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Von der Notwendigkeit des Frevels

Wer in der Gewohnheit und Routine verharrt, hat das Nachsehen. Wer die Dinge auf den Kopf stellt, wird im Vorteil sein.

Gewohnheit stumpft ab. Routine ermüdet. Eigentlich ist damit alles gesagt. Der Zustand vieler Organisationen ist beschrieben, der Status der Gesellschaft vielleicht auch. Wichtig ist, bei einer solchen Beschreibung in keine Depression zu verfallen. Denn erstens bleibt nichts so, wie es war und zweitens existieren auch noch andere Modelle.

Sie funktionieren anders: Das Neue macht das Leben spannend und bei nichts wird so viel gelernt wie bei Fehlern. Dumm nur, dass es sich bei dieser Dichotomie von Status quo und Erneuerung nicht um eine akademische Übung, sondern um das Leben selbst handelt. Wer in der Gewohnheit und Routine verharrt, hat das Nachsehen. Wer die Dinge auf den Kopf stellt, wird im Vorteil sein. Aber es ist nicht die ganze Wahrheit.

Sehen wir uns Firmen, Sportverbände und Staaten an! Es ist sehr gut zu beobachten, wie die satten, routinierten Organisationen auf ihrem Weg nach unten sind. Und es wird deutlich, wie Innovation für Auftrieb sorgen kann.

Wer allerdings von einer Innovation zur nächsten hastet, ohne zu testen, zu lernen, zu beobachten und zu bewerten, der wird die große Unordnung installieren und letztendlich neben dem leblosen Routinier im Vorgarten des Beinhauses liegen.

Auch wenn es viele und vor allem den Zeitgeist stört, die Dialektik stellt immer noch ein geistiges Handwerkszeug dar, das sehr nützlich sein kann. Und so findet der täglich erlebte, nichtssagende und zu nichts führende Disput über Ordnung und Chaos, Routine und Innovation, Status quo und Revolution im Reich der Dialektik gar nicht statt. Dort herrscht Gewissheit darüber, dass beide Qualitäten die zwei Seiten einer Medaille darstellen.

Die Apologeten der Routine fahren das soziale Konstrukt, das sie repräsentieren, genauso gegen die Wand wie die ewigen Revoluzzer, die alles im Vagen lassen und so der Willkür Tür und Tor öffnen. Wer sich dann durchsetzt, das sind die Starken und Gewieften, und nicht die Unterdrückten und die Bedürftigen.

Sehen wir sie uns an, die aus der anhaltenden, inszenierten Unordnung den Zugriff zur Macht gesichert haben. Dann wissen wir alles.

Es bleibt jedoch dabei, dass das Festhalten an der Routine kein besserer Zustand ist. Auch dort sitzen die Jongleure der Macht am Hebel, und, schlimmer noch, sie nehmen nicht selten zugunsten ihrer privilegierten Stellung in Kauf, dass die gesamte Organisation dem Ruin anheimfällt.

Dialektisch gesehen ist der Wechsel von Innovation und zu etablierender Routine der Weg, der geraten ist, um den Zweck von Organisationen zu sichern. Dass dieses nicht immer geschieht, liegt zumeist an der Tatsache, dass eben dieser Zweck sehr oft aus dem Auge gerät. Stattdessen dominieren die Notwendigkeiten der eigenen Systemrationalität.

Die Verhältnisse, die festgeschrieben sind, entwickeln eine Eigendynamik und werden zum Selbstzweck. Da ist es wichtiger, alles, was den Status quo garantiert, zu sichern oder gar zu mehren, und alles, was den Status quo einem Risiko aussetzt, auf das Schärfste zu bekämpfen. Da heiligt dann der Zweck die Mittel. Nur ist dieser Zweck nicht der, um den es ursprünglich ging.

Da wir uns hier und heute gesamtgesellschaftlich wie organisational in einem Zustand erdrückender Routine und lähmender Gewohnheit befinden, haftet der naiv wie gut gemeinten Frage, was der eigentliche Zweck einer Organisation denn sei, schon an wie ein revolutionärer Frevel. Das ist nicht nur amüsant, sondern es dokumentiert auch die Notwendigkeit, sich auf die Seite der Frevler zu schlagen.


Illustration: Iván Tamás (Pixabay.com, Creative Commons CC0).

Politologe, Literaturwissenschaftler und Trainer | Webseite

Dr. Gerhard Mersmann ist studierter Politologe und Literaturwissenschaftler. Er arbeitete in leitender Funktion über Jahrzehnte in der Personal- und Organisationsentwicklung. In Indonesien beriet er die Regierung nach dem Sturz Soehartos bei ihrem Projekt der Dezentralisierung. In Deutschland versuchte er nach dem PISA-Schock die Schulen autonomer und administrativ selbständiger zu machen. Er leitete ein umfangreiches Change-Projekt in einer großstädtischen Kommunalverwaltung und lernte dabei das gesamte Spektrum politischer Widerstände bei Veränderungsprozessen kennen. Die jahrzehntelange Wahrnehmung von Direktionsrechten hielt ihn nicht davon ab, die geübte Perspektive von unten beizubehalten. Seine Erkenntnisse gibt er in Form von universitären Lehraufträgen weiter. Sein Blick auf aktuelle gesellschaftliche, kulturelle wie politische Ereignisse ist auf seinem Blog M7 sowie bei Neue Debatte regelmäßig nachzulesen.

Von Gerhard Mersmann

Dr. Gerhard Mersmann ist studierter Politologe und Literaturwissenschaftler. Er arbeitete in leitender Funktion über Jahrzehnte in der Personal- und Organisationsentwicklung. In Indonesien beriet er die Regierung nach dem Sturz Soehartos bei ihrem Projekt der Dezentralisierung. In Deutschland versuchte er nach dem PISA-Schock die Schulen autonomer und administrativ selbständiger zu machen. Er leitete ein umfangreiches Change-Projekt in einer großstädtischen Kommunalverwaltung und lernte dabei das gesamte Spektrum politischer Widerstände bei Veränderungsprozessen kennen. Die jahrzehntelange Wahrnehmung von Direktionsrechten hielt ihn nicht davon ab, die geübte Perspektive von unten beizubehalten. Seine Erkenntnisse gibt er in Form von universitären Lehraufträgen weiter. Sein Blick auf aktuelle gesellschaftliche, kulturelle wie politische Ereignisse ist auf seinem Blog M7 sowie bei Neue Debatte regelmäßig nachzulesen.

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