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In den Nischen der affirmativen Verwahrlosung

Affirmativ bedeutet bejahend oder auch bestätigend. Das bedingungslose Bekenntnis der Eliten zum Wirtschaftsliberalismus, verbunden mit angeblicher Alternativlosigkeit, ist eine solche Bejahung, die andere Konzepte und Argumente ausschließt und somit die Debattenkultur demontiert.

Immer öfter treffe ich auf Menschen, die unsere Gesellschaft in einer tieferen Krise sehen als noch vor einigen Jahren. Sie begründen dieses mit anderen Ergebnissen zu den Parlamentswahlen. Angesichts der wachsenden Zustimmung zu einer Partei wie der AfD ist eine neue Qualität evident. Und das deren Strategie und Taktik vieles beinhaltet, was vor einiger Zeit noch Tabu war, stimmt auch. Allerdings stellt sich die Frage, woraus die neuen, nicht gerade erfreulichen Erscheinungsformen resultieren.

Und es drängt sich der Verdacht auf, dass wir heute, oh, welch triviale Einsicht, genau das ernten, was bereits in der Vergangenheit gesät worden ist.

Ein mächtiger Grund dafür, dass in diesem Land vieles anders geworden ist, kann in dem eindeutigen Bekenntnis der herrschenden Eliten zum Wirtschaftsliberalismus gesehen werden. Mit der Jahrtausendwende begann die Desavouierung des Staates als sozialer, starker Arm des Gemeinwesens. Nunmehr wurde er als ineffektiv und als Kostenfaktor diskreditiert zugunsten protegierter Start-up-Geldmaschinen, die die Revenuen einfuhren. Das Ergebnis ist die Plünderung von Volksvermögen in großem Stil und die Erosion gesellschaftlicher Solidarität.

Ein weiterer Grund für die negative Veränderung ist die Stabilisierung und Perpetuierung großer Koalitionen, die so etwas wie die ehemalige Blockstruktur in neuem Gewande gesellschaftsfähig machten.

Mit dem Argument, in diesen stürmischen, von Veränderungen geprägten Zeiten sei es unabdingbar, mit einer stabilen Mehrheit regieren zu können, holte man sich die Ermächtigung für die schleichende Demontage einer echten Debattenkultur im Parlament. Mit dem feisten Statement, das eigene Handeln sei alternativlos, hat sich vor allem die letzte Regierung als Anwältin des absolutistischen Revisionismus erwiesen.

Das, was in anderen Demokratien als Ultima Ratio gilt, die Übertölpelung des Parlamentes in der misslichen Situation einer Systemkrise, wurde zum Normalmodus erhoben und unterhöhlte dadurch großes Vertrauen.

Was bei der Aufreihung der Ursachen für das Abgleiten in einen gesellschaftlichen Krisenzustand jedoch gerne unterschlagen wird, ist die immer größere Toleranz gegenüber den beschriebenen politischen Veränderungen seitens immer größerer Teile der Bevölkerung. Selbst die ehemaligen Bastionen des Widerstandes sind verstummt. Teils, weil in ihnen die Korruption tobt, teils, weil sie selbst als gedachte Institutionen nicht mehr vorhanden sind.

Das System hat bewiesen, dass es auch ohne Intellektuelle wunderbar existieren kann. Wozu bildende Künste, Literatur oder eine neue Philosophie, wenn es sich gut leben lässt in den Nischen der affirmativen Verwahrlosung? Die, die sich noch Intellektuelle nennen, suchen nicht nach Verbündeten, sondern sie stehen bereits auf den Gehaltslisten der Lobbys, die das System vernichten.

Und wo stehen die Organisationen, die besonders den korporierten Charakter dieser Variante des Kapitalismus so unschlagbar gemacht haben? Wo stehen die Gewerkschaften als die letzten Organisationen, die es vermöchten, die totale Absorption der Arbeitskraft in den nicht enden wollenden Besitzergreifungsprozess der digitalisierten Welt zu verhindern? Sie diskutieren mit der großen Koalition über Unterabsätze der nächsten Sozialgesetzgebung, die die großen Eigentumsdelikte der Gegenwart einfach aussparen.

Wenn die Kanzlerin, die allenfalls als Balanceakt der Machterhaltung in die Geschichte eingehen wird, davon spricht, alles sei ein Geben und Nehmen, dann hat sie das aus Sicht des politischen Systems gut, aus wirtschaftlicher Sicht schlecht beschrieben.

Im Nachklang der wirtschaftsliberalistischen Epoche ist die Enteignung der Massen fortgeschritten wie nie und kaschiert von einem Konsumismus, der nur die einstigen Eliten besticht. Dieser Prozess währt schon lange.


Foto: Jordan Andrews (Unsplash.com).

Politologe, Literaturwissenschaftler und Trainer | Webseite

Dr. Gerhard Mersmann ist studierter Politologe und Literaturwissenschaftler. Er arbeitete in leitender Funktion über Jahrzehnte in der Personal- und Organisationsentwicklung. In Indonesien beriet er die Regierung nach dem Sturz Soehartos bei ihrem Projekt der Dezentralisierung. In Deutschland versuchte er nach dem PISA-Schock die Schulen autonomer und administrativ selbständiger zu machen. Er leitete ein umfangreiches Change-Projekt in einer großstädtischen Kommunalverwaltung und lernte dabei das gesamte Spektrum politischer Widerstände bei Veränderungsprozessen kennen. Die jahrzehntelange Wahrnehmung von Direktionsrechten hielt ihn nicht davon ab, die geübte Perspektive von unten beizubehalten. Seine Erkenntnisse gibt er in Form von universitären Lehraufträgen weiter. Sein Blick auf aktuelle gesellschaftliche, kulturelle wie politische Ereignisse ist auf seinem Blog M7 sowie bei Neue Debatte regelmäßig nachzulesen.

Von Gerhard Mersmann

Dr. Gerhard Mersmann ist studierter Politologe und Literaturwissenschaftler. Er arbeitete in leitender Funktion über Jahrzehnte in der Personal- und Organisationsentwicklung. In Indonesien beriet er die Regierung nach dem Sturz Soehartos bei ihrem Projekt der Dezentralisierung. In Deutschland versuchte er nach dem PISA-Schock die Schulen autonomer und administrativ selbständiger zu machen. Er leitete ein umfangreiches Change-Projekt in einer großstädtischen Kommunalverwaltung und lernte dabei das gesamte Spektrum politischer Widerstände bei Veränderungsprozessen kennen. Die jahrzehntelange Wahrnehmung von Direktionsrechten hielt ihn nicht davon ab, die geübte Perspektive von unten beizubehalten. Seine Erkenntnisse gibt er in Form von universitären Lehraufträgen weiter. Sein Blick auf aktuelle gesellschaftliche, kulturelle wie politische Ereignisse ist auf seinem Blog M7 sowie bei Neue Debatte regelmäßig nachzulesen.

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