Jenseits der Aufmerksamkeit hat Bundesverteidigungsministerin Ursula von der Leyen ihren seit langem bekannten Kurs gegenüber Russland bestätigt. Sie betonte, dass es wichtig sei, mit Russland aus einer Position der Stärke heraus in den Dialog zu treten.
Das hört sich bekannt an und regt hierzulande auch kaum noch jemanden auf. Was verstörte, war die deutliche Reaktion des russischen Verteidigungsministers Sergej Schoigu. [1] Dieser hatte zu verstehen gegeben, dass man in Deutschland, nach dem was von dort aus seinem Land angetan worden sei, am besten in den nächsten 200 Jahren noch schweigen sollte. Und er fügte hinzu, dass alle Deutschen gut beraten seien, ihre Großväter zu fragen, was passieren würde, wenn Deutschland aus einer Position der Stärke Russland gegenüberträte. [2]
Abseits des Ekels, der mich befällt, wenn die Kriegstrommeln gerührt werden, versuchte ich dem Rat des russischen Verteidigungsministers zu folgen. Ich musste nicht meinen Großvater fragen, der fiel als junger Mann im Ersten Weltkrieg in Frankreich. Aber mein Vater, der seinen eigenen Vater nie zu Gesicht bekam, weil er eben früh in Frankreich fiel, der war in Russland gewesen. Und er hatte viel dort erlebt, beim großen Zug nach Osten. Nun ist auch er schon lange tot, aber seine Erzählungen haften immer noch in meinem Gedächtnis.
Und obwohl mein Vater ein brillanter mündlicher Erzähler war, fiel mir wieder auf, wie wenig er vom Krieg erzählt hat. Es waren wenige Geschichten, Schlüsselerlebnisse, die er wie ein Mantra wiederholte, als wolle er seine Wunden heilen, und zwar die der Seele, die ihn weit mehr schmerzten als die verbliebenen Granatsplitter, die ihm im Körper steckten. Da war sein Pferd, das vor Moskau lebendig verbrannt war, da war der Kölner, der ein “brutaler Hund” war, aber an Weihnachten wie ein kleines Kind weinte, wenn er vom Kölner Dom sang.
Und da war der russische Bauer, der meinem Vater ins Gesicht gesagt hatte, dass ein Volk, welches sich so aufführe wie seines, keine Kultur habe. Und da war die Partisanin, die, bevor sie von einem der Totenkopfkommandos erschossen wurde, die Faust geballt und ihr Land hatte hochleben lassen und dann zerfetzt zu Boden sank. Da, so erzählte mein Vater immer wieder, da wussten wir alle, dass dieser Krieg verloren war, obwohl wir noch im Vormarsch waren. Dann seufzte er und schwieg. Und wir, die wir zuhörten, durchbrachen nie die Stille.
Das war es eigentlich schon. Mehr erzählte er nicht. Ja, da waren ihm noch die Knie eingefroren, ja, da gab es viele Tote und Verletzte, ja, im Grunde war es von vorneherein klar, dass das alles Irrsinn war. Aber, um es zu fokussieren: Es war die Vernichtung von Mensch, Natur und Tier, es war das Schizoide im eigenen Verhalten, es war die Scham, in einem solchen Akt der Barbarei eine Rolle zu spielen und es war der Respekt vor dem Geist und dem Zusammenhalt des Landes, in dem man sich befand.
Dass eine Polit-Karrieristin unserer Tage so etwas nicht reflektiert, mag auch mit ihrer Herkunft zusammenhängen. In ihrer Familie scheinen mehr Täter als Opfer gewesen zu sein, was sich bis zu den akademischen Eskapaden des Herrn Vater zurückverfolgen lässt. [3] Wer diese Erfahrung der Geschichte leugnet, sollte besser den Mund halten. Oder anders herum, das Sicherheitsrisiko ist eine gegen die Erfahrungen der Geschichte imprägnierte Verteidigungsministerin.
Quellen und Anmerkungen
[1] Seit November 2012 ist Sergej Kuschugetowitsch Schoigu Verteidigungsminister Russlands. Von 1994 bis 2012 war der russische Armeegeneral und Politiker Minister für Zivilschutz und von Mai bis November 2012 Gouverneur der Oblast Moskau. Sein Vorgänger als Verteidigungsminister, Anatoli Serdjukow, war von Staatspräsident Wladimir Putin wegen eines Immobilienskandals entlassen worden. In einem Fernsehinterview am 11. August 2018 wurde Sergej Schoigu auf die Äußerungen Ursula von der Leyens angesprochen. Dabei empfahl er der deutschen Ministerin einen Rückblick in die Geschichte, wie zum Beispiel die deutschsprachige Ausgabe von Sputnik News berichtete: Russlands Verteidigungsminister warnt Deutschland. Auf https://de.sputniknews.com/politik/20180812321920074-schoigu-warnt-deutschland (abgerufen am 14.08.2018) ↩
[2] Am 22. Juni 1941 begann unter dem Decknamen Unternehmen Barbarossa (ursprünglich Fall Barbarossa) der Überfall der deutschen Wehrmacht und seiner Verbündeten auf die Sowjetunion. Das sogenannte Ostheer umfasste je nach Quelle rund 3 Millonen deutsche Soldaten. Die Verbündeten (Italien, Rumänien, Ungarn und die Slowakei) stellten weitere bis zu 690.000 Soldaten. Finnland erkärte der Sowjetunion am 25. Juni 1941 den Krieg. Eine spanische Freiwilligendivision (División Azul) kämpfte ab August 1941 an der Seite des 3. Reichs an der Ostfront. Später kamen auch Freiwillige aus neutralen und besetzten Gebieten hinzu, zumeist in Einheiten zusammengefasst, die der Waffen-SS angehörten.
Im Deutschen Reich wurde der Überfall als Russlandfeldzug oder Ostfeldzug bezeichnet, in der Sowjetunion als Großer Vaterländischer Krieg. Geführt wurde der Ostfeldzug von deutscher Seite als ideologischer Raub- und Vernichtungskrieg. Bis zum Kriegsende starben auf sowjetischer Seite bis zu 27 Millionen Menschen.
Der Zweite Krieg endete für das Deutsche Reich mit einer totalen Niederlage. Am 16. April 1945 eröffnete die Rote Armee ihre Offensive gegen Berlin. Die Stadt kapitulierte am 2. Mai. Die letzten Verteidiger der Innenstadt waren vor allem Angehörige der französischen SS-Division “Charlemagne” und der skandinavischen SS-Freiwilligen-Panzergrenadier-Division “Nordland”. Am 8. Mai 1945 trat die bedingungslose Kapitulation der Wehrmacht in Kraft.
Wie viele Menschen im Verlauf des 2. Weltkriegs, der mit dem Überfall des nationalsozialistischen Deutschen Reichs auf Polen am 1. September 1939 begann, ihr Leben verloren, ist unklar. Quellen sprechen von circa 60 bis 80 Millionen Toten, darunter mehr als die Hälfte Zivilisten. ↩
[3] Ernst Carl Julius Albrecht (1930-2014) war ein deutscher Politiker (CDU) und von 1976 bis Mitte 1990 Ministerpräsident von Niedersachsen. Er ist Vater der CDU-Politikerin Ursula von der Leyen. Im August 1988 sagte Laszlo von Rath, der seit den 1960ern als Wahlkampfhelfer und Spendensammler für die Christdemokraten aktiv war, gegenüber einem Untersuchungsausschuss zur niedersächsischen “Spielbankaffäre”, er hätte im Auftrag der CDU über eine heimliche Beteiligung der Partei an der Konzession für die Spielbank Hannover/Bad Pyrmont verhandelt. Außerdem behauptetet Laszlo von Rath, er habe an einer Manipulation der Wahl Albrechts zum Ministerpräsidenten 1976 mitgewirkt. Ein im niedersächsischen Landtag von der SPD-Fraktion im Dezember 1988 eingebrachtes konstruktives Misstrauensvotum gegen Albrecht wegen der Spielbankaffäre scheiterte knapp. Bei der Landtagswahl 1990 kam es zu einer rot-grünen Mehrheit. Gerhard Schröder (SPD) bildete eine rot-grüne Landesrgierung und löste Albrecht nach über 14 Jahren als Ministerpräsident von Niedersachsen ab. Auf www.ndr.de sind die Ereignisse rund um die Spielbankaffäre zusammengefasst. ↩
Illustration: hafteh7 (Pixabay.com, Creative Commons CC0).
Dr. Gerhard Mersmann ist studierter Politologe und Literaturwissenschaftler. Er arbeitete in leitender Funktion über Jahrzehnte in der Personal- und Organisationsentwicklung. In Indonesien beriet er die Regierung nach dem Sturz Soehartos bei ihrem Projekt der Dezentralisierung. In Deutschland versuchte er nach dem PISA-Schock die Schulen autonomer und administrativ selbständiger zu machen. Er leitete ein umfangreiches Change-Projekt in einer großstädtischen Kommunalverwaltung und lernte dabei das gesamte Spektrum politischer Widerstände bei Veränderungsprozessen kennen. Die jahrzehntelange Wahrnehmung von Direktionsrechten hielt ihn nicht davon ab, die geübte Perspektive von unten beizubehalten. Seine Erkenntnisse gibt er in Form von universitären Lehraufträgen weiter. Sein Blick auf aktuelle gesellschaftliche, kulturelle wie politische Ereignisse ist auf seinem Blog M7 sowie bei Neue Debatte regelmäßig nachzulesen.
Eine Antwort auf „Sergej Schoigu und mein Vater“
Einer meiner Grossväter verlor sein rechtes Bein im Krieg und dem anderen platzte ein Trommelfell während eines Bombenangriffs. Mein Vater marschierte wochenlang mit einer Kinder-Jugendgruppe nach Kriegsende von Süd- nach Norddeutschland in die völlig zerstörte Heimat.
Meine Frage, wie konnte das geschehen, der Krieg mit all seinen schrecklichen Ausmassen, die Machtergreifung Hitlers und seine Duldung, konnte mir keiner zufrieden stellend beantworten.
Ist es das, dass es sich eigentlich keiner erklären kann, so dass wir auch nach dem 2.WK immer wieder Kriege auslösten und heute kurz vor einem 3.WK stehen? Ist es das Vergessen, oder die ungenügende Aufarbeitung?
In diesem Zusammenhang möchte ich auch auf das Milgram Experiment hinweisen, welches von dem Psychologen Stanley Milgram in den 1960er Jahren entwickelt wurde, um die Bereitschaft durchschnittlicher Personen zu testen, autoritären Anweisungen auch dann Folge zu leisten, wenn sie in direktem Widerspruch zu ihrem Gewissen stehen.
Wenn es möglich ist, dass Menschen ohne Druck und Not, andere Menschen auf Anweisung Quälen und sogar töten können und es Menschen gibt die solchen Anweisungen erteilen, dann stimmt etwas mit uns Menschen nicht. Und ich bezweifle, dass wir jemals in der Lage sein werden friedlich zu leben, geschweige denn im Einklang mit der Natur.
Die (Kriegs-) Parallelen von damals und heute sind erschreckend und so langsam dämmert es mir, wie die Menschheit immer wieder von einer in die nächste Katastrophe schlittert. Ignoranz und Dummheit. Verstand tötet Intelligenz.
In diesem Sinne: “Liebe deine Mitmenschen, wie den imaginären Feind in deinem Kopf.“ :-(