In den USA sitzen rund 2,2 Millionen Menschen im Gefängnis. Vor allem Schwarze. [1] Eine unnachgiebige Strafpolitik sorgt für einen nie enden wollenden Strom aus Inhaftierten. Sie sind billige Arbeitskräfte und für die wachsende Branche der Gefängnisindustrie eine willkommene Verwertungsmasse.
Privatwirtschaftlich betriebene Gefängnisse entwickeln sich nicht nur in den Vereinigten Staat zu einem lukrativen Geschäft. Institutionelle Anleger, die in das Business mit den Zuchthäusern und Inhaftierten investieren, reiben sich die Hände. Aber die Gefangenen wehren sich.
Am 21. August beginnt in den Vereinigten Staaten ein landesweiter Gefangenenstreik, der bis zum 9. September andauern soll.
Der Streik ist eine Reaktion auf den Tod von sieben Häftlingen, die im April dieses Jahres bei einer Gefängnisrevolte im Hochsicherheitsgefängnis Lee Correctional Institution im US-Bundesstaat South Carolina ums Leben kamen. Nach Auffassung der Gefangenen wäre es nie zu dem Gewaltausbruch gekommen, wenn das Gefängnis nicht so überfüllt gewesen wäre. Die Inhaftierten gingen über Stunden aufeinander los, von den Gefängnismitarbeitern kam keiner zu Schaden. [2]

Kritisiert wird von den Gefangenen unter anderem die in der Gefängnisindustrie erzeugte Habgier, der mangelnde Respekt für das menschliche Leben, der sich in inhumanen Lebensbedingungen in den Gefängnissen widerspiegelt. Die Gefangenen sprechen von moderner Sklaverei. Deshalb wollen die Inhaftierten nicht nur für ihre Rechte als Arbeiter kämpfen. Es geht ihnen in erster Linie um die Menschenrechte, die auch in jedem Gefängnis Gültigkeit besitzen müssen, weil sie sonst gesamtgesellschaftlich ohne Wert sind.
“Gefängnisse in Amerika sind Kriegsgebiete.”
Auf der Webseite von Its Going Down, einem anarchistischen Medienprojekt, wurde ein Statement der informellen Gruppe Jailhouse Lawyers Speak (JLS) veröffentlicht. Die Gefangenen wollen ihre Forderungen mit Nachdruck durchsetzen. [3] Die JLS schreibt:
“(…) Why is this so important to us? Fundamentally, it’s a human rights issue. Prisoners understand they are being treated as animals. We know that our conditions are causing physical harm and deaths that could be avoided if prison policy makers actually gave a damn. Prisons in America are a warzone. Every day prisoners are harmed due to conditions of confinement. For some of us it’s as if we are already dead. So what do we have to lose? (…)”
“(…) Warum uns das so wichtig ist? Im Wesentlichen geht es um Menschenrechte. Die Gefangenen sehen, dass sie wie Tiere behandelt werden. Wir wissen, dass unsere (Haft-)Bedingungen Körperverletzungen und Todesfälle verursachen, die vermeidbar wären, wenn die Macher der Gefängnispolitik sich tatsächlich auch nur einen Deut dafür interessieren würden. Gefängnisse in Amerika sind Kriegsgebiete. Jeden Tag werden Gefangene aufgrund der Haftbedingungen verletzt. Für einige von uns ist es, als wären wir bereits tot. Also, was haben wir zu verlieren? (…)”
Die Gefangenen suchen dennoch einen Ausweg aus dieser verzweifelten Lage und rufen zur Solidarität auf:
“(…) Our collective message to prisoners, stop the violence against each other. Regardless of race, class or label, we are one. And yes, we are by our very interest a class. We support all prisoners. We support prisoners’ rights to self-defense, but we are promoting a line against senseless collective violence against each other. (…)”
“(…) Unsere gemeinsame Botschaft an Gefangene: Beendet die Gewalt gegeneinander. Unabhängig von Rasse[sic!], Klasse oder Bezeichnung, wir sind eins. Und ja, wir sind wegen unseres ureigenen Interesses eine Klasse. Wir unterstützen alle Gefangenen. Wir unterstützen das Recht der Gefangenen auf Selbstverteidigung, aber wir möchten eine Trennlinie zur sinnlosen kollektiven Gewalt gegeneinander ziehen. (…)”
Die beschriebene Perspektivlosigkeit, aus der sich die Entschlossenheit zum Arbeitskampf leicht erklären lässt, und der Aufruf an alle Häftlinge, sich untereinander solidarisch zu verhalten und der Gewalt eine Absage zu erteilen, spiegeln sich in dem zehn Punkte umfassenden Forderungskatalog [4] wider, den die Gefangenen aufgestellt haben. Er wurde von der Gefangenen-Gewerkschaft Bundesweite Organisation [5] in deutscher Übersetzung veröffentlicht:
- (1) Unmittelbare Verbesserung der Haftbedingungen und eine Strafvollzugspolitik, die die Menschlichkeit inhaftierter Männer und Frauen anerkennt.
- (2) Abschaffung der Knastsklaverei. Alle, die unter US-amerikanischer Rechtssprechung inhaftiert wurden, müssen nach dem Lohnniveau des entsprechenden Bundesstaats oder Territoriums bezahlt werden.
- (3) Abschaffung des „Gesetzes zur Reform der Prozessordnung im Strafvollzug“, sodass Gefangene wirklich die Möglichkeit erhalten, sich gegen Missstände und Verletzungen ihrer Rechte zu wehren.
- (4) Abschaffung des „Gesetzes über die Wahrheit im Urteilsprozess“ und des „Gesetzes zur Reform des Urteilsprozesses“, sodass Gefangene die Möglichkeit zur Resozialisierung und Bewährung bekommen. Niemand darf zum Tode durch Wegsperren verurteilt werden oder eine Haft ohne Möglichkeit auf Bewährung absitzen müssen.
- (5) Ein sofortiges Ende der Praxis, Schwarze und braune Menschen mit einem überproportional hohen Strafmaß anzuklagen, sie zu überproportional hohen Strafen zu verurteilen und ihnen Bewährungsstrafen zu verwehren. Schwarzen darf nicht länger Bewährung verwehrt werden, weil das Opfer des Verbrechens weiß war, was vor allem in den Südstaaten ein Problem darstellt.
- (6) Abschaffung der „Gesetze zur Strafmaßerhöhung bei Bandenkriminalität“, die sich vor allem gegen Schwarze und braune Menschen richten.
- (7) Häftlingen darf der Zugang zu Resozialisierungsprogrammen in ihren Haftanstalten nicht weiter aufgrund dessen verwehrt werden, dass sie als Gewalttäter abgestempelt werden.
- (8) Finanzierung von Resozialisierungsdienstleistungen in Gefängnissen für Langstrafer.
- (9) Wiedereinführung von Bildungszuschüssen in allen Staaten und Territorien der USA.
- (10) Das Wahlrecht aller Bürger, die aufgrund einer Haftstrafe oder in Untersuchungshaft inhaftiert sind sowie aller Ex-Gefangener ist zu respektieren. Wir fordern Repräsentation, alle Stimmen zählen.
Die Arbeit niederzulegen, um sich mehr Rechte zu erkämpfen, ist nur ein Mittel der Gefangenen. Angekündigt sind friedliche Sitzblockaden, sogenannte Sit-ins, ein Konsumboykott, der sich vermutlich auch gegen bestimmte Unternehmen der Gefängnisindustrie und deren Produkte richten wird, und Hungerstreiks: Männer und Frauen werden sich weigern, zu essen.
Über das Internet wird der Streik organisiert. [6] Mit den Hashtags #August21 und #Prisonstrike verbreiten die Häftlinge in den sozialen Netzwerken ihre Forderungen und schaffen es, trotz der räumlichen Trennung der Gefängnisse, den Streik als gemeinsame Kampagne abzubilden.
Auf dem Kurznachrichtendienst Twitter informieren sie zum Beispiel über ihre geplanten Aktionen und halten Verbindung zu Gewerkschaften, Aktivisten, Sozialen Bewegungen, Menschenrechtlern und Angehörigen. Sie sollen Öffentlichkeit schaffen und den Streik von außen unterstützen. So viele Menschen wie möglich sollen ihren Blick ab dem 21. August auf die Gefängnisse richten und beobachten, was sich dort abspielt.
Das Recht auf Widerstand
Wer im Knast sitzt, der hat etwas auf dem Kerbholz und schmort dort zu Recht. So oder so ähnlich werden wohl die meisten Menschen denken. Und sicher kann unterstellt werden, dass ihr Gefühl stimmt und Fehlurteile der vorurteilsfreien Justiz die Ausnahme darstellen. Die Justiz kann aber in den USA einen kleinen Ladendieb zum Berufsverbrecher erklären und im Namen des Volkes für den Diebstahl von ein paar Schokoriegeln schon mal Haftstrafen von zwanzig Jahren bis lebenslänglich verhängen. [7]
Recht und Gesetz, die das Zusammenleben der Menschen technisch regeln und den Rahmen für gewünschtes Verhalten abstecken sollen, bleiben durch die unterschiedliche Auslegung und Anwendung im Einzelfall immer eine heikle Sache. Setzt sich ein Staat, der ohne Recht und Gesetz nicht existieren kann, gegenüber Verbrechern ins Unrecht, stellt sich die Frage, mit welchen Mitteln sich diese wehren können.
In den Vereinten Staaten werden Gefangene zur Arbeit herangezogen. Das scheint auf den ersten Blick nicht weiter schlimm, schließlich kann Arbeit auch eine resozialisierende Wirkung haben. Wird diese Arbeit aber nicht freiwillig oder zumindest zum Wohle der Gesellschaft verrichtet, sondern für Unternehmen der Privatwirtschaft, ist sie nichts weiter als Zwangsarbeit zur Befriedigung von Profitinteressen und moralisch somit höchst verwerflich. [8]
In Artikel 4 der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte [9] steht:
Niemand darf in Sklaverei oder Leibeigenschaft gehalten werden; Sklaverei und Sklavenhandel sind in allen Formen verboten.
Das UNO Menschenrechtsabkommen [10] benennt Einschränkungen im Pakt II (Bürgerrechte) unter Artikel 8 (3):
a) Niemand darf gezwungen werden, Zwangs- oder Pflichtarbeit zu verrichten;
b) Buchstabe a ist nicht so auszulegen, dass er in Staaten, in denen bestimmte Straftaten mit einem mit Zwangsarbeit verbundenen Freiheitsentzug geahndet werden können, die Leistung von Zwangsarbeit auf Grund einer Verurteilung durch ein zuständiges Gericht ausschliesst; …
Die eigentliche Lücke im Rechtssystem findet sich in der Verfassung der USA.
Im 13. Zusatzartikel [11] zur Verfassung der Vereinigten Staaten steht:
Weder Sklaverei noch Zwangsdienstbarkeit darf, außer als Strafe für ein Verbrechen, dessen die betreffende Person in einem ordentlichen Verfahren für schuldig befunden worden ist, in den Vereinigten Staaten oder in irgendeinem Gebiet unter ihrer Gesetzeshoheit bestehen.
Der Artikel sollte 1865 die Sklaverei beenden, hat sie aber lediglich auf ein anderes rechtliches Niveau verschoben und macht Masseninhaftierungen zu einem “Big Business”.
Wenn ein Betroffener, ob nun Taschendieb oder Raubmörder, durch rechtliche Verurteilung ins Gefängnis kommt, dort legal zur Arbeit herangezogen werden kann, man ihm dabei aber teilweise seine Menschenrechte abspricht und ihm in seiner Funktion als Arbeiter die Arbeitsrechte verweigert, entsteht rechtsstaatlich legitimierte Sklaverei, die jede Form des gewaltlosen Widerstands und des Streiks rechtfertigt.
Bei aller Abscheu, die für Kleinkriminelle, Diebe, Dealer, Räuber und Mörder empfunden werden mag, oder Verachtung gegenüber den Armen, die in den Zuchthäusern landen, weil sie arm sind, sollte bedacht werden, dass jeder unbeantwortete Angriff auf die Menschenrechte ein gefährliches Signal an die Machteliten aussendet und diese geradezu ermuntert, die Grund- und Menschenrechte auch jenseits der Gefängnismauern weiter einzuschränken.
#Prisonstrike erreicht Deutschland
Die Ausläufer des #Prisonstrike wirken bis nach Deutschland. Im Netz wird für den 21. August zu Protestkundgebungen vor US-amerikanischen Konsulaten und Vertretungen aufgerufen. [12] Außerdem sollen Protestschreiben an US-Vertretungen geschickt werden.

Quellen und Anmerkungen
[1] Prison Policy Initiative: Mass Incarceration: The Whole Pie 2018. Auf https://www.prisonpolicy.org/reports/pie2018.html (abgerufen am 17.08.2018). ↩
[2] Süddeutsche Zeitung: Sieben Tote bei Gefängnisaufstand in den USA. Auf www.sueddeutsche.de/panorama/south-carolina-sieben-tote-bei-gefaengnisaufstand-in-den-usa-1.3946625 (abgerufen am 16.08.2018). ↩
[3] Its Going Down: Pre-strike Statement from Jailhouse Lawyers Speak. Auf https://itsgoingdown.org/pre-strike-statement-from-jailhouse-lawyers-speak (abgerufen am 16.08.2018). ↩
[4] Sawari Mi: The NATIONAL DEMANDS of the men and women in federal, immigration, and state prisons. Auf http://sawarimi.org/national-prison-strike (abgerufen am 16.08.2018). ↩
[5] GGBO: Übersetzung des Forderungskatalogs des Prisonstrike. Auf https://ggbo.de/us-prison-strike-2018 (abgerufen am 16.08.2018). ↩
[6] Homepage von #prisonstrike mit weiterführenden Links. Auf http://prisonstrike.com (abgerufen am 16.08.2018). ↩
[7] VICE: Einem Mann droht lebenslänglich, weil er ein paar Schokoriegel gestohlen haben soll. Auf www.vice.com/de/article/kwyv8x/einem-mann-droht-lebenslaenglich-weil-er-mutmasslich-ein-paar-schokoriegel-gestohlen-hat-874 (abgerufen am 16.08.2018). ↩
[8] gefangenen.info (GI): Gefängnisindustrie – „Sklaverei 3.0“ im modernen Kapitalismus. Auf http://www.gefangenen.info/gefaengnisindustrie-sklaverei-3-0-im-modernen-kapitalismus (abgerufen am 17.08.2018). ↩
[9] humanrights.ch: Allgemeine Erklärung der Menschenrechte; Artikel 4 – Verbot der Sklaverei und des Sklavenhandels. Auf www.humanrights.ch/de/internationale-menschenrechte/aemr/text/artikel-04-aemr-verbot-sklaverei-sklavenhandels (abgerufen am 16.08.2018). ↩
[10] humanrights.ch: Internationaler Pakt über bürgerliche und politische Rechte; Teil 3, Artikel 8. Auf www.admin.ch/opc/de/classified-compilation/19660262/index.html (abgerufen am 16.08.2018). ↩
[11] Verfassung der Vereinigten Staaten: 13. Zusatzartikel. Auf https://de.wikipedia.org/wiki/13._Zusatzartikel_zur_Verfassung_der_Vereinigten_Staaten#Deutsch (abgerufen am 16.08.2018). ↩
[12] Freie Arbeiterinnen- und Arbeiter-Union (Allgemeines Syndikat Leipzig): Solidarität mit dem Gefangenenstreik in den USA! Kundgebung in Leipzig! Auf https://leipzig.fau.org/solidaritaet-mit-dem-gefangenenstreik-in-den-usa-kundgebung-in-leipzig (abgerufen am 17.08.2018). ↩
Fotos und Grafiken: AHTmedia (Pixabay.com, Creative Commons CC0), Prison Policy Initiative und Prisonstrike.com.
Gunther Sosna studierte Psychologie, Soziologie und Sportwissenschaften in Kiel und Hamburg. Er war als Handballtrainer tätig, arbeitete dann als Journalist für Tageszeitungen und Magazine und später im Bereich Kommunikation und Werbung. Er lebte hauptsächlich im europäischen Ausland und war international in der Pressearbeit und im Marketing tätig. Sosna ist Initiator von Neue Debatte und weiterer Projekte aus den Bereichen Medien, Bildung, Diplomatie und Zukunftsfragen. Regelmäßig schreibt er über soziologische Themen, Militarisierung und gesellschaftlichen Wandel. Außerdem führt er Interviews mit Aktivisten, Politikern, Querdenkern und kreativen Köpfen aus allen Milieus und sozialen Schichten zu aktuellen Fragestellungen. Gunther Sosna ist Befürworter des bedingungslosen Grundeinkommens und tritt für die freie Potenzialentfaltung ein, die die Talente, Fähigkeiten und die Persönlichkeit des Menschen in den Mittelpunkt stellt, ohne sie den Zwängen der Verwertungsgesellschaft unterzuordnen. Im Umbau der Unternehmen zu gemeinnützigen und ausschließlich dem Gemeinwohl verpflichteten sowie genossenschaftlich und basisdemokratisch organisierten Betrieben sieht er einen Ausweg aus dem gesellschaftlichen Niedergang, der vorangetrieben wird durch eine auf privaten Profit ausgerichtete Wirtschaft, Überproduktion, Kapitalanhäufung und Bullshit Jobs, die keinerlei Sinn mehr haben.