltern schliefen noch.
Diese Träume wurden ihr langsam unheimlich. Sie musste etwas tun. Sie würde nach draußen vor die Stadt fahren. Ihren Eltern schrieb sie einen Zettel.
Der Tag war wunderbar.
Doch am Abend wieder zu Hause spürte sie, dass es noch nicht vorbei war. Sie überlegte und wusste, was zu tun war.
Zumindest dachte sie das.
Sie legte sich ins Bett.
Diesmal war sie in einem Ort. Die niedrigen Häuser standen geduckt am Rand der durchweichten Straße. Es stank nach Kot und verbrannten Leichen. Viele Häuser standen leer, aus anderen spürte sie die Blicke hinter den Riegeln auf ihre erbärmliche Gestalt gerichtet.
Das Sackleinen war nass und dreckig. Ihre Haare waren verfilzt. Die Hand war eitrig verschorft.
Dann hörte sie die Glöckchen.
Der Ton kam aus einer Seitenstraße. Ohne lange zu überlegen nahm sie alle ihr verbliebenen Kräfte zusammen und schritt zügig aus, bis sie direkt vor dem Mann in schwarzer Kutte stand. Der schien einen Augenblick irritiert.
Das reichte für sie aus, das Beil, das sie hinter ihrem Rücken versteckt gehalten hatte, traf ihn unvorbereitet. Er sackte leblos zusammen.
Blut floss in den Schlamm und Kot. Miriam zog ihm die Kapuze vom Kopf.
Sie war nicht überrascht.
Es war ihr Vater.
Nun erkannte sie in der alten Frau auch ihre Mutter.
Die Alte lachte und kam zahnlos auf Miriam zu.
“Gut, wenn das so ist, bist Du jetzt an der Reihe.”
Mit diesen Worten riss die Alte dem Mann die Kutte vom Leib und reichte sie Miriam.
Doch Miriam lachte nur. Dann trat sie etwas zurück.
“Er ist nicht tot. Er glaubt es nur, weil er es glauben will. Ihn umzubringen, wäre mir viel zu psychoanalytisch korrekt.
Du weißt doch, ich tue nie das, was ich soll.
Das Blut ist nicht echt.
Das Beil ist aus Gummi.”
Sie warf das Beil ihrer Mutter zu, die es ungläubig untersuchte. Dann drehte sie sich um und ließ die beiden mit der Kutte stehen.
Einmal drehte sie sich noch um. “Ab jetzt ist der Mummenschanz vorbei.”
An diesem Morgen wachte Miriam mit einem Lächeln auf den Lippen auf.
Foto: Patrick Hendry (Unsplash.com).
Yuriko Yushimata wurde als Distanzsetzung zur Realität entworfen. Es handelt sich um eine fiktionale und bewusst entfremdete Autorinnenposition, die über die Realität schreibt. Die SoFies (Social Fiction) zeigen in der Zuspitzung zukünftiger fiktiver sozialer Welten die Fragwürdigkeiten der Religionen und Ersatzreligionen unserer Zeit. Teilweise sind die Texte aber auch einfach nur witzig. Sie befindet sich im Archiv der HerausgeberInnengemeinschaft Paula & Karla Irrliche (www.irrliche.org). Spiegelung und Verbreitung der Texte sind ausdrücklich gewünscht!