Gemeinschaft, Gesellschaft, Unbehagen durch Triebversagungen und Mittel dagegen. Dies sind Themen oder Begriffe, deren sich der Wiener Arzt Sigmund Freud in seiner Schrift Das Unbehagen in der Kultur angenommen hat, um einer conditio humana (dt.: Die Bedingung des Menschen) [1] analytisch auf die Spur zu kommen.
Bei der Betrachtung des Verhältnisses von Individuum und Gesellschaft verortete er eine soziale Leidensquelle, welche diesem Verhältnis inhärent ist und den Menschen zu schaffen macht. Freud stellte fest:
- Leben besteht aus Leiden, Enttäuschungen, Triebversagungen und unlösbaren Aufgaben.
- Daher bedienen sich Menschen verschiedenster Linderungsmittel, als da sind:
- (a) Gewollte Vereinsamung
- (b) Unterwerfung der Natur
- (c) Intoxikation
- (d) Ertötung der Triebe (orientalische Lebensweisheit; Buddhismus)
- (e) Libidoverschiebungen (Sublimation) [2]
Bei dem Linderungsmittel Gewollte Vereinsamung kann sich ein Individuum zwar sozialen Leidensquellen entziehen, versperrt sich jedoch auch Wege zu einer gelingenden Identifikation mit einem Gegenüber oder einer sozialen Gruppe.
Bei einer Unterwerfung der Natur ist es zwar Herr über äußere und innere – also seine eigene – (Trieb-) Natur, hat aber dafür seine Natürlichkeit – beispielsweise in Form von Trieben und Emotionen – preisgegeben, wenn nicht gar ausgelöscht.
Bezüglich der Ertötung der Triebe (orientalische Lebensweisheit; Buddhismus) ist zu bemerken, dass diese Variante der Leidvermeidung nicht jedem Individuum zugänglich, ja, völlig und vollständig gar nicht menschenmöglich, vielleicht auch gar nicht wünschenswert ist.
Zu den Libidoverschiebungen (Sublimation) ist zu sagen, dass eine Verschiebung von Trieben ins Geistige, Intellektuelle oder auch Theoretische zwar für eine gewisse Zeit ein probates Mittel der Leidvermeidung sein kann, jedoch die damit verschobenen, verdrängten und unterdrückten Triebe dann oftmals umso brachialer und ungezügelter hervorbrechen und ihre Bahn sich suchen.
In diesem Teil soll es vornehmlich um die dritte Art von Leidvermeidung, Intoxikation, gehen, sowie die damit verbundenen Gefahren, die sie mit sich bringt.
Zunächst sei hierzu Sigmund Freud aus seinem „Unbehagen in der Kultur“ zitiert:
“[…] es ist die Tatsache, daß es körperfremde Stoffe gibt, deren Anwesenheit in Blut und Geweben […] die Bedingungen unseres Empfindungslebens so verändert, daß wir zur Aufnahme von Unlustregungen untauglich sind.” [3]
So gesehen eine wohlfeile, schöne Sache, doch mit einem Haken: Eine Intoxikation, ein Rausch kann zwar als Leidvermeidung dienen, doch andererseits betrügt er das Individuum mit der Vortäuschung eines gesteigerten Lebens, eines Eins-Seins mit sich und der Welt, einer gelungenen Identifizierung beziehungsweise Identität durch und mit einem Gegenüber. Und gerade durch diese zunächst angenehm erscheinende Unlust- und Leidvermeidung besteht die Gefahr, dass eine wiederholte Intoxikation in eine Sucht mündet …
Sucht
Doch was bedeutet “Sucht”? Vielleicht, den Enttäuschungen und Versagungen einer Gesellschaft zu entgehen durch Selbsttäuschung mithilfe eines Rauschmittels?
Sigmund Freud stellt fest:
“Die Leistung der Rauschmittel im Kampf um das Glück und zur Fernhaltung des Elends wird so sehr als Wohltat geschätzt, daß Individuen wie Völker ihnen eine feste Stellung in ihrer Libidoökonomie eingeräumt haben.” [4]
Der Religionsphilosoph Klaus Heinrich nähert sich dem Thema aus einer anderen Perspektive: nämlich der eines an Fragen der menschlichen Gattung und ihrer Geschichte sowie an aktuellen Problemen der Gesellschaft interessierten Philosophen. Seine Rede “Sucht und Sog” (Zur Analyse einer aktuellen gesellschaftlichen Bewegungsform), welche er am 21. Oktober 1993 in einem Universitätsklinikum an der Freien Universität Berlin gehalten hat, mündet in der Einschätzung:
“Wir werden zu fragen haben, inwiefern nicht Süchte heute eingesetzt werden als Mittel, der Suchtgesellschaft zu entkommen, nicht vor ihr die Augen zu verschließen, sondern Sucht der Sucht entgegenzusetzen, aus der Suchtgesellschaft auszusteigen mittels Sucht. Sucht, so gesehen, wäre ein erster, noch untauglicher, selbst-therapeutischer Versuch, dem tauglichere therapeutische zu folgen hätten.” [5]
Schon im Wort “Sehnsucht” steckt einerseits das Wort “Sehnen”, andererseits das Wort “Suche” oder auch “Sucht”.
“Nur wer die Sehnsucht kennt, weiß was ich leide.”
Johann Wolfgang von Goethe, Mignon.
“Das Sich-Sehnen als ‘Sucht’ – hier geht das Sehnen ins Leere, und doch verbindet sich eine geheime Erwartung mit ihm.” [6]
Sog
Der Begriff “Sog” versucht zu beschreiben, was psychisch in einem Individuum vor sich geht, wenn es auf dem Wege in ein Nachgeben einer Verführung, einem willigen “Eingesaugt-Werdens” ist, was allerdings in Selbstaufgabe münden kann.
“So führt die Sucht in den Sog: War es in der Sucht noch ein Ausweichen vor Vereinigung und Identifikation, ist nun im Sog das Ziel eine Vereinigung durch Ausgelöschtwerden, die in Subjektlosigkeit mündet und damit von den Schwierigkeiten der Vereinigung mit anderen und der Identifikation befreit.” [7]
So ist es denn eine gewisse Art des Ergriffenseins, welches das Individuum von der Last und den Anstrengungen einer Identitätssuche und der damit verbundenen Balance befreit. Ergriffen von einem Kunstwerk, einem Schriftstück literarischer oder wissenschaftlicher Art, oder etwa einer politischen Bewegung, hat es teils Sicherheit und Geborgenheit gewonnen, teils seine Autonomie und Verantwortung abgegeben und verloren.
Dies ist die Charakteristik des Sogs.
“(…) ‘Sog’ als Schoßmetapher, sozusagen der Schoß in actu, der uns in Totalregression in sich hineinzuziehen verspricht, ist daher […] Grund […] aller jener gefahrvollen Situationen, die uns immer wieder die Nähe des Ausgelöschtwerdens mit selbstzerstörerischer Lockung vor Augen führen und die wir darum mit lustvollem Schauder teils herbeiführen, teils aufsuchen.” [8]
Im nächsten Teil der Serie wird es um Endlichkeit, Entfremdung und Balance gehen.
Weiterführende Informationen und Literaturhinweise
Ferch, Christian. Hurra, wir leiden noch: Ein Essay über Sucht und Verblendung. Neue Debatte, 29. Januar 2018.
Freud, Sigmund. Abriß der Psychoanalyse / Das Unbehagen in der Kultur. Fischer Taschenbuch Verlag GmbH, Frankfurt am Main, 1953.
Heinrich, Klaus. anfangen mit freud. Reden und kleine Schriften 1. Stroemfeld Verlag, Basel/Frankfurt am Main 1997.
Mead, George Herbert. Geist, Identität und Gesellschaft. Suhrkamp Verlag, Frankfurt am Main, 1968.
Quellen und Anmerkungen
[1] Als conditio humana (lateinisch für “menschliche Bedingung”) werden allgemein die Umstände des Menschseins und die Natur des Menschen bezeichnet. Siehe dazu auch das Buch von Helmuth Plessner Die Frage nach der conditio humana. Aufsätze zur philosophischen Anthropologie. Suhrkamp Taschenbuch 361, 1976. ↩
[2] Sublimierung (von lateinisch sublimis, hoch in der Luft befindlich) bedeutet, dass etwas durch einen Veredelungsprozess auf eine höhere Stufe gebracht wird. In der psychoanalytischen Theorie von Sigmund Freund wird sexueller Energie wegen der Einschränkungen der menschlichen Gesellschaft und Zivilisation eine begrenzte Menge an Ausdruck zugestanden. Sie erfordert daher andere Freisetzungsmöglichkeiten, insbesondere wenn eine Person psychisch ausgeglichen bleiben soll. Freud verstand unter Sublimierung eine Umwandlung oder Umlenkung von Libido in „sozial nützliche“ Errungenschaften, in eine geistige Leistung oder kulturell anerkannte Verhaltensweise (vor allem Kreativität und Wissenschaft). Sie stellt ein Gegenstück zu den Abwehrmechanismen des Ichs dar, da sie als Aspekt der normalen Ich-Funktion gewertet wird. Weitere Informationen auf Wikipedia. ↩
[3] Freud, Sigmund. Das Unbehagen in der Kultur. Erstausgabe: 1930. Seite 76. ↩
[4] Ebenda. ↩
[5] Heinrich, Klaus. Sucht und Sog; in: anfangen mit freud. Reden und kleine Schriften 1. Stroemfeld Verlag, Basel/Frankfurt am Main, 1997. Seite 60. ↩
[6] Ebenda, Seite 42. ↩
[7] Ferch, Christian. Identität, Sucht und Sog, Balance. Hausarbeit zum Seminar „Das Unbehagen in der Kultur“. Seite 11. ↩
[8] Heinrich, Klaus. Sucht und Sog; in: anfangen mit freud. Reden und kleine Schriften 1. Stroemfeld Verlag, Basel/Frankfurt am Main, 1997. Seite 44. ↩
Foto: Charles Etoroma (Unsplash.com).
Dr. Christian Ferch studierte Linguistik, Philosophie und Religionswissenschaft mit den Schwerpunkten Semantik, Kommunikationstheorie und Religionskritik. Er war Chefredakteur der Studentenzeitung „Die Spitze“ und schrieb seine Dissertation unter dem Titel „Elemente einer allgemeinen Kommunikationstheorie“ an der Freien Universität Berlin. Christian Ferch veröffentlicht zahlreiche philosophische Texte auf seiner Homepage. Im Podcast Philosophie Heros reflektiert er auf gesellschaftliche Aspekte aus dem Blickwinkel der Philosophie und der Kommunikation.
Eine Antwort auf „Der Mut zum Sein: Sucht, Sog und Selbsttäuschung“
Unser normales Wachbewußtsein ist trennendes, verdunkeltes, von den Seinsmächten/-entitäten abgekoppeltes Bewußtsein (Finsternis; der Verstand kann es nicht sehen: Und das Licht scheint in der Finsternis, und die Finsternis hat’s nicht begriffen [Joh.1])
Plato wählt dazu das Höhlengleichnis.
Nur durch das Abgetrenntsein (Urkonflikt) entsteht das Sehnen zum Ganzen, zum Heilwerden.
Die Trennung bedeutet Schmerz. Hieraus entsteht Angst vor dem Schmerz.
Aus dieser Konfiguration ergibt sich das Bedürfnis:
– der Forschung und Bewußtwerdung (Erkenntnisdrang)
– der Religion (Rückbindung)
– sowie viele verschiedene Bewältigungsstrategien von denen einige in dem Text genannt werden.
Alle Bewältigungsstrategien sind nur dann nachhaltig, wenn sie mit dem Sein übereinkommen, d.i. wahr sind.
Die Wahrheit kann einzig im Herzen erkannt werden (die “Wahrheit” der intellektuellen Logik ist eine Formalie).
Da jeder Mensch eine Individualität ist, also einzigartig, steht jeder Mensch auf einzigartige Weise im Gesamtzusammenhang darinnen.
Deshalb muß jeder für sich genau diesen Bezug, diesen individuellen Zusammenhang finden.
Dann lebt er nicht nur in seiner Wahrheit sondern lebt im Sinne des Ganzen und damit in der Wahrheit.
Viele Wege und Irrungen führen ihn dorthin und wäre nicht da dieser Herzpfand, der Mensch könnte ja noch nicht einmal wissen oder spüren, daß er irrt …