In diesem vierten und letzten Teil der Serie „Der Mut zum Sein“ soll es noch einmal um den Kerntext Sigmund Freuds gehen: das „Unbehagen in der Kultur“. Zu Anfang sei die Argumentation Freuds kurz nachgezeichnet. Freud, Psychoanalytiker, Neurologe, Tiefenpsychologe, Kulturtheoretiker und Religionskritiker, beginnt mit einer grundsätzlichen Überlegung:
“Das Leben, wie es uns auferlegt ist, ist zu schwer für uns, es bringt uns zu viel Schmerzen, Enttäuschungen, unlösbare Aufgaben. Um es zu ertragen, können wir Linderungsmittel nicht entbehren.” [1]
Der Kürze und Einfachheit halber seien die von Freud beobachteten Linderungsmittel noch einmal aufgelistet:
a. Gewollte Vereinsamung
b. Unterwerfung der Natur
c. Intoxikation
d. Ertötung der Triebe (orientalische Lebensweisheit; Buddhismus)
c. Libidoverschiebungen (Sublimation)
Diese Punkte wurden schon in den vorangehenden Beiträgen be- und verhandelt.
Im Weiteren geht es um Kasteiung und Beherrschung, sei es der Natur, anderer Menschen oder der je eigenen (Trieb-)Natur. Dies scheint der Preis, das Opfer zu sein, das Menschen aufzubringen haben, wollen sie in den – dadurch fragwürdig werdenden – Genuss einer Gesellschaft oder Kultur kommen.
Diese Überlegungen haben ihren Ausgangspunkt bei keinem Geringeren als dem französischen Philosophen René Descartes, dem Wegbereiter der Aufklärung, der die Trennung von Körper und Geist postulierte – wobei eben der Geist oder der Verstand über Körper und Natur herrschen sollte.
Entmenschlichung der Menschen
Für die Naturwissenschaften war es ein enormer Gewinn, wenn nicht gar ein Freifahrtschein, für die Humanwissenschaften desaströs. Denn bei einer Herrschaft des Verstandes über die Natur kommt es einerseits zu Verdrängungen, andererseits zu Berechnungen und Berechenbarkeiten: sogar in humanwissenschaftlichen Disziplinen wie Psychologie und Soziologie. Das eben ist der Preis, den eine aufgeklärte, herrschende Kultur oder Gesellschaft für ihre Herrschaft bezahlt: Die Entmenschlichung der Menschen, welche nur noch als statistische, handhabbare Größen gesellschaftsfähig scheinen.
„Seit je hat Aufklärung im umfassendsten Sinn fortschreitenden Denkens das Ziel verfolgt, von den Menschen die Furcht zu nehmen und sie als Herren einzusetzen. Aber die vollends aufgeklärte Erde strahlt im Zeichen triumphalen Unheils. Das Programm der Aufklärung war die Entzauberung der Welt. Sie wollte die Mythen auflösen und Einbildung durch Wissen stürzen.“ [2]
Aufklärung – so gesehen – erscheint als ein genuin europäisches Phänomen, das allerdings einen fundamentalen Widerspruch in sich trägt: Einerseits soll ein aufgeklärter Mensch frei von Vorurteilen sein, andererseits soll er grundsätzlich keinerlei Autoritäten anerkennen. Das ebendies auch ein Vorurteil ist: Den Fetisch des eigenen, scheinbar selbständigen Denkens, einst gedacht als von aller Herrschaft und Autorität emanzipierend und gegen sie aufbegehrend, festzuhalten, erscheint als Dogma und ureigenstes Vorurteil aufklärerischen Denkens.
Was bleibt, ist die Möglichkeit, Zeitalter und Projekt der Aufklärung historisch zu lesen und zu betrachten: Schließlich waren es Kampf und Aufbegehren gegen ungerechte Herrschaft seitens Kirche und Aristokratie, die dem aufklärerischen Denken Kraft und Legitimation zu geben vermochten.
“Man kann sich des Eindrucks nicht erwehren, daß die Menschen gemeinhin mit falschen Maßstäben messen, Macht, Erfolg und Reichtum für sich anstreben und bei anderen bewundern, die wahren Werte des Lebens aber unterschätzen.” [3]
Der Mensch als Prothesengott
Einst erfand ein Mensch das Rad. Später traten Verbrennungsmotoren, Automobile, Eisenbahn und Flugzeuge hinzu. Dies alles schienen Errungenschaften, welche es den Menschen ermöglichten, räumliche Distanzen schneller und bequemer zu überwinden, als – per pedes – mit Sandale und Wanderstab. Technik konnte den Menschen helfen, Unbillen der Natur gerüstet entgegenzutreten, um es sich so in seiner menschlichen Welt bequem zu machen, und es sich gutgehen zu lassen.
“Der Mensch ist sozusagen eine Art Prothesengott geworden, recht großartig, wenn er alle seine Hilfsorgane anlegt, aber sie sind nicht mit ihm verwachsen und machen ihm gelegentlich noch viel zu schaffen. […] Ferne Zeiten werden neue, wahrscheinlich unvorstellbar große Fortschritte auf diesem Gebiete der Kultur mit sich bringen, die Gottähnlichkeit noch weiter steigern. Im Interesse unserer Untersuchung wollen wir aber auch nicht daran vergessen, daß der heutige Mensch sich in seiner Gottähnlichkeit nicht glücklich fühlt.” [4]
Diese Hybris – als Selbstüberschätzung, Anmaßung einer Gottgleichheit und eines Hochmutes – erkannte Sigmund Freud 1930 in seiner kulturkritschen Schrift “Das Unbehagen in der Kultur”. Eine Entfremdung – über den Begriff wurde schon in dem Beitrag über „Endlichkeit, Entfremdung und Balance“ nachgedacht – geht mit den technischen Fortschritten einher, ist unvermeidlich, scheint der Preis für Herrschaft des Menschen über die Natur.
Was ist heute zu beobachten?
Junge Menschen, die – fasziniert von und verführt durch neueste Technologien – den Anstrengungen enthoben sind, eine Landkarte mit Kompass zu lesen oder einen ausgedruckten Fahrplan an Bushaltestelle oder U-Bahn. Man kann das – kulturkonservativ – beklagen oder auch nicht, es gehört jedenfalls und einfach zu der modernen “Realität” und “Welt”.
“Wer Wissenschaft und Kunst besitzt,
hat auch Religion;
wer jene beiden nicht besitzt,
der habe Religion!” [5]
Wie weit soll es noch gehen, wohin führt der Weg?
Eventuell zum Menschen hin, vielleicht ist dort ein Steg.
Weiterführende Informationen und Literaturhinweise
Freud, Sigmund: Abriß der Psychoanalyse. Das Unbehagen in der Kultur. Fischer Taschenbuch Verlag GmbH, Frankfurt am Main, 1972.
Gruen, Arno: Wider den Gehorsam. J. G. Gotta’sche Buchhandlung, Stuttgart: 2014.
Gruen, Arno: Verratene Liebe – falsche Götter. J. G. Gotta’sche Buchhandlung, Stuttgart 2003.
Honneth, Axel: Kampf um Anerkennung. Suhrkamp Taschenbuch Wissenschaft 1129, Frankfurt am Main 1992.
Honneth, Axel: Pathologien der Vernunft. Suhrkamp Taschenbuch Wissenschaft 1835, Frankfurt am Main 2007.
Horkheimer, Max / Adorno, Theodor W.: Dialektik der Aufklärung.
Marquard, Odo: Skepsis und Zustimmung. Darin: Plädoyer für die Einsamkeitsfähigkeit. Reclam 9334. Stuttgart: Reclam 1994.
Quellen und Anmerkungen
[1] Abriß der Psychoanalyse. Das Unbehagen in der Kultur. Fischer Taschenbuch Verlag GmbH, Frankfurt am Main (1972), S. 73. ↩
[2] Max Horkheimer/Theodor W. Adorno: Dialektik der Aufklärung. Philosophische Fragmente, S. 9. Fischer Wissenschaft 7404, Frankfurt am Main 1988; 1944 by Social Studies Association, Inc. New York; S. Fischer Verlag, Frankfurt am Main 1969. ↩
[3] Freud, Sigmund: S. 65. ↩
[4] Ebenda, S. 87. ↩
[5] Goethe, Johann Wolfgang: Zahme Xenien IX (Gedichte aus dem Nachlass). ↩
Foto: Meric Tuna (Unsplash.com).
Dr. Christian Ferch studierte Linguistik, Philosophie und Religionswissenschaft mit den Schwerpunkten Semantik, Kommunikationstheorie und Religionskritik. Er war Chefredakteur der Studentenzeitung „Die Spitze“ und schrieb seine Dissertation unter dem Titel „Elemente einer allgemeinen Kommunikationstheorie“ an der Freien Universität Berlin. Christian Ferch veröffentlicht zahlreiche philosophische Texte auf seiner Homepage. Im Podcast Philosophie Heros reflektiert er auf gesellschaftliche Aspekte aus dem Blickwinkel der Philosophie und der Kommunikation.
Eine Antwort auf „Der Mut zum Sein: Das Unbehagen in der Kultur“
Der Preis für die Herrschaft des Menschen über die Natur wird unermesslich sein.
Es kann immer nur ein Miteinander geben. Der Mensch ist Natur, geht aus ihr hervor und kehrt wieder zurück. Bei allem Gottes-Grössen-Wahn vergessen wir, dass wir begrenzt und sterblich sind.
Eine Rose würde sich nie für etwas Besseres halten, als ein Baum und umgekehrt, weil beide einander bedingen. Genauso in der Tierwelt. Nur der Mensch hat den Frevel begangen (un)heilige Bücher zu schreiben in denen steht, mach dir die Welt zum Untertan…