Ich kann immer noch nicht schlafen.
Es ist 4:00 Uhr morgens und in zwei Stunden muss ich aufstehen und zur Arbeit. Es ist das dritte Mal, dass ich auf die Uhr geschaut habe. 2:00 Uhr, 2:30 Uhr, 3:00 Uhr. Bald wird es hell. Die Stunden ziehen sich schmerzhaft dahin, während ich wach liege und an die Herausforderungen des kommenden Tages denke. Zwischen unvermittelten Schocks ins volle Bewusstsein, dämmere ich in einen dösigen Nebel. Aber es ist kein Schlaf. Kein richtiger Schlaf. Nicht die Art Schlaf, nach der du dich ausgeruht fühlst.
Wenn du so müde bist, kannst du nicht wirklich irgendetwas mit einem gewissen Grad an Kompetenz tun. Experten sagen, du sollst einfach aufstehen und eine Zeit lang etwas anderes ausprobieren. Versuch dann noch einmal einzuschlafen, wenn du dich etwas müder fühlst. Aber das ist alles ziemlich sinnlos und du kommst dir unfähig vor, wenn du gerade in diesem Zustand bist. Zumindest, bis der Wecker um 6:00 Uhr klingelt. Dann hast du keine Wahl und eine berauschende Kombination aus Nerven und Koffein wird dich durch den Tag tragen müssen.
Ich kann immer noch nicht schlafen.
Zurzeit arbeite ich als Lehrer in einer Schule in der Innenstadt. Lehrer ist mein dritter oder vierter Job seit dem Verlassen der Universität und ich bin relativ neu in diesem Beruf. Die Schule, in der ich arbeite, hat den Ruf, eine Herausforderung zu sein. Das war der Hauptgrund, mich dort zu bewerben. Ihr Einzugsgebiet ist eines der am stärksten benachteiligten Viertel der Stadt, wo mehr als zwei Drittel der Bevölkerung unterhalb der Armutsgrenze lebt, die Kriminalität sehr hoch und der Bildungsstand sehr gering ist. Mit etwas Glück werden die meisten Schüler, die unsere Schule besuchen, eine höhere Lesekompetenz als ihre Eltern erreichen.
Ich erinnere mich an den Ausdruck auf den Gesichtern einiger meiner Lehrerfreunde, als ich sagte, dass ich mich um einen Job an dieser Schule bewerbe: „Ich habe gehört, dass es dort hart ist.” – „Die Kinder sind alle Inzucht.” – „Bist du sicher!?”.
“Ja”, sagte ich zu mir selbst, “denn wenn es irgendetwas bedeutet, Lehrer und Sozialist zu sein, dann ist das, genau hier zu sein”.
Ich kann immer noch nicht schlafen.
Ich erinnere mich an den Hinweis eines erfahrenen Kollegen, “der Sonntagsbammel geht nie weg”, versicherte er mir, “sonntagabends gehe ich einfach raus und besauf mich”.
In einem Moment besonders schlechten Urteilsvermögens zwinge ich mir eine Viertelflasche dunklen Rums runter – die Reste aus den Ferien. Jetzt bin ich ein bisschen angetrunken und schlaflos. Das wird mir am Morgen nicht helfen. Der Alkohol bringt nur das Gefühl der Melancholie, des Mangels an Kontrolle dazu. Warum kann ich nicht einfach … ein-schla-fen? Es ist einfach nur Schlaf. Jeder schafft das, jeden Tag, überall auf der Welt. Es scheint so lachhaft. Ich fange an, Schülernamen in meinem Sitzplan durchzugehen, ein Versuch, mich abzulenken. Mich selbst in den Schlaf zu lullen. Einen nach dem anderen nehme ich sie mir vor und versuche, mich an ihre vollständigen Namen zu erinnern, buchstabiere sie, während ich mich in Gedanken durch mein Klassenzimmer bewege. C-A-L-L-U-M S-H-A-W. Denk dran, dass du es für sie tust.
Es funktioniert nicht. Kann immer noch nicht schlafen.
Nach einer Pause wieder in die Schule zurückzukehren ähnelt dem Gang durch einen Sturm, um das Auge eines Hurrikans zu erreichen. Die Arbeit ist ein Wirbelwind aus bürokratischem und unternehmerischem Druck – und das fast täglich. Papierkram, Supervisionen, Leistungsmanagement, Inspektionen [1], Learning Walks [2], Benotungspläne, die außer Kontrolle geraten, verpasste Deadlines, To-do-Listen, die immer länger werden. Und das alles neben der eigentlichen Aufgabe, für die wir bezahlt werden – das Vermitteln einer motivierenden und qualitativ hochwertigen Ausbildung.
Kann nicht schlafen.
Clevere Mitarbeiter verlegen sich aufs Sammeln von geheimen Informationen, um schon im Voraus herauszufinden, was der nächste große Vorstoß von oben sein wird. Wird es im nächsten Halbjahr eine Arbeitskontrolle der 8. oder der 6. Klassen geben? Wertvolle Informationen wie diese werden in der Freizeit heimlich unter vertrauenswürdigen Kollegen ausgetauscht. „Schau dir diese E-Mail an”, sagt mein Abteilungsleiter – dort stehen Datum und Uhrzeit meiner nächsten Überraschungs-Beurteilung – „das ist nie passiert”, beruhigt er mich lächelnd und mit Augenzwinkern.
Arbeite smart, nicht hart. Das ist das Mantra der Veteranen dieses Spiels, die die dunkle Kunst des kreativen Umgehens von Vorschriften perfektioniert haben. Bring ein paar deiner verantwortungsvolleren Schüler dazu, durch einige herausragende Prüfungsleistungen während einer gefakten Unterrichtsstunde zu glänzen, passe deine Unterrichtsvorbereitung deiner jeweiligen Tagesverfassung an, wähle mit Bedacht deine Bücher und Klassen für die nächste Überprüfung aus.
Niemand kann mit der ständig wachsenden Arbeitsbelastung mithalten, aber solange bestimmte Felder angekreuzt sind, ist die Geschäftsleitung glücklich. Das ist ein notwendiges Ventil gegen Burn-out in einem Beruf, in dem stressbedingtes Kranksein geradezu endemisch ist und monatlich etwa 4.000 Lehrer wegen Überarbeitung und Stress den Beruf verlassen.
Kann immer noch nicht schlafen.
Und dann die Momente, wegen derer du weitermachst – die Kinder. Ja, ich habe Stühle und Tische fliegen sehen, wurde mit jedem nur erdenklichen Schimpfwort bezeichnet und hatte vermutlich innerhalb eines Jahres mit mehr schwierigem Verhalten zu tun als ein Lehrer in einem begrünten Mittelklasse-Vorort innerhalb eines Jahrzehnts, wenn nicht gar in seiner ganzen Karriere. Ich musste eine 6. Klasse ablenken, während die Polizei einen Schüler aus dem Unterricht der gegenüberliegenden Klasse rausgeholt hat, ich habe unzählige Kämpfe unterbrochen und mich fast wöchentlich mit einem Kind unterhalten, das seit dem Vortag nichts mehr gegessen hatte. Aber ich habe auch jede Sekunde davon geliebt. Weil es eben nicht nur darum geht, „die Ansprüche zu erhöhen“ – das Schulmantra –, sondern es geht um Hoffnung.
Du kannst besser sein und du solltest auch besser sein. Nicht nur wegen der Minimalziele oder Prüfungsergebnis-Tabellen oder sogar wegen Ofsted [3], sondern weil es schlicht und einfach ein moralischer Skandal ist, dass im 21. Jahrhundert in einer der wohlhabendsten Gesellschaften auf diesem Planeten, dein Geburtsort und wer deine Eltern sind, darüber entscheidet, wer du bist und was du im Leben erreichen kannst.
Es geht außerdem um die reine Freude am Lehren und Lernen mit freien und aufgeschlossenen Geistern, die noch nicht vom Zynismus dieser Welt erfasst wurden. Aufrichtige kleine Menschen, die ehrlich genug sind, um dir zu sagen, wenn du etwas falsch verstehst, aber auch wenn du etwas richtig gemacht hast. Wenn du nämlich etwas verstanden hast und beginnst, wirklich weiter voranzukommen, dann fühlt ihr beide die Macht der Bildung – zu erhellen, zu befreien und mental zu stärken.
Kann nicht schlafen.
Das sind die Geschichten, die du dir selbst erzählst. Denn tief in deinem Inneren weißt du, dass sich das System ändern muss. Dass trotz allem, was du für sie tust, diese Kinder immer noch dreimal so hart arbeiten und wahrscheinlich noch ein paar Mal häufiger scheitern müssen, um die Chancen zu haben, die ein Kind, das nur ein paar Kilometer entfernt aufwächst, wahrscheinlich sowieso ergreift. Dass der einzige Weg, damit diese Familien wirklich eine faire Chance im Leben bekommen, darin besteht, die Spielregeln zu ändern. Und diese Veränderung muss riesig sein, sie muss massiv sein. Sie muss größer sein als eine Schule und sicherlich größer als ein Klassenzimmer. Sie muss sozial sein. Aber was für eine Realität bedeutet das für einen Teenager? Ich bin nicht einmal sicher, ob die meisten Erwachsenen damit umgehen können. Aber wir kämpfen trotzdem weiter. Was sonst?
Im Übrigen kann ich immer noch nicht schlafen.
“At Work” ist eine neue unregelmäßige Serie von New Syndicalist, in der die Erfahrungen des Arbeitsplatzes, Momente der Selbstreflexion und andere Prozesse der Selbstbeobachtung im zeitgenössischen Kapitalismus erfasst werden. Alle Namen, auf die in dem Artikel Bezug genommen wird, wurden geändert, um die Persönlichkeitsrechte zu schützen.
Redaktioneller Hinweis: Der Beitrag erschien erstmals auf www.newsyndicalist.org in englischer Sprache unter dem Titel “At work #1: „I still can’t sleep“ by the Sleepless Teacher.” Wir danken New Syndicalist für die Zustimmung zur Übersetzung und Übernahme auf Neue Debatte.
[1] Inspektionen (im engl. Originaltext als observations bezeichnet) sind (bisweilen unangekündigte) Überprüfungen der Lehrtätigkeit (s. a. Ofsted). ↩
[2] Learning Walks sind Veranstaltungen, wo Lehrer sich gegenseitig beim Unterrichten zuschauen, um voneinander pädagogische Techniken zu lernen. ↩
[3] Ofsted = Office for Standards in Education (www.gov.uk/government/organisations/ofsted), ist eine staatliche Einrichtung, die Unterrichtsstandards in Großbritannien regelt und Inspektionen in Schulen durchführt, um deren Einhaltung zu überprüfen. ↩
Foto: Toa Heftiba (Unsplash.com)
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3 Antworten auf „Auf Arbeit #1: “Ich kann immer noch nicht schlafen.”“
wer seine arbeit zu wichtig nimmt ist als lehrer nicht geeignet, weil bei allem was w i c h t i g ist, stresshormone a d r e n a l i n /cortisol ausgeschüttet werden und die für den schlaf wichtigen hormone auch noch für die stresshormone abgezweigt werden
Der Stress kommt von oben: “Niemand kann mit der ständig wachsenden Arbeitsbelastung mithalten, aber solange bestimmte Felder angekreuzt sind, ist die Geschäftsleitung glücklich.”
In dem Beitrag der Neuen Debatte spricht ein Lehrer über seine Probleme in seinem Beruf:
Auf Arbeit #1: „Ich kann immer noch nicht schlafen.“
Dazu meine Gedanken zu – Gerechtigkeit muss sein:
Sowohl die Defizite in unserem Bildungssystem als auch das humanitäre Problem der Auswanderungen und Asylbewerbungen haben die gleichen Ursachen, die systemimmanent sind. Wenn die jeweils Betroffenen gegen diese Probleme nicht in solidarischem Zusammenwirken aufbegehren, unterliegen sie dem Prinzip des teile und herrsche der Machthaber.
Johannes Heinrichs sieht in seinem DEMOKRATIEMANIFEST für die schweigende Mehrheit die zwischenmenschliche „Kommunikation als Schlüsselfrage“ bei der Lösung gesellschaftlicher Probleme. Diese sei an die einfache Frage gebunden, „wer kommt zu Wort, und wie können die Wortmeldungen geordnet aufeinander bezogen werden?“ Die Probleme der Gerechtigkeit, also von Arm und Reich, die Ernährungsprobleme der Welt, die Probleme mit der Natur und ihren Schätzen, mit der Arbeitslosigkeit und dem Verkehr, mit dem Frieden und mit der Gerechtigkeit auch in den Bildungschancen, seien allesamt sachlich lösbar. Das hänge aber von der einen Schlüsselfrage ab: „Wie können die Menschen sachlich und friedlich, womöglich verständnis- und vertrauensvoll diese Lösungen aushandeln? Und zwar indem alle Betroffenen, das sind alle, zu Wort kommen?“
Das fatale Gefühl, in der Gesellschaft gar nicht erst gehört zu werden, sei der Kern des Ohnmacht Gefühls, das die große Mehrheit unserer Mitbürger beschleiche. Um dem abzuhelfen sei es zwingend notwendig, auf vier Ebenen den Diskurs zu gesellschaftspolitischen Aufgaben zu führen, um diese auf demokratische Weise zu erfüllen. Das seien die Ebene der Grundwerte, die Ebene der kulturvollen Lebensweise, die der politischen Lenkung und Leitung des gesellschaftlichen Zusammenwirkens und die der Erwirtschaftung der materiellen Grundlagen für ein ertragreiches Füreinander aller.