Je undurchsichtiger die Lage ist, desto mehr wird über sie gestritten. Auffallend, aber nicht überraschend ist, dass sich der Diskurs hierzulande nicht um Klarheit bemüht, sondern sich darauf konzentriert, die Bösewichter auszumachen. Irgendwie wird man den Verdacht nicht los, dass es nicht um ein Bild unseres Daseins geht, sondern um die Verortung des Übels.
Das ist irreführend, in einer Atmosphäre, in der es aber gar nicht um Lösungen geht, völlig unerheblich. Hauptsache, der Beelzebub ist identifiziert, der Rest wird sich schon irgendwie ergeben.
Eine derartige Herangehensweise lässt sich nur durch das Trauma erklären, das Deutschland gleich mehrmals in der jüngeren Geschichte erlebt hat. Erst wurde es nichts mit der Nation, dann, als es so weit war, sollte es gleich das Format einer Weltmacht sein, was den 1. Weltkrieg zur Folge hatte. Und die Niederlage legte schon den Grundstein zu der Frage nach Sündenbock und Meuchelmörder, so wie es bereits im Ur-Mythos der Deutschen, der Siegfrieds-Sage tradiert wird. Und aus dem Generalverdacht des Verrats resultierte die nächste Katastrophe – Faschismus und wieder ein Weltkrieg, der verloren werden musste. Danach die Teilung mit einer doppelten Fremdbestimmung und schließlich die Einheit aufgrund der Implosion einer Hegemonialmacht. Alles verlaufen ohne ein historisches Subjekt, das den Namen verdient hätte. Da liegt der Schluss nahe, dass es immer die andern sind, wenn etwas schief geht.
Aufgrund des beschriebenen Vermächtnisses ist es kein Wunder, dass die Triebkräfte fehlen, die die Welt so beschreiben wollen, wie sie ist, um dann ein Bild davon zu bekommen, welche Rolle das eigene Sein in diesem Konglomerat spielt oder spielen kann und welche Optionen klug und vernünftig sind.
Man könnte das alles als ein infantiles De-Arrangement bezeichnen, wenn es nicht die Gefahr in sich trüge, wie einmal den satanischen Ansatz zu wählen. Irgendwo sitzen die Missetäter, die die große deutsche Nation ins Übel führen wollen und erst dann Ruhe geben, wenn das Land der Weltmeister in Schutt und Asche liegt.
Obwohl Theodor Wiesengrund Adorno gar nicht so weit ging, sei ein treffendes Zitat aus dem Kontext gerissen und den zeitgenössischen Deutschen vor die Füße geschleudert. Ihr Auftreten und Agieren in einer zunehmend schneller und komplexer werdenden Welt ist das einer armen Seele, die sich an ihrer eignen Unzulänglichkeit delektiert.
Es reicht, sich die Leser-Kommentare auf den Online-Portalen der großen Nachrichtenmagazine anzuschauen, um das Treffende des Zitats zu erkennen. Ob Griechenland, Euro, ob EU und Russland, ob Syrien und Italien, ob Macron und Merkel: Immer schwingt der alles entlarvende Satz mit, „wir“ seien es, die immer bluten müssten, „wir“ seien es, die die Zeche zu bezahlen hätten.
Es ist grotesk und es wird bei niemandem Mitleid hervorrufen, wenn es so weit ist, dass die Bilanzen auf den Tisch gelegt werden müssen. Wenn die Länder, die sich verschuldet haben, damit aufhören, dieses zu tun, dann werden „wir“ auf unseren Waren sitzen bleiben. Die Doktrin, mit der die Familie Michel gefüttert wird, ist so unlogisch wie eine Weltmacht, die sich als Objekt besser fühlt als das Subjekt.
Die Verantwortung, von der in jedem Kontext gefaselt wird, besteht nicht in dem Befolgen neutraler Maximen. Sie hat nichts mit Einsätzen wie Afghanistan oder Mali zu tun. Verantwortung heißt zu allererst einmal, sich ein realistisches Bild von sich selbst zu machen und dann zu definieren, worin die eigenen Interessen bestehen. Alles andere ist ideologische Makulatur.
Foto: Kriemhild wirft sich auf den toten Siegfried: Gemälde von Johann Heinrich Füssli (1817). The Yorck Project (2002) 10.000 Meisterwerke der Malerei (DVD-ROM), distributed by DIRECTMEDIA Publishing GmbH. ISBN: 3936122202., Gemeinfrei (https://commons.wikimedia.org/w/index.php?curid=151177).
Dr. Gerhard Mersmann ist studierter Politologe und Literaturwissenschaftler. Er arbeitete in leitender Funktion über Jahrzehnte in der Personal- und Organisationsentwicklung. In Indonesien beriet er die Regierung nach dem Sturz Soehartos bei ihrem Projekt der Dezentralisierung. In Deutschland versuchte er nach dem PISA-Schock die Schulen autonomer und administrativ selbständiger zu machen. Er leitete ein umfangreiches Change-Projekt in einer großstädtischen Kommunalverwaltung und lernte dabei das gesamte Spektrum politischer Widerstände bei Veränderungsprozessen kennen. Die jahrzehntelange Wahrnehmung von Direktionsrechten hielt ihn nicht davon ab, die geübte Perspektive von unten beizubehalten. Seine Erkenntnisse gibt er in Form von universitären Lehraufträgen weiter. Sein Blick auf aktuelle gesellschaftliche, kulturelle wie politische Ereignisse ist auf seinem Blog M7 sowie bei Neue Debatte regelmäßig nachzulesen.
Eine Antwort auf „Vom ewigen Verrat“
Wann lernen “wir”, dass wir nicht so wichtig sind, wie “wir” immer tun. Wann lernen “wir”, ein wenig mehr Demut gegenüber der Natur und der Erde zu entwickeln.