Will der Philosoph seine Gedanken offenbaren über die Literatur und die Thematiken, die ihn beschäftigen, beugt er sein Knie vor der unverhohlenen Lüsternheit des Journalismus, nämlich dem Verlangen nach Aktualität oder einem zeitlichen Bezug des inhaltlichen Gegenstands. Im konkreten Fall bedarf es einen Salto rückwärts ins Jahr 1998.
MACHT WAHN SINN – Die provokante Parole, vielleicht noch mit einem Fragezeichen versehen, aber sicher ohne Bindestriche geschrieben, prangte auf den Fluren der Freien Universität Berlin. Im gleichen Jahr, irgendwann Ende April, fand ebendort ein vom Institut für Soziologie organisiertes Foucault-Tribunal statt. Der zeitlich-räumliche Bezug ist nun leidlich hergestellt, das Thema gesetzt und den Ansprüchen der Medienwelt wurde recht schlicht Genüge getan. Denn die Kost ist schwerer, als es der Journalismus je sein könnte: Ein Schritt zur Macht und weiter zu Wahn und Sinn.
„Wes Brot ich ess’, des Lied ich sing’…“ Die Redewendung, die sehr wahrscheinlich auf den Dichter Michel Beheim (1420 bis etwa 1480) zurückgeht und somit weit über 500 Jahre alt wäre, überdauerte nicht nur die Zeit, sondern ist in ihrer Grundaussage bis in die Gegenwart gültig. Sie könnte durchaus ein semantisches Facelifting vertragen:
„Wer mich bezahlt, dessen Meinung und Interessen vertrete ich.“
Dies wäre eine angemessene Straffung der faltigen Haut, die dem soziokulturellen Wandel genügt und der gegenwärtigen Epoche der hochkapitalistischen Gesellschaft entspräche.
Das Sein ist auf das Ökonomische, in der Ausprägung also auf das Monetäre reduziert. Der Geldbeutel bestimmt, ob der Teller voll oder der Bauch leer ist. Nicht die Haltung macht den Teller voll, sondern deren Flexibilität, Anpassungsfähigkeit und letztlich Käuflichkeit – jeder muss schließlich sehen, wo er bleibt und abbleibt. Doch das ist nur die eine Seite.
Autorität, Macht und Kastration
Nicht jeder, so sollte man meinen, kann sich beliebig verkaufen. Wer Position bezieht, fliegt schnell vom kapitalistischen Karussell der Selbstverwertung. Mal im Vertrauen: Könnte ein Antikapitalist ein guter Banker sein, der sich durch absurde Gebühren und überhöhte Zinsen an seinen Kunden bereichert? “Sicher nicht”, wird die Antwort sein. Wäre ein Pazifist ein guter Kriegsminister, der im Namen der Demokratie Bomben auf Zivilisten regnen lässt? Kaum vorstellbar eigentlich. Wird ein Tierschützer über Nacht zum begeisterten Schlachter? Ja, warum denn nicht?!
Die soziale Anpassungsfähigkeit des Menschen ist viel extremer ausgeprägt, als gemeinhin zugegeben wird.
Damit kommen wir wieder einmal zum Autoritätsproblem: Einerseits kann eine Autorität lehren und Orientierung bieten, jemandem sogar die Last des eigenen Denkens und Urteilens abnehmen, und damit Sicherheit geben, andererseits jedoch auch befehlen, zensieren oder Gefühle (des Gegenübers) unterdrücken. Ich nenne es zynisch und provokativ die „Psychische Kastration“.
Niemand ist davor sicher, jeder kann aber versuchen, so sicher wie möglich davor zu sein, wenn er die Bereitschaft zum Ungehorsam nicht aufgibt. Er folgt der Autorität bis zu dem Punkt, an dem die innere Haltung den Ungehorsam verlangt – und ist Ungehorsam. Der Autorität die Gefolgschaft zu verweigern, ungeachtet der Folgen für das eigene Sein, ist die stärkste Waffe, die der Mensch einsetzen kann.
Doch wer sich einer Autorität widerspruchslos beugt und gegenüber dieser den Ungehorsam, geboren aus innerer Überzeugung und gespeist aus Werten und moralischen Maßstäben, die sich ausdrücken in persönlicher Haltung, aus seinem Handlungsspektrum verbannt, der ist bestimmt auf dem Weg zur psychischen Kastration, und lediglich noch eine Handbreit entfernt von der Beteiligung am Massenmord oder dessen Erduldung durch Unterlassung. Das alles hat mit Macht zu tun.
Messlatte der Wahrheit
Macht kann unterstützend, aber auch unterdrückend und zerstörerisch eingesetzt werden. Sie zu kontrollieren ist die große Herausforderung. Wer kontrollieren will, ist schlecht beraten, wenn er sich beeindrucken lässt von Kraft, Energie, Power, Vitalität, Ästhetik und Charisma derer, die die Macht greifen wollen, und sich dabei auch der Kunst der Verführung und Überredung bedienen, um die Hoheit über wahr und falsch zu erlangen.
Deutungshoheit betrifft auch Sie und mich – jetzt, hier, in dieser Zeile, in diesem Moment. Denn da schreibt jemand, der als Experte oder sogar als Wissenschaftler wahrgenommen wird. Und er schreibt: So ist das!
Damit wird die Messlatte der „Wahrheit“ festgelegt. Manch einer zieht mit und akzeptiert diese ohne Widerspruch. In Vereinen, Parteien und hierarchischen Organisationsformen wirken psychosoziale Zwänge der Anpassung, in anderen die erwähnten materiellen, die als ökonomische Abhängigkeit wirken. Das Ergebnis kann ein bedingungsloses Ja sein.
Meine Bitte an Sie: Bleiben Sie kritisch, im Geist ungehorsam und stellen Sie eigene Überlegungen an. Egal, was noch kommt, seien Sie bereit, nein zu sagen!
Michel Foucault und der Wahn
In seinem Werk „Wahnsinn und Gesellschaft“ (franz.: Folie et déraison) beschreibt der französische Philosoph Michel Foucault die Geschichte des Wahnsinns vom 16. bis zum 18. Jahrhundert. In der Verlagsbeschreibung zum Buch heißt es:
„Er erzählt zugleich die Geschichte seines Gegenspielers, der Vernunft, denn er sieht die beiden als Paar, das sich nicht trennen läßt. Der Wahn ist für ihn weniger eine Krankheit als eine andere Art der Erkenntnis, eine Gegenvernunft, die ihre eigene Sprache hat oder besser: ihr eigenes Schweigen.“
Nun ist hier nicht der Ort des Schweigens, wie etwa in einem Kloster, sondern eher der des schriftlichen Aufmerksammachens auf bestimmte wissenschaftliche Literatur und Denkweisen des vergangenen Jahrhunderts. Neben einer Fülle historischer Fakten führt Foucault aus:
„Wir müssen einen Augenblick darauf zurückkommen, was die Gestalt des Irren vor dem siebzehnten Jahrhundert sein konnte. Man neigt dazu zu glauben, daß er sein persönliches Merkmal nur von einem bestimmten medizinischen Humanismus erhalten hat, als sei die Gestalt seiner Individualität stets nur etwas Pathologisches gewesen. Tatsächlich hatte der Irre, lange bevor er den medizinischen Status erwarb, den ihm der Positivismus gegeben hat, bereits im Mittelalter eine Art persönlicher Kompaktheit erhalten. Dies war wahrscheinlich mehr eine Individualität der Rolle als des Kranken.“ [1]
Ähnlich kritische Töne, welche weniger diagnostizieren, sondern eben genauer hinzuschauen versuchen, schlagen Paul Watzlawick, Janet H. Beavin und Don D. Jackson in ihrem Buch „Menschliche Kommunikation. Formen, Störungen, Paradoxien“ an und vor. Auch hier wird „Wahn“ oder „Krankheit“ als etwas Relatives beschrieben, welches sich aus disfunktionaler Kommunikation eines Individuums mit seinem sozialen Umfeld erst herauskristallisiert:
„Die Relativität von „normal“ und „abnormal“ – In der Frühzeit der modernen Psychiatrie wurde Forschung fast ausschließlich in Anstalten betrieben und befaßte sich vor allem mit der Klassifizierung von Patienten. Dies führte zu bedeutsamen Erfolgen, wie z.B. zur Entdeckung der progressiven Paralyse und ihrer Behandlung. Einer der nächsten Schritte war die Übernahme moderner Unterscheidungen zwischen «normal» und «abnormal» in die Rechtssprache, und zwar in Form der Begriffe «zurechnungsfähig» oder «unzurechnungsfähig». Bekanntlich unterliegt der Sinn all dieser Begriffe und Unterscheidungen heute zunehmender Kritik, deren stichhaltigstes Argument zweifellos dies ist, daß in Ermangelung einer brauchbaren Definition psychischer Normalität auch der Begriff der Abnormalität undefinierbar ist. […] Wie dem auch sei, vom Standpunkt der Kommunikationsforschung ist die Einsicht unvermeidbar, daß jede Verhaltensform nur in ihrem zwischenmenschlichen Kontext verstanden werden kann und daß damit die Begriffe von Normalität und Abnormalität ihren Sinn als Eigenschaften von Individuen verlieren.“ [2]
Es mag angehen, dass Zuschreibungen und Diagnosen außerhalb von Klinik und Therapie keinen Sinn machen. Dennoch finden diese im gesellschaftlichen Umgang und Diskurs statt: Da ist von Narzissten und Psychopathen die Rede, einfach um Weltsicht oder gar die ganze Person eines Gegenübers zu diffamieren, zu diskreditieren und damit mundtot zu machen. Allein mit Denunziation und damit einhergehender sprachlicher Gewalt ist jedoch niemandem geholfen. Gibt es Alternativen? Schauen wir in die Bibel.
Unangepasst und ungesund
Jesus, so steht es dort geschrieben, sagte: „Liebe deinen Nächsten, wie dich selbst!“ Doch wie soll Nächstenliebe ohne Selbstliebe möglich sein? Wie kann Toleranz gegenüber Menschen mit anderem kulturellen und/oder religiösen Hintergrund möglich sein oder möglich werden ohne eine gefestigte eigene Identität? Wie konnte Jesus, wenn es ihn denn gegeben hat, seinen Nächsten wie sich selbst lieben? War Jesus verrückt? Ein Wahnsinniger? Sicher nicht! Er war unangepasst, und das passte noch nie ins Konzept.
Bezeichnend ist, dass die Wissenschaft einen Begriff von einem gesunden, normalen Menschen schuldig bleibt. Auf die Frage „Was ist gesund?“ weiß sie nur die eine, fast schon zynisch zu nennende Antwort: „Was angepasst ist und funktioniert!“ Jesus, er würde es nicht gerne hören, wäre folglich ungesund, weil unangepasst.
Bessere Karten hat der Nazarener mit seinem Verhalten bei Erich Fromm. Der Sozialpsychologe reflektierte in seinem Buch „Die Furcht vor der Freiheit“ (engl.: Escape from Freedom) auf die Anpassung. Neben der Flucht ins Autoritäre und der Flucht ins Destruktive brandmarkte Fromm sie an anderer Stelle als grundsätzlichen Fluchtmechanismus:
„Ähnlich wie bei der der Definition von Intelligenz, die mit einem Intelligenztest gemessen wird, wird die Auffassung vertreten, daß sich seelische Gesundheit von der Anpassung an die Lebensweise einer gegebenen Gesellschaft her bestimmen lasse, und zwar völlig unabhängig davon, ob diese Gesellschaft als solche gesund oder verrückt ist. Das einzige Kriterium ist, daß ein Mensch an sie angepaßt ist.“ [3]
Halten wir fest: Jesus flüchtete nicht ins Autoritäre und nicht ins Destruktive, sondern blieb unangepasst gegenüber der Gesellschaft seiner Zeit, war damit frei, und wäre im modernen Verständnis von Gesundheit krank an der Seele.
Fromm schreibt über die Freiheit und den Menschen:
„Er [der Mensch] ist zwar nicht mehr ein Glied einer organischen Gruppe, doch er wurde zu einem Automaten, der sich einen Ersatz für das Verlorene darin sucht, daß er sich an die Gesellschaft, an die Konvention, an die öffentliche Meinung und alle möglichen Gruppierungen klammert, weil er nicht weiß, was er mit seiner Freiheit anfangen soll. Er hält es nicht aus, alleine zu sein und frei von diesen früheren Bindungen, in denen er von der Gesellschaft seinen Platz zugewiesen bekommen hatte.“
Jetzt soll Erich Fromm, der neben Max Horkheimer und Theodor W. Adorno zu den Vertretern der kritischen Theorie der Frankfurter Schule zu zählen ist, nicht im Übermaß zitiert werden. Doch zur Kenntnis muss man nehmen, dass er nicht nur mit seinen Büchern wie zum Beispiel „Die Kunst des Liebens“ und „Haben oder Sein“ einen nicht zu unterschlagenden Erfolg verbuchen konnte.
Das Ende der Individualität
Ich selbst bekenne mich tendenziell zur kritischen Theorie und habe dies in „Elemente einer allgemeinen Kommunikationstheorie“ [4] zum Ausdruck gebracht:
„Nicht zuletzt, um dem gesellschaftlichen Druck nachzugeben und im Dienste der Herrschaft muß das Individuum auf Wunscherfüllungen verzichten und, statt sie zu realisieren, unbewußt machen.“ (aus: Erdheim, Mario: Die gesellschaftliche Produktion von Unbewußtheit.) [5]
Genau diesen Sachverhalt beschreibt der Begriff einer psychischen Kastration der Individuen. Diese „dürfen“ dann nur noch gesellschaftlich akzeptierte Bedürfnisbefriedigungen genießen und werden dadurch von ihr – beziehungsweise der sozialen Rolle, die sie in ihr spielen – abhängig:
„Der Vorgang der Identifikation mit der Rolle sichert Befriedigungen, die in der Gesellschaft bereitstehen. Dafür wird ein Stück Unabhängigkeit aufgegeben. Die Abwehrorganisation des Ich wird jedoch entlastet und das Ich dadurch stabilisiert, gestärkt. Verlassenheits- und Trennungsängste werden beruhigt: man gehört dazu. (…) Der Preis für diese Vorteile ist nicht nur die erhöhte Abhängigkeit von der Umwelt, sondern auch Erstarrung. Triebansprüche, die der Rollenrepräsentanz nicht entsprechen, müssen abgewehrt werden; […] Man funktioniert in der jeweiligen Institution reibungsloser, hat aber nicht nur ein Stück »geistiger« Selbständigkeit, sondern auch Gefühls- und oft Gewissensfreiheit eingebüßt (Parin u. Parin-Mathèy 1978: 125). Die Unbewußtmachung verbirgt sich hinter der Einschränkung der geistigen Selbständigkeit sowie der Gefühls- und Gewissensfreiheit. Die Institution und die Stellung, die das Individuum darin einnimmt, bestimmen, was wahrgenommen und erkannt werden darf.“ (aus: Erdheim, Mario: Die gesellschaftliche Produktion von Unbewußtheit.)
Problematisch erscheint eine derartige Identifikation mit einer Rolle bei einer – eben durch Macht in Kommunikation – erzwungenen Identifikation mit einer sozialen Rolle. Hier besteht die nicht unerhebliche Gefahr, dass Individuen auf ihre Funktionalität innerhalb der Gesellschaft (soziale Prozesse) oder eines (industriellen) Produktionsprozesses reduziert werden.
Schriften von Erich Fromm werden von nicht wenigen Zeitgenossen als veraltet angesehen. Ebenso die Reflexionen der Kritischen Theorie. Doch so einfach liegen die Dinge eben nicht.
„Wer über gewisse Dinge den Verstand nicht verliert, der hat keinen zu verlieren.“
(Gotthold E. Lessing, Dichter)
Wer meint, mit „Fakten“, mathematischer Genauigkeit und Berechenbarkeit auch noch in humanistischen Bereichen der Gesellschaft Geist und Kreativität austreiben zu können, erkläre sich doch einverstanden mit dem Industrialismus und der Politik der heutigen Tage …
Sinn hat, wer merkt
„Der Sinn, und dieser Satz steht fest, ist stets der Unsinn, den man läßt“, beginnt der Philosoph Odo Marquard [6] seine Überlegungen zum Thema „Sinn“. Marquard liefert hier eine teils humoristische, teils wohlüberlegte Differenzierung:
(a) den sinnlichkeitsbezüglichen Sinnbegriff: Sinn hat, wer merkt (im Unterschied zu dem, der nicht merkt, weil ihm zuständige Sinne fehlen, oder weil er – und sei es denkend durch Abstraktionsorgien – nur spinnt) und also: Sinn hat, wer – durch Merken – genießen oder leiden kann.
(b) den verständlichkeitsbezüglichen Sinnbegriff: Sinn hat, was verständlich ist.
(c) den emphatischen Sinnbegriff: Sinn hat, was sich – gegebenenfalls absolut – lohnt (was wichtig ist, erfüllt, zufrieden, glücklich macht und nicht verzweifeln lässt, emphatisch – als ihr Wert und Zweck – bezogen auf das Menschenleben, die Geschichte, die Welt).
Damit ist in meinen Augen nicht unbedingt kurz, aber doch prägnant alles über den Sinn gesagt und die Philosophie wird als Gesellschaftskritik politisch relevant …
Weiterführende Informationen:
Axel Honneth: Pathologien der Vernunft. Geschichte und Gegenwart der Kritischen Theorie. Suhrkamp, Frankfurt am Main 2007.
Unzeitgemäße Betrachtungen. Essay auf Neue Debatte, 8. Januar 2017.
Nur für Verrückte. Essay auf Neue Debatte, 14. Januar 2017.
Quellen und Anmerkungen
[1] Paul-Michel Foucault: Wahnsinn und Gesellschaft (1961/1973) S. 109. ↩
[2] Paul Watzlawick, Janet H. Beavin und Don D. Jackson: Menschliche Kommunikation. Formen, Störungen, Paradoxien. Verlag Hans Huber, Bern 1969/1990, S. 48. ↩
[3] Erich Fromm: Die Pathologie der Normalität. Zur Wissenschaft vom Menschen. Ullstein Verlag, 1991, S. 17. ↩
[4] Ferch, Christian: Elemente einer allgemeinen Kommunikationstheorie (Dissertation). Darin: Kapitel 4. Kommunikation und Macht; S. 195 – 229. Books on Demand, Norderstedt. ↩
[5] Mario Erdheim: Die gesellschaftliche Produktion von Unbewußtheit. Frankfurt am Main: Suhrkamp Verlag, 1982. ↩
[6] Odo Marquard: Zur Diätetik der Sinnerwartung. In: Apologie des Zufälligen; Reclam 8351. ↩
Foto: Simon Matzinger (Pixabay.com; Creative Commons CC0).
Dr. Christian Ferch studierte Linguistik, Philosophie und Religionswissenschaft mit den Schwerpunkten Semantik, Kommunikationstheorie und Religionskritik. Er war Chefredakteur der Studentenzeitung „Die Spitze“ und schrieb seine Dissertation unter dem Titel „Elemente einer allgemeinen Kommunikationstheorie“ an der Freien Universität Berlin. Christian Ferch veröffentlicht zahlreiche philosophische Texte auf seiner Homepage. Im Podcast Philosophie Heros reflektiert er auf gesellschaftliche Aspekte aus dem Blickwinkel der Philosophie und der Kommunikation.
5 Antworten auf „Macht, Wahn und Sinn“
Macht hat derjenige, dessen Willen in den Realitätsaspekt eingreifen kann, in dem er steht – also das Gespür und die Kompetenz am richtigen Ort zur richtigen Zeit …
Wahn ist, wenn das Innere (Denken, Fühlen, Wollen) sich eklatant von dem Realitätsaspekt entfremdet hat, auf den es sich bezieht.
Sinn ergibt sich durch die existierenden Realtiätsbezüge, realen Wechselwirkungen usw.
Wäre die Welt ein wahlloses Durcheinander, könnte kein Sinn gefunden – Sinn ist immer Bezug nehmend, Vernetzung erkennend, da Vernetzung (=Ordnung) vorhanden (nichts steht für sich allein).
Eine Rose wird eine Rose und keine Tulpe. Der Mensch kann werden, was er ist – muß es aber nicht. Jeder Mensch ist sein eigenes Wesen und deshalb kann kein Mensch werden wie ein anderer, so wenig eben eine Rose eine Tulpe werden kann.
In dem der Mensch aber versucht nicht sich selbst zu werden (Anpassungen usw.) entsteht Ohn-Macht, Wahn und Sinnloses.
Orakel von Delphi: Mensch, erkenne Dich selbst. Noch allgemeiner: Mensch erkenne die Wesen …
Schließlich erkennt der Mensch mittels des Verstandes, daß die wirkliche Erkenntnis nur über das Herz verläuft …
Und wie steht es mit der Kunst? Wo ist da der »Realitätsaspekt«? Oder der Literatur? Sind nicht in diesen Sphären Inhalte, ja vielleicht gar Visionen zu finden, welche der »Realität« des Mess- und Zählbaren etwas voraus haben? Wenn Adorno postuliert: »Keine Denkbegrenzungen durch Fakten!«, so meint er genau das, was auch in unserem GG festgehalten ist: Die Freiheit der Kunst und der Wissenschaft. Ob diese dann wirkungsmächtig sind, oder eben nicht, steht auf einem anderen Blatt.
>welche der »Realität« des Mess- und Zählbaren etwas voraus haben?
Der Realität bemesse ich den Begriff bei, sie existiert und zwar in verschiedenen Formen und Dimensionen.
So kann die “Realität” des Mess- und Zählbaren tatsächlich eine Teilmenge der Realität sein. Genau dann, wenn in diesem Mess- und Zählbaren sich wesentlich Existenz ausdrücken kann. Dabei machen gerade Zahlen für sich gesehen noch nichts aus, sondern bedürfen immer einer “Interpretation” oder eines “Inertialsystems”. Dieses kann aber selbst wieder “erfunden” sein und dann würden die Zahlen eben keine Realtiät spiegeln. Man denke hier z.B. an Computersimulationen, bei denen irgendwann ab einer bestimmten “Iterationsstufe” der Bezug zur Realität verloren gehen muss.
Es gibt somit eine manifestierte Realität (die für unsere Sinnenwelt und den Verstand) und eine nicht manifestierte aber potenzielle Realtiät (die sich also bei bestimmten Bedingungen manifestieren könnte).
Der Künstler – egal welcher Coleur – hat nun die Fähigkeit, mit seinem Bewußtsein diese noch nicht manifestierte, potenzielle Realität ausschnittsweise wahrzunehmen und das dann durch seinen physischen Körper in die Realität der Manifestation zu transformieren.
Aus dem Gesetz der Freiheit hat die Schöpfung dem Menschen einen Verstand gegeben, der eben nicht zwangsweise Realitäten erfassen oder abbilden muß. Der Verstand bewegt sich in Vorstellungen und bildet mitunter Konstruktionen – also im Kant’schen Sinne bzw. Neopositivismus oder auch Watzlawik usw.
In der Totalidentifikation des Menschen mit seinem Verstand geht er dann sogar so weit, daß er nur mehr erfundene Realitäten zu läßt bzw. alles als Erfindung des projizierenden Bewußtseins ausgibt, was logisch gesehen natürlich ein Zirkelschluß darstellt.
Damit hat er dann die Trennung zum Kosmos – bzw. zum kosmischen Bewußtsein komplett vollzogen und es kann dann nur mehr gesagt werden:
Das Licht ist in die Finsternis gekommen und die Finsternis hat es nicht begriffen …
Kein Kommentar, sondern eine Frage: Wie steht es mit den Wachmännern in den KZ im Dritten Reich? Ich weiss von einem Fall, wo ein Soldat im Herbst 1943! gefragt wurde: Wollen Sie nach Russland oder als Wachmann in ein KZ? Wo ist hier Schuld?
Die »Schuld«, mit der sie sich beladen haben, ist die Abgabe der Varantwortung an Autoritäten. Sie sagen nicht: »Das habe ich getan.«, sondern: »Das wurde mir so befohlen, und ich habe gehorcht. Ist doch nichts dabei.« – Man kann ja gehorchen, aber eben auch nicht immer. Dazu gehört Mut und die Entwicklung eines Gewissens. Denken Sie an Hannah Arendt, welche den Israelis klar zu machen versuchte, dass Rudolf Eichmann »eigentlich« »nur« gehorcht hatte. Er – als kleiner, scheinbar undmündiger Mann – hatte sein Gewissen bei den Herrschenden abgegeben, damit aber auch eine persönliche Verantwortung. Darin liegt in meinen Augen seine »Schuld«.
Gruß,
Dr. Christian Ferch