Der Wunsch, ein auskömmliches, ein gutes Leben führen zu können, wie „Buen Vivir“ [1] zu übersetzen wäre, hat historische Wurzeln. So in allen Religionen und für Menschengemeinschaften der Erde unserer „Einen Welt“ beschrieben.
In der fortdauernden Auseinandersetzung mit den Bedingungen der Natur und unter den Gegebenheiten ihrer Gemeinschaft erstrebten die Menschen vom Anbeginn an ein erträgliches Leben. Sie benötigten für ihre Existenz und Reproduktion Nahrung, Kleidung, Wohnraum und Sicherheiten gegen die Unbill der Natur oder anders gesinnte Kräfte.
Frieden war stets ein hohes Gut für alle Menschen der Welt. Für ihr Zusammenleben schufen sie sich später eine Verfassung, mit wichtigen Regeln, die zu beachten sind. Konstellationen dieser Art bestimmten die Entwicklung aller Völker, auch Lateinamerikas.
Wurzeln des „Buen Vivir“
Spanier und Portugiesen, Engländer u. a. unterbrachen mit kolonialer Gewalt den Entwicklungsweg der Indigenas. [2] Sie brachten andere Herrschaftsverhältnisse in die „Neuen Welt“, sowie eine andere Religion. Für eigene Zwecke nutzten die Eroberer die Ergebnisse der Pflanzenzucht der Indigenen (Mais, Kartoffeln, Baumwolle, Tomaten, Kakao, Tabak und viele andere endemische Produkte) und ihre Bodenschätze (Gold, Silber, Schwefel, Salz u.v.m.).

Europa traf auf Kulturleistungen, wie eine Hieroglyphenschrift und Knotensprachen, die Erfindung der Null, präzise Kalendersysteme, Berechnungsverfahren für Planetenumläufe, Wegenetze und Verwaltungserfahrungen um Großsiedlungen zu versorgen. Sie fanden eine andere Gesellschaftsordnung vor, die auf Gemeineigentum an Boden, Gewässer, Wälder, Erzminen etc. beruhte. Es herrschte ein Solidarprinzip beim Arbeiten. Die Natur gehörte allen und sie bot das Nötigste zum Leben.
Der US-Amerikaner Tom Froese kam in seinen Forschungsarbeiten zum Schluss, dass der Stadtstaat Teotihuacan [3] von einer kollektiven Struktur beherrscht wurde, nicht von einem zentralen König, wie es in dieser Epoche in Europa üblich war. (Anm.: Bild der Wissenschaft Nr. 7/2017).
Froeses Logik wird möglicherweise gestützt vom vorspanischen Buchwerk der Maya „Popul Vuh“ – das Buch des Rates (Kiepenheuer Verlag). Denkbar findet auch das Rätsel eine Lösung, weshalb in den Pyramidenanlagen Lateinamerikas keine Königsgräber gefunden wurden. Ausnahme ist wohl Palenque, wo der deutsche Forscher Nikolai Grube ein Grab des Herrschers Pakal identifiziert hat.
Wie weiter?
Die nunmehr 500-jährige Entwicklung Lateinamerikas nach der Entdeckung hat Widerstandsaktionen gegen die Fremdbestimmung aus Europa und den USA bis zur Gegenwart nie ruhen lassen (zum Beispiel Mayas in Guatemala, El Salvador und Chiapas/Mexiko, Mapuche/Chile, Aimaras und Ketschua in Bolivien und Peru, Landlose in Brasilien). Im Hintergrund steht ohne Zweifel ihre eigene Philosophie des „Buen Vivir“. Die Erinnerungen an ein selbstbestimmtes Leben scheinen unauslöschlich.
Differenzen zwischen der möglichen Lebensgestaltung in Lateinamerika und der Realität der gewinngetriebenen Ordnung führten im 20. Jahrhundert auch zur Theologie der Befreiung. Ihre sozialkritischen Facetten wären ohne das Gedankengut des „Buen Vivir“ nicht denkbar gewesen. Der argentinische Papst Franziskus erhielt einen Teil seiner humanen Prägung sicherlich aus der gleichen Quelle. Nach einer Bischofskonferenz in Kolumbien (CELAM) am Ende des 20. Jahrhunderts nahm die Theologie der Befreiung ihren Lauf.
Noch stehen die Nachkommen der Ureinwohner Lateinamerikas auf der Verliererseite des Lebens.
Die internationale Arbeitsteilung zwingt sie in die Rolle der Rohstofflieferanten und Fertigwarenimporteure, mit dem Effekt, dass ihr Akkumulationsvermögen gering bleibt. Notwendige Finanzmittel können sie nur bei externen Großbanken oder dem IWF leihen, meist gegen Auflagen und hohen Zinsen.
Lateinamerikanische politische Akteure mit humanistischen Grundeinstellungen entwickelten über die Zeitläufe gesellschaftliche Alternativen, beeinflusst vom Geist der Französischen Revolution und den Denkern der Aufklärung. Sie erhielten weitere Impulse von europäischen Auswanderern, die der geistigen Enge Europas und der Not entflohen sind.
Nach einer Revolution vollzog Mexiko mit seiner neuen Verfassung von 1917 großartige Leistungen. Sie enthält Regeln zur Sozialversicherung, eines achtstündigen Arbeitstages. Grund und Boden wurden zum unverkäuflichen Gemeineigentum erklärt. Die mexikanische Verfassung ging über die europäischen und der nordamerikanischen Grundgesetze hinaus.
Die „Offenen Adern Lateinamerikas“ von Eduardo Galeano aus Uruguay (Verlag Neues Leben, 1974) sind voller Anklagen. Das Buch schildert eindringlich die Zustände Lateinamerikas, ebenso wie von Romeo Rey das Werk „Geschichte Lateinamerikas vom 20. Jahrhundert bis zur Gegenwart“ (Verlag C.H. Beck).
Kuba arbeitet seit über 60 Jahren trotz widrigster Umstände an Alternativen mit weltweit achtbaren Erfolgen im Bildungs- und Gesundheitswesen. Im gleichen Zeitraum veranlasste Mexiko Debatten in der UNO zur Schaffung einer „Neuen Weltwirtschaftsordnung“. In Guatemala, Peru, Bolivien, Nicaragua strebten soziale Bewegungen nach Alternativen für ein besseres Leben. Brasilien experimentierte später mit einem „Null Hunger Programm“ (Anm.: Fome Zero), richtete ein Ministerium für „Solidarische Ökonomie“ ein und organisierte Sozialforen.
Breiter angelegt sind die Konzepte des auskömmlichen Lebens in Venezuela mit 29 spezifischen und 7 komplexen Missionen (Bildung, Gesundheit, Wohnen etc.). Das Land hat eine langfristige Planung für Bereiche der Daseinsvorsorge aufgelegt und kann Erfolge in der kommunalen Demokratie und im Verfassungsrecht vorweisen. Bolivien und Ecuador verfolgen praktische Schritte zur Erhöhung des Lebensniveaus ihrer Einwohner. Die Natur und die Menschenrechte der UNO haben Verfassungsrang erhalten. Beide Länder haben Anteile an der theoretischen Ausgestaltung des „Buen Vivir“, mit eigener Namensgebung „Suma qamaña“ und „Sumak Kawsay“.
Die lateinamerikanischen Protagonisten streben nachhaltige Verbesserungen an. Sie sollten mit der internationalen Solidarität rechnen können.
Die Entwicklung des historischen Konzepts „Buen Vivir“ erfordert viel Zeit; vielleicht über Generationen. Veränderungen verlaufen nicht linear von unten nach oben. Sie sind ein gesellschaftlicher Prozess mit Vorwärtsbewegungen und Rückschlägen.
Gegenwärtig befinden sich die Fortschrittsländer in einer Phase der Rückschläge als Ergebnis der Gegenreaktionen interner und internationaler Beharrungspolitiker; und eigener Fehler. Im Verlauf der Geschichte gab es immer wieder Rückschläge wie zum Beispiel durch Militärdiktaturen in den 60er Jahren des vorigen Jahrhunderts oder infolge von Sicherheitsdoktrinen der USA im Kalten Krieg.
Schlussgedanken
Die eurozentrische Messlatte eines Platons, Gauß oder Krupp reicht in der globalen Welt nicht mehr zur Wahrheitsfindung aus. Wissenschaftler und Aufklärer drängen darauf, die Dinge des Lebens in ihren einzelnen Wertvergleichen und in ihren Zusammenhängen zu betrachten.
Redaktioneller Hinweis: Der Beitrag von Günter Buhlke erschien erstmals unter dem Titel „Buen Vivir“ – ein historisches Projekt Lateinamerikas im 21. Jahrhundert? bei unserem Kooperationspartner Pressenza.
Quellen und Anmerkungen
[1] Das südamerikanische Konzept des „guten Lebens“ („buen vivir“) verfolgt ein Gleichgewicht mit der Natur, die Reduktion von sozialer Ungleichheit, eine solidarische Wirtschaft und eine pluralistische Demokratie mit neuen Räumen zivilgesellschaftlicher Partizipation und ist eine systemkritische Antwort auf das westliche Entwicklungsdenken der letzten Jahrzehnte. Ein neues Entwicklungskonzept, das sich vom westlichen Wohlstandsparadigma verabschieden will. Aus: Lexikon der Nachhaltigkeit, https://www.nachhaltigkeit.info/artikel/buen_vivir_1852.htm [abgerufen: 06.04.2018]. ↩
[2] Indigene Völker (von indigena „eingeboren“) oder autochthone Völker („ursprüngliche“) sind nach einer internationalen Definition diejenigen Bevölkerungsgruppen, die Nachkommen einer Bevölkerung sind, die vor der Eroberung, Kolonisierung oder der Gründung eines Staates durch andere Völker in einem räumlichen Gebiet lebten, und die sich bis heute als ein eigenständiges „Volk“ verstehen und eigene soziale, wirtschaftliche oder politische Einrichtungen und kulturelle Traditionen beibehalten haben. Mehr Informatione auf Wikipedia. ↩
[3] Teotihuacán ist eine prähistorische Ruinenstadt. Sie liegt im Zentralen Hochland von Mexiko (Bundesstaat México) und war zwischen 100 und 650 nach Christus das dominierende kulturelle, wirtschaftliche und militärische Zentrum Mesoamerikas. In ihrer Hochphase wird eine Einwohnerzahl von bis zu 200.000 Menschen für möglich gehalten. Nach 650 schwand der Einfluss der Stadt. Um 750 wurde Teotihuacán aus nicht geklärten Gründen weitgehend verlassen. Es wird u.a. vermutet, dass die Stadt ihre Bedeutung als wirtschaftliches Zentrum allmählich an Konkurrenten verlor und sich letztlich nicht mehr selbst versorgen konnte. Die Azteken fanden Teotihuacán bei ihrer Einwanderung ins Hochland als Ruinenstadt vor, sahen in ihr einen mythischen Ort und gaben ihr den bis heute überdauernden Namen. Teotihuacán bedeutet etwa “Wo man zu einem Gott wird”. Informationen von Wikipedia. [abgerufen: 06.04.2018] ↩
Fotos: Iorni (Pyramide in Mexiko; Unsplash.com); Jackhynes (Teotihuacán, wikipedia gemeinfrei) und Pressenza.
Günter Buhlke ist Jahrgang 1934 und Dipl. Volkswirtschaftler. Er studierte an der Humboldt Universität und der Hochschule für Ökonomie Berlin. In den 1960er und 70er-Jahren war Buhlke international als Handelsrat in Mexiko und Venezuela tätig und Koordinator für die Wirtschaftsbeziehungen der DDR zu Lateinamerika. Später Vorstand einer Wohnungsgenossenschaft, Referent im Haushaltsausschuss der Volkskammer und des Bundestages und von 1990 bis 1999 Leiter der Berliner Niederlassung des Schweizerischen Instituts für Betriebsökonomie. Günter Buhlke ist verheiratet, lebt in Berlin und engagiert sich ehrenamtlich.