Je offener die Zugänge zu Ratio und Fakten sind, desto geringer scheint deren Anziehungskraft zu werden. Die tatsächlichen Möglichkeiten, sich seines eigenen Verstandes zu bedienen, sind im letzten halben Jahrhundert immens gewachsen. Und trotz berechtigter Kritik, auch die staatlichen Bildungsinstitutionen haben sich lange Zeit teilweise erfolgreich bemüht, den jungen Menschen Perspektiven zu zeigen, die auf Bildung und eigenem Willen beruhten.
Dass ausgerechnet jetzt, in einer Zeit, in der Technologien vorliegen, die das alles noch weiter unterstützen könnten, der Bildungsgrad der großen Masse eher degeneriert und die einzelnen Individuen immer unsicherer werden, zwingt dazu, sich die Sache etwas näher anzuschauen.
Theorien über das Phänomen nachlassender Bildung bei gleichzeitig steigender Bedeutung derselben, existieren eine ganze Menge. Nicht weiter helfen dabei diejenigen, die auf eine Jugendschelte hinauslaufen und mit der Stimmung „früher war alles besser“ enden. Sie verweisen oft auf einen Bildungskanon, der mit Vorsicht zu genießen ist, weil er die Entwicklung ganzer Regionen der Welt rigoros ausspart und als so etwas wie ein Okzidentalismus [1] bezeichnet werden muss.
Der Verweis auf sich rückentwickelnde oder immer weniger ausgeprägte Kulturtechniken dringt dagegen sehr stark an den Kern vor. Vor allem die offensichtlichen Mängel im Lesen und Schreiben, die eigene Unfähigkeit, allgemein lesbare Texte zu fertigen, die dürftiger werdende Imagination [2] der Bedeutung von Zahlen und das fehlende Bewusstsein über die Verantwortung des Individuums selbst sind eine Entwicklung, die als desaströs bezeichnet werden muss.
Eine Gesellschaft, die ihre Sprache verliert, hat sich quasi von der historischen Bühne verabschiedet. Es muss nicht erst bemängelt werden, dass aus dem eigenen Sprachkreis keine Nobelpreisträger für Literatur mehr hervorgehen, um festzustellen, wie finster es im kollektiven Bewusstsein der Gesellschaft aussieht und um ihre Artikulationsfähigkeit bestellt ist.
Die beste Diagnose liefern Texte, die zur allgemeinen Verkehrsform einer Gesellschaft gehören. Da sind die offiziellen politischen Bulletins, die ihrerseits Besonderheiten der ständigen Abstraktion bei gleichzeitiger Sinnentleerung aufweisen.
Und da sind die Texte der Verwaltungen, die geprägt sind von einer stark durch die Rechtssphäre formalisierenden Sprache, die an sich nicht anrüchig wären, strotzten sie nicht von Fehlern, die darauf verweisen, dass selbst Staatsdiener höheren Ranges der deutschen Sprache nicht mehr mächtig sind. Geben Sie sich die Probe selbst, aber nur, wenn Sie in einem stabilen Gemütszustand sind!
Neben dem Verschwinden von Kulturtechniken ist immer häufiger eine fehlende Ordnung im Kopf zu beobachten, die sich aus vorhandenen Werten speist. Das, was alle Pädagogen vereint, ist die Erkenntnis, dass die große Masse junger Menschen mit der Inflation von Informationen, die durch das Internet verfügbar sind, hoffnungslos überfordert sind. Es ist nur noch schlimmer, denn den Erwachsenen geht es nicht anders. Dass die größten Nutzerzahlen auf Gebieten wie Pornografie, Gewalt, Glücksspiel und Nonsens zu finden sind, ist ein Indiz für die These eines allgemeinen Abwärtstrends.
Wie bereits gefordert, ist die Eigentumsfrage hinsichtlich der Massenkommunkationstechnologien eine existenzielle. Damit alleine ist es jedoch nicht getan. Dazu gehört eine Kampagne zur fundierten Verbreitung der vorhandenen Kulturtechniken und die Vermittlung von gesellschaftlichen Werten, die sich auf die Aufklärung beziehen und nicht durch das aktuelle Gerede der herrschenden Politik kontaminiert sind. Der Aufwand ist nicht zu unterschätzen, die Notwendigkeit dieses zu tun, kann nicht hoch genug veranschlagt werden.
Quellen und Anmerkungen
[1] Okzidentalismus steht in den Kulturwissenschaften zum einen für eine Ideologie des Hasses gegen den Okzident, also gegen westliche Gesellschaftsstrukturen und Werte, was als Feindbild gegen die Moderne verstanden werden kann. Kritiker erkennen eine Tendenz zu einem entmenschlichenden und verfremdenden Denken. Dagegen verstehen einzelne postkoloniale Theoretiker den Okzidentalismus als einen Begriff, der westliche Werte als universal postuliert und andere Kulturen abwertet. ↩
[2] Imagination ist die Fähigkeit, sich etwas vorstellen zu können wie zum Beispiel Bilder, Ereignisse oder Sachen. ↩
Foto: Corey Motta (Unsplash.com).
Dr. Gerhard Mersmann ist studierter Politologe und Literaturwissenschaftler. Er arbeitete in leitender Funktion über Jahrzehnte in der Personal- und Organisationsentwicklung. In Indonesien beriet er die Regierung nach dem Sturz Soehartos bei ihrem Projekt der Dezentralisierung. In Deutschland versuchte er nach dem PISA-Schock die Schulen autonomer und administrativ selbständiger zu machen. Er leitete ein umfangreiches Change-Projekt in einer großstädtischen Kommunalverwaltung und lernte dabei das gesamte Spektrum politischer Widerstände bei Veränderungsprozessen kennen. Die jahrzehntelange Wahrnehmung von Direktionsrechten hielt ihn nicht davon ab, die geübte Perspektive von unten beizubehalten. Seine Erkenntnisse gibt er in Form von universitären Lehraufträgen weiter. Sein Blick auf aktuelle gesellschaftliche, kulturelle wie politische Ereignisse ist auf seinem Blog M7 sowie bei Neue Debatte regelmäßig nachzulesen.
3 Antworten auf „Nachlassende Bildung: Keine Ordnung im Kopf“
Ich kann Ihnen nur zustimmen! Ich korrigiere gerade fachdidaktische Hausarbeiten von angehenden Ethik- und Philosophielehrer/innen. Zeichensetzung ist sowieso Luxus. Aber auch der Satzbau ist oft destatrös und die Wortwahl treibt seltsame Stilblüten. Diese Lehrkräfte haben als zweite Unterrichtsfach zu allem Überfluss oft Deutsch gewählt. Wie sollen unsere Kinder in den Kulturtechniken gut ausgebildet werden, wenn schon die Lehrkräfte diese nicht mehr beherrschen. Und wer die Sprache nicht beherrscht, kann sich auch nicht in den Wertediskurs einbringen, ist Meinungen und Meinungsmache hoffnungslos ausgeliefert. Ich hätte mir nie träumen lassen, ein Semester mal mit dem Erklären von Zeichensetzungsregeln zuzubringen, statt mich gleich meinem Gebiet, der Fachdidaktik zuwenden zu können.
Nun, da werden wir noch einiges erleben. Doch das alles ist ja geradezu harmlos, zieht man sich dagegen die Gebaren der unverschämten Waffenexportöre per ” die Anstalt” rein, wo unverblümt gezeigt wird, wie unsere extra dafür bezahlten Politiker und deren ” Sicherheitsexperten” permanent gegen des Volkes Wille verstoßen!
Da verschlägt es einem gleich die viel gerühmte deutsche Sprache…….!
L.G.
Uwe Leonhardt
Auch aus meiner Sicht verkommt Sprache und damit ein Teil von Bildung. Alles ist voll von Laber-Sprache. Überall bin ich “herzlich willkommen”, obwohl man mich dann – Gott sei Dank! – nicht ans Herz drückt. Wenn oder wo sich der Sinn von Sprache entleert, schwindet ihre Bedeutung auch in die Bildung hinein. Man “begreift” dann auch immer weniger, weil es dazu auf Bedeutung ankäme.
G.K.