Er gilt als einer der meist überlieferten Slogans aus Karl Marx ökonomischer wie politischer Theorie. Die Worte hängen bei Diskussionen über die Eigentumsverhältnisse einer Gesellschaft immer wie ein Damoklesschwert oben im Raum. Und sie beschreiben etwas, das vielen nicht nur ökonomisch sinnvoll, sondern auch politisch gerecht erscheint. Gemeint ist die Expropriation der Expropriateure.
Und damit ist gemeint, dass diejenigen, die sich den Wert der Arbeit anderer aneignen, ihrerseits selbst der angeeigneten Werte entledigt werden.
Konkret geht es darum, dass die Besitzer von Produktionsmitteln diejenigen, die sie für sich gegen Lohn arbeiten lassen, um den geschaffenen Mehrwert entledigt, der entsteht, weil der real geschaffene Wert den der tatsächlich bezahlten Arbeitskraft übersteigt. Marx nannte diesen Prozess Expropriation, also Enteignung. Und es geht darum, dass durch die Abschaffung des Privatbesitzes an Produktionsmitteln die Enteigner ihrer eigenen Mittel beraubt werden und so die Wertschöpfung wie dessen Distribution mehr Gerechtigkeit erfahren soll.
Neben dem beschriebenen Kontext, der immer sehr vehement diskutiert wird, weil es schließlich um das Sein oder Nichtsein des Kapitalismus geht, existiert jedoch noch eine andere Form der Expropriation innerhalb des kapitalistischen Systems. Da geht es nicht mehr um den Prozess der Wertschöpfung und den Mehrwert, sondern es geht um die von den Besitzlosen betriebenen Selbsthilfeorganisationen und es geht um deren unter großen Opfern ersparte Beträge.
In der jüngeren bundesrepublikanischen Geschichte ergab es sich, dass die oft propagierte, aber tatsächlich nicht erwartete Wiedervereinigung mit Deutschlands Osten plötzlich anstand und organisiert werden musste. Aus Gründen, die niemand hätte zurückweisen wollen, griffen alle Administrationen seitdem zum Zwecke der nationalstaatlichen Einigung sowohl in die Kassen der Arbeitslosenversicherung als auch in die Rentenkassen. Beides führte zu einer de facto Expropriation der Versicherten, denn sowohl die Leistungen der Arbeitslosenversicherung als auch die der Rentenversicherung gingen seither merklich zurück.
Eine nächste Welle der Expropriation von Volksvermögen ging einher mit einer Werbekampagne, die sich gewaschen hatte und die den Börsengang der Deutschen Telekom als groß angelegtes, staatlich betriebenes Betrugsmanöver in die Geschichtsbücher eingehen ließ.
Es war die Rede von einer Volksaktie, die dem „Kleinen Mann“ eine gerechte Teilhabe an der Wertschöpfung im eigenen Land bescheren sollte. Im ersten Börsengang 1996 und im zweiten 1999 wurde der Grundstein gelegt für die Privatisierung der Telekom und den buchstäblichen Scheiterhaufen für das in der Bevölkerung angesparte Vermögen.
Mit der Einführung des Euro im Jahr 2002 wurde nicht mehr so dilettiert wie bei der Telekom-Aktie, sondern mit einem Schlag die Kaufkraft aller halbiert. Wieder, und diesmal in flächendeckendem Ausmaß, konnte von einer Expropriation geredet werden, die den Grad des Betrugs an der Bevölkerung noch potenzierte.
Und mit der Niedrigzinspolitik durch die Europäische Zentralbank (EZB) im Nachklang zur Weltfinanzkrise 2008 wurde wiederum Volksvermögen vernichtet. Die Zinsen blieben unten, die Lebenshaltungskosten stiegen und mit ihnen die Inflationsrate.
Bis dato war das die letzte Welle der Expropriation der Produzenten, nicht die der Expropriateure, und die insgesamt zweite der flächendeckenden Vermögensvernichtung. Es ist nicht übertrieben, von der Dimension einer Expropriation 4.0 zu sprechen. Das ist starker Tobak und das ist schlimmer als von vielen befürchtet. Ob das dazu führen wird, die tatsächlichen Expropriateure in den Fokus zu nehmen, wird die nahe Zukunft bereits zeigen.
Illustration: Neue Debatte mit Material von Perlinator (Pixabay.com, Creative Commons CC0).
Dr. Gerhard Mersmann ist studierter Politologe und Literaturwissenschaftler. Er arbeitete in leitender Funktion über Jahrzehnte in der Personal- und Organisationsentwicklung. In Indonesien beriet er die Regierung nach dem Sturz Soehartos bei ihrem Projekt der Dezentralisierung. In Deutschland versuchte er nach dem PISA-Schock die Schulen autonomer und administrativ selbständiger zu machen. Er leitete ein umfangreiches Change-Projekt in einer großstädtischen Kommunalverwaltung und lernte dabei das gesamte Spektrum politischer Widerstände bei Veränderungsprozessen kennen. Die jahrzehntelange Wahrnehmung von Direktionsrechten hielt ihn nicht davon ab, die geübte Perspektive von unten beizubehalten. Seine Erkenntnisse gibt er in Form von universitären Lehraufträgen weiter. Sein Blick auf aktuelle gesellschaftliche, kulturelle wie politische Ereignisse ist auf seinem Blog M7 sowie bei Neue Debatte regelmäßig nachzulesen.
Eine Antwort auf „Die Wellen der Expropriation“
Es kann nie anders ablaufen, das Geldsystem und hier besonders die Zinsen erzwingen stets eine Anreicherung der gesamten Geldmenge bei wenigen Superreichen. Auch eine Besteuerung löst das Problem nicht. So lange wir dieses Geldsystem benutzen, so lange bleibt dieser Geldzuwachs bei den wenigen wirklichen Reichen bestehen, es ist systembedingt. Dabei liegen Vorschläge für ein Vollgeldsystem, die eben den Nachteil erst garnicht erlauben, schon länger auf dem Tisch.