Die Angst geht um. Die Angst vor dem eigenen Versagen. Die Angst, von der sich immer schneller drehenden Welt überrollt zu werden. Die Angst vor dem Ruin. Die Angst, alleine dazustehen. Und das Eigenartige ist, dass in dem Land, in dem das alles sehr ausgeprägt ist, niemand darüber spricht. Oder zu sprechen gelernt hat. Denn wer sich zu seinen Ängsten bekennt, der bricht ein eisernes Tabu. [1]
Wer Angst hat, der hat auch versagt. Das ist paradox, aber dort, wo die Geburt dessen ist, was in der internationalen Literatur „the German Angst“ genannt wird, gehört es zu den kollektiven Leugnungsritualen, sich von jeglicher Form von Angst freizusprechen.
Das ist nicht nur paradox, es ist auch irrational. Doch zu erwarten, dass ein emotionales Phänomen wie die Angst mit Rationalität antwortet, wäre auch etwas viel verlangt.
Es ist zu berücksichtigen, dass die Generationen etwas trennt. Diejenigen, die durch den Krieg direkt oder durch diejenigen, die ihn erlebt haben, sozialisiert wurden, stehen noch in der Tradition der muskulär maskulinen Tabuisierung von Angst. Angst im Krieg darfst du nicht haben, sonst stehst du womöglich vor der eigenen Wand. Wer Angst zugab, war ein schwaches Glied im Kriegsrausch, der musste weg.
Doch die nachfolgende Generation tut sich nicht schwer mit dem Bekenntnis, von dem Phänomen Angst geprägt zu werden. Sie muss nur gefragt werden.
Wer von denen, die mit dem Tabu behaftet sind, soll die Jüngeren nach ihren Ängsten fragen? Es scheint wie ein Ding der Unmöglichkeit, dieses Rätsel zu lösen. Denn nur wer mit Aufrichtigkeit und Wahrhaftigkeit an die Frage geht, erwirbt die Legitimation, mit anderen darüber zu sprechen. Wagen wir also den Sprung, haben wir Mut zur Angst.
Der Prozess kann vieles lösen, denn er dechiffriert die Verhältnisse, die sich hinter den bedrohlichen Szenarien verbergen. Wer das Licht nicht anzündet, bleibt im Reich der rätselhaften Konturen.
Man spricht nicht mehr von einer Betrachtung zweiter Ordnung, sondern von der Helikopterperspektive. Macht nichts. Wichtig ist, dass wir lernen, das uns bewegende Phänomen von oben zu betrachten. Dann sind wir nur noch Akteure in einem Brettspiel. Und wir lernen, wie die Welt funktioniert.
Dann wissen wir, wie Wirtschaft mit dem zusammenhängt, was uns bedrückt. Mit globalisierten Produktionsketten, mit Preisen für Arbeitskräfte, mit der Konkurrenz von Qualität, mit den Kosten für das Gemeinwesen. Und wir lernen, dass wir in einem Staat leben, der sich vor langer Zeit für einen Weg entscheiden musste, der dieser Betrachtung nicht unbedingt entsprach. Und wir lernen, dass jetzt die Zeit gekommen ist, wo die Sicherheiten der Vergangenheit revidiert werden. Und wir wissen nicht, was wird, es sei denn, wir machen etwas, dass diese Politik aufhält.
Oder wir sehen, dass viele Menschen auf der Welt in Bewegung gekommen sind. Durch Kriege, die sie nicht wollten, durch die Vernichtung ihrer Ökosysteme, durch den Raub ihrer Ressourcen.
Millionen und Abermillionen Menschen wollen sich retten. Es treibt sie auch an unsere Grenzen und viele fürchten, sie kämen alle vor die eigene Tür und raubten mit ihren Ansprüchen die letzten eigenen Gewissheiten. Auch diese Ängste können überwunden werden, wenn wir uns entscheiden, diese Art der desaströsen Politik zu ändern.
Nur zwei Beispiele, die zeigen, woher die durch Ängste beeinflusste Erosion des politischen Systems kommt. Sprechen wir über die Ängste, und sprechen wir über ihre Quellen. Das ist mutig. Das ist die Courage, die notwendig ist, um sich in Politik einzumischen.
Quellen und Anmerkungen
[1] Angst ist ein menschliches Grundgefühl. In als bedrohlich empfundenen Situationen äußert sich Angst als Besorgnis und unlustbetonte Erregung. Auslöser der Angst können erwartete oder konkrete Bedrohungen zum Beispiel gegen die körperliche Unversehrtheit, die Selbstachtung oder des Selbstbildes sein. Krankhaft übersteigerte Angst wird als Angststörung bezeichnet. ↩
Foto: Rawpixel (Unsplash.com).
Dr. Gerhard Mersmann ist studierter Politologe und Literaturwissenschaftler. Er arbeitete in leitender Funktion über Jahrzehnte in der Personal- und Organisationsentwicklung. In Indonesien beriet er die Regierung nach dem Sturz Soehartos bei ihrem Projekt der Dezentralisierung. In Deutschland versuchte er nach dem PISA-Schock die Schulen autonomer und administrativ selbständiger zu machen. Er leitete ein umfangreiches Change-Projekt in einer großstädtischen Kommunalverwaltung und lernte dabei das gesamte Spektrum politischer Widerstände bei Veränderungsprozessen kennen. Die jahrzehntelange Wahrnehmung von Direktionsrechten hielt ihn nicht davon ab, die geübte Perspektive von unten beizubehalten. Seine Erkenntnisse gibt er in Form von universitären Lehraufträgen weiter. Sein Blick auf aktuelle gesellschaftliche, kulturelle wie politische Ereignisse ist auf seinem Blog M7 sowie bei Neue Debatte regelmäßig nachzulesen.
2 Antworten auf „Das Tabu brechen: Die Angst geht um“
Meine Angst ist, dass die Menschheit allgemein sich in eine Richtung bewegt, in der nur Geld, Wirtschaft und Fortschrit eine Rolle spielt und dann staunen wir, dass für menschliches Miteinander keine “Menschen” und natürlich auch kein Geld zur Verfügung steht. Wann begreifen Menschen das,hoffentlich nicht erst dann, wenn es zu spät ist.
Angst ist wichtig! Kontrollierte Paranoia wäre heutzutage wichtiger.
Angst ist essentiell! Sie treibt zu Angriff oder Flucht.
Was Claus Meyer kommentiert ist realität.Leider.
Nur wer die eigene Mitte kennt kann sich der eigenen Angst bewußt sein die dann keine Angst mehr ist.
Aber wer kennt schon die eigene Mitte. Das ist auch nicht gewollt, darum wird Angst produziert und der Mensch so besser kontrolliert…