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Gesellschaft

Vom falschen Ich zum echten Wir

Inzwischen ist jeder Mensch abhängig von weltweitem Handel und weltweiten politischen Verstrickungen. Ein isoliertes Glück ist nicht mehr möglich. Ein “Wir” kann sich also nicht auf eine Nation oder einen unüberschaubaren Teil der Gesellschaft beziehen.

Susanne Holsteiner schreibt im Rubikon: “In meinen Augen ist eine allzu innige Hinwendung zum eigenen Ich das Gegenteil dessen, was unserer Gesellschaft Not tut.” [1]

Ihr Artikel ist eine Antwort auf einen Beitrag von Elisa Gratias. [2] An die Ausführungen von Susanne Holsteiner möchte ich anknüpfen.

Weder Ursachen noch Lösungen gesellschaftlicher Probleme liegen “in uns”, mag man auch noch so naheliegende Persönlichkeitsstörungen wie Psychopathie [3] zu diesen Ursachen zählen. Individuen und Gesellschaft interagieren. Entscheidend ist, wo wir zur Veränderung ansetzen können. Wenn wir beim Individuum ansetzen, also uns selbst verändern, kommen wir nicht weit, suchen wir nach einem isolierten Glück (was unmöglich ist). Wenn wir an der Gesellschaft ansetzen, rennen wir gegen eine Macht, der wir nicht gewachsen sind.

Wir können aber an der Interaktion ansetzen. Die Gesellschaft ändern, indem wir die Interaktion untereinander ändern. Und gleichzeitig uns ändern, indem wir die Kommunikation innerhalb der Gesellschaft ändern. Das geht zuerst mal und auch später nur nachhaltig, indem wir aus der Isolation des Individuums herauskommen, indem wir überschaubare Gruppen bilden, in die wir uns im Sinne eines Miteinander und im Sinne der Gesamtverantwortung für Menschheit und Erde einbringen. [4]

Ich schlage dazu Gruppen vor, die sich von gängigen politischen Richtungen distanzieren, die stattdessen eine dezentrale rätedemokratische Gesellschaftsordnung anstreben. [5] Sie wollen Strukturveränderungen. Die inhaltlichen Veränderungen ergeben sich vermutlich von selbst. Sie wollen weg vom bloßen Analysieren, vom Protestieren, vom Fordern. Sie wollen wieder selbst in die Hand nehmen, was im Prozess der Veränderung möglich ist, lösen sich von der Bedeutung des Staates. Erwarten von ihm nichts Zukunftsträchtiges mehr. Sie entwickeln sich in eine echte Revolution hinein. In die Reife der gemeinsamen Selbstgestaltung.

Entscheidend ist, dass sie weder das Heil im Individuum, noch in der Gesellschaft, noch in der Gruppe suchen. Sie nutzen die Gruppe, um Gemeinschaftlichkeit handfest wieder zu entwickeln. Durch gegenseitige Hilfen, durch nötige gruppeninterne Auseinandersetzungen. Auch durch eine Balance zwischen Engagement und Ruhe, zu welcher sie die Einzelnen ermutigen. Aber auch durch Außenwendung, um sich immer wieder mit den umfassenden Aufgaben zu konfrontieren.

Jeder von uns ist inzwischen abhängig von weltweitem Handel und weltweiten politischen Verstrickungen. Ein isoliertes Glück ist nicht (mehr) möglich. Auch nicht für eine intern gefestigte Gruppe. So gleitet die Aufmerksamkeit der Gruppe immer wieder nach innen, bis zum Individuum, und nach außen, mit gefestigtem Vertrauen auf- und ineinander.

Dieser Ansatz entspricht folgender Sicht von Persönlichkeit: Wir sind soziale Wesen, so sehr uns das derzeitige System auch vereinzeln will. Wir haben uns aber erfreulicherweise aus den traditionellen Wurzeln herausentwickelt, können uns nun emanzipiert verbinden. Wir sind flexibel, aber nicht als Spielbälle im Sinne des Systems, sondern in unseren Gestaltungsmöglichkeiten. Wir müssen darauf achten, dass wir mit den gesellschaftlichen Problemen verbunden bleiben, ohne ihre Opfer zu werden oder zu bleiben. Kleine Gruppen ermöglichen uns das am besten.

Wir müssen überschaubar sein. Das “wir” kann sich also nicht auf eine Nation oder einen Teil der Gesellschaft beziehen, der nicht überschaubar ist. Das “wir” muss erfahrbar sein, nicht nur über Medien. In einem solchen echten WIR verändern wir uns und die Gesellschaft.


Quellen und Anmerkungen

[1] Holsteiner, Susanne: Innerer Frieden als Lösung? – Auf: www.rubikon.news/artikel/innerer-frieden-als-losung [abgerufen: 08.05.2018]

[2] Gratias, Elisa: Die Furcht vor der Freiheit – Auf: www.rubikon.news/artikel/die-furcht-vor-der-freiheit [abgerufen: 08.05.2018].

[3] Schattevoy, Ruben: Der Wandel sind wir! – Auf: www.rubikon.news/artikel/der-wandel-sind-wir [abgerufen: 08.05.2018].

[4] Kugler, Gerhard: Aus psychologischer Perspektive: Gegen die Ratlosigkeit in der Demokratie – Auf: https://neuedebatte.wpcomstaging.com/2017/11/20/aus-psychologischer-perspektive-gegen-die-ratlosigkeit-in-der-demokratie/ [abgerufen: 08.05.2018].

[5] Kugler, Gerhard: Graswurzelräte: Machen wir Politik doch selbst! – Auf: https://neuedebatte.wpcomstaging.com/2018/02/22/graswurzelraete-machen-wir-politik-doch-selbst/ [abgerufen: 08.05.2018].


Foto: Josh Calabrese (Unsplash.com).

Psychologischer Psychotherapeut

Gerhard Kugler (Jahrgang 1946) war Psychologischer Psychotherapeut im Ruhestand. Er gehörte zu den Gründungsmitgliedern der Deutschen Gesellschaft für Verhaltenstherapie (DGVT) und der Gesellschaft für kontextuelle Verhaltenswissenschaften (DGKV), deren Therapieansatz die Akzeptanz- und Commitment-Therapie (ACT) ist.

Von Gerhard Kugler

Gerhard Kugler (Jahrgang 1946) war Psychologischer Psychotherapeut im Ruhestand. Er gehörte zu den Gründungsmitgliedern der Deutschen Gesellschaft für Verhaltenstherapie (DGVT) und der Gesellschaft für kontextuelle Verhaltenswissenschaften (DGKV), deren Therapieansatz die Akzeptanz- und Commitment-Therapie (ACT) ist.

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