Gegenwärtig werden verschiedene Thesen kommuniziert, die die Radikalisierung von immer größeren Teilen der Bevölkerung erklären sollen. Auf Seiten der Regierung, also derer, die mit einem Mandat der Bevölkerung ihren Geschäften nachgeht, wird sehr oft davon gesprochen, dass im Rahmen der Globalisierung alles sehr komplex geworden und nicht mehr einfach zu durchschauen sei. Da sei es ein leichtes Spiel für Rattenfänger, mit einfachen Antworten die Menschen zu verführen.
Vielleicht sollten sich jene Kreise auch noch eine andere Version vor Augen führen. Eine Version, die sich bei genauem Hinsehen immer wieder als plausibel erweist, weil sie etwas mit dem zu tun hat, was als das allgemeine Wahrheitsempfinden bezeichnet werden könnte. Da würde dann sehr schnell klar, dass es der Rattenfänger gar nicht bedürfte, um Vertrauen zu zerstören und großen Zorn zu produzieren.
Es ist das Weglassen von Informationen, es ist das Suggerieren von Erklärungen, die nicht zutreffen und es ist das schlichte Verschweigen von Tatsachen. Nicht durch Verschwörungstheoretiker und Produzenten von Fake News, sondern durch die Bundesregierung selbst.
Dafür existieren viele Beispiele. Und diejenigen, die fast alle betreffen, entfachen bekanntlich den größten Zorn.
So heißt es laut Regierungsverlautbarung seit Jahr und Tag, sowohl die Verlängerung der Lebensarbeitszeit als auch die Absenkung der dann zu beanspruchenden Rentenbezüge sei auf den demografischen Wandel zurückzuführen. Da fragen sich natürlich viele, warum das in Deutschland so dramatisch gehandhabt wird, während im europäischen Ausland die Bedingungen noch relativ moderat sind.
Wichtig sind in diesem Kontext auch einige Zahlen: Aus Renten- wie Arbeitslosenversicherungen, deren Leistungen auch mächtig eingeschränkt wurden, sind seit der deutschen Wiedervereinigung bis heute circa 1,7 Billionen Euro als Transferzahlungen aufgewendet wurden. [1] Die Versicherten worden nicht befragt.
Hinzu kommt, dass gegenwärtig jährlich circa 650 Milliarden Euro aufgewendet werden, um die Pensionen für Beamte zu realisieren. [2] Ihnen stehen Altersbezüge von bis zu 72,6 Prozent[K] zu, in Bezug auf die gesetzlich Versicherten wird gerade eine Diskussion geführt, ob man über das Jahr 2025 hinaus 48 Prozent bezahlen könne. [3]
Das sind Fakten, die sehr deutlich machen, wie mit den Versicherten umgegangen wird und was man von ihnen hält, wenn derartig absurde Erklärungen für eine weitere Verschlechterung der Lebensbedingungen abgegeben werden. Da ist dann nicht mehr viel Vertrauen zu erwarten.
Wer dann noch mit dem Finger auf andere zeigt, auf die Radikalen und Rattenfänger, der hat seinen moralischen Tribut verspielt. Es gäbe noch zahlreiche Beispiele nicht nur für den brutalen Umgang mit der Bevölkerung, sondern auch für das brutale Meucheln der Wahrheit. Was den Umgang mit Fakten seitens der Bundesregierung angeht, so sei geraten, sich hin und wieder die Bundespressekonferenz anzusehen, mit welcher Impertinenz die Fakten dort gebogen werden, um den Standpunkt der Bundesregierung zu untermauern.
Der Umgang mit der Wahrheit ist der Rubikon, an dem sich die Geister scheiden. Das Fatale an der gegenwärtigen Situation ist, dass es tatsächlich gesellschaftliche Kräfte gibt, die zielgerichtet und bewusst an der Faktenlage vieler politikrelevanter Erscheinungen ihre ideologischen Fallstricke anbringen. Das Dumme ist nur, dass in sehr vielen Fällen die Bundesregierung dasselbe tut.
Das, was diese Situation hervorbringt, ist die Unmöglichkeit, sich zwischen zwei Lügen zu entscheiden. Wer selbst an der Knebelung der Wahrheit beteiligt ist, kann kein Vertrauen reklamieren. Die Erkenntnis ist schlicht und bitter.
Quellen und Anmerkungen
[1] Wissenschaftlicher Dienst (Deutscher Bundestag, 2018, WD 4 – 3000 – 033/18): Transferzahlungen an die ostdeutschen Bundesländer. Auf https://www.bundestag.de/blob/550094/8e17e37a176c0f9c69150314bed6894d/wd-4-033-18-pdf-data.pdf (abgerufen am 28.08.2018). ↩
[2] WELT: Angriff auf die Beamtenpensionen. Auf https://www.welt.de/wirtschaft/article170746573/Angriff-auf-die-Beamtenpensionen.html (abgerufen am 28.08.2018). ↩
[3] Bundesregierung (19. Legislaturperiode): Koalitionsvertrag zwischen CDU, CSU und SPD. Auf https://www.bundesregierung.de/Content/DE/_Anlagen/2018/03/2018-03-14-koalitionsvertrag.pdf;jsessionid=5886C033F84C50B8FF189F9D1D51BB31.s5t1?__blob=publicationFile&v=6 (abgerufen am 28.08.2018). ↩
[K] Korrekturnote: Ursprünglich wurden in dem Beitrag die Pensionen für Beamte (Altersbezüge) mit 75 Prozent angegeben. Laut DBB Beamtenbund und Tarifunion (früher Deutscher Beamtenbund), ein Dachverband von Gewerkschaften des öffentlichen Dienstes und des privaten Dienstleistungssektors, beträgt der aktuelle Höchstpensionssatz je nach Bund, Bundesland oder Kommune zwischen 72,2 und 72,6 Prozent des Bruttoendgehalts. Ausführliche Informationen finden sich auf der Webseite des DBB Beamtenbund und Tarifunion. Wir haben die Zahl korrigiert, bitten den Fehler zu entschuldigen und danken unserer Leserschaft für den Hinweis. ↩
Foto: StockSnap (Pixabay.com, Creative Commons CC0).
Dr. Gerhard Mersmann ist studierter Politologe und Literaturwissenschaftler. Er arbeitete in leitender Funktion über Jahrzehnte in der Personal- und Organisationsentwicklung. In Indonesien beriet er die Regierung nach dem Sturz Soehartos bei ihrem Projekt der Dezentralisierung. In Deutschland versuchte er nach dem PISA-Schock die Schulen autonomer und administrativ selbständiger zu machen. Er leitete ein umfangreiches Change-Projekt in einer großstädtischen Kommunalverwaltung und lernte dabei das gesamte Spektrum politischer Widerstände bei Veränderungsprozessen kennen. Die jahrzehntelange Wahrnehmung von Direktionsrechten hielt ihn nicht davon ab, die geübte Perspektive von unten beizubehalten. Seine Erkenntnisse gibt er in Form von universitären Lehraufträgen weiter. Sein Blick auf aktuelle gesellschaftliche, kulturelle wie politische Ereignisse ist auf seinem Blog M7 sowie bei Neue Debatte regelmäßig nachzulesen.
6 Antworten auf „Schlicht und bitter“
Wie leicht machen es sich Regierung und Medien, wenn sie von “Zusammenrottung” oder von “Nazis” sprechen. Welchen Weg können Protestler denn heute einschlagen, als auf die Straße zu gehen. Auch die Medien hinterfragen nicht einmal, welche Anliegen diese Menschen auf die Straße treibt. Es scheint eine große Angst vorzuliegen, sich mit solchen wichtigen Themen öffentlich auseinander zu setzen.
Die Knebelung der Wahrheit hat seit dem Postfaschismus in der BRD eine klare Struktur:
Blinder Amerikanismus der Kritiklosigkeit bis zur Atlantik-Brücke und NATO-Nachrichten-Lieferungen an alle offenen Medien zu allen Themen der Kriegsführungen. Wenige verbliebene Bericht-Erstattende und Querköpfe, die nicht der Propaganda entsprechen.
Die Anstalt brachte als EINZIGE eine Übersicht der Medien-Steuernden in den Konzernen, und die Witze zum Frauenkreis der Kanzlerin von Liz Mohn von der Bertelsmann-Stiftung bis zu Friede Springer … und was ist von Spiegel und Stern noch zu erwarten, die taz bringt Bundeswehr-Werbung …
Die Breite der Informationen im Internet ist nur von Wenigen zu verarbeiten:
Aber in jedem der Felder, wie dem oben bearbeiteten der Rentenversicherung, gab es früher Fachzeitschriften, gibt es Fachtagungen, deren Breiten-Wirkungen wahrscheinlich noch wenig entwickelt sind, weil die Anpassungen an die Medienwelten der Nutzenden noch schleppend laufen, wie die Netz-Anbindung im Land und in der Bahn:
Ein Land der gealterten Zwerge, die sehr laut dramatisch schreien können … wie Wagner.
Wie entstehen tragfähige Netze der Aufklärung, wenn die Parteien, Stichworte und Orientierungen so schnell hysterisch diffamiert werden wie die Auseinandersetzungen um Israels “Friedenspolitik” und der hilflosen Gegenwehr in Palästina?
Krieg ist Frieden und die Ökos im Hambacher Forst werden mit weitaus größeren Polizei-Maßnahmen bekämpft als die Nazis in Karl-Chemnitz? Occupy wurde weg geputzt, Kapitalismus-Kritik wird abgetan, die Panama-Skandale sind nicht zu bewältigen …
Nicht zu bewältigen ist die kapitale Trägheit in diesem Lande, die unseren Kindern als Folgekosten um die Ohren fliegen wird: Von lächerlich zersparten Gesundheits- und Pflege- wie Schul-Systemen bis zu ökologischen Folgekosten, die aber immer noch eine weitere Woche Kohle machen wollen … und die Freunde in der Politik sorgen dafür.
Made my day! “Ein Land der gealterten Zwerge, die sehr laut dramatisch schreien können …”
Feudalismus fällt mir da immer mal wieder ein. (zu deutsch: Es macht sowieso jeder, was er will UND besonders wenn er die Möglichkeit hat.)
irgendwann wird mich jemand kneifen und ich wache schweißgebadet auf
Leider ein grober Fehler. Beamte erhalten seit etlichen Jahren höchstens 71,75% und dies nur bei mindestens 40 Dienstjahren. Beamte des höheren Dienstes, bei denen Studium Bedingung ist, erreichen dies kaum, da das für die Pension zählende Dienstalter erst später erreicht wird. Dies dürfte erst erfolgen, wenn der Rentenbeginn endgültig 67 Jahre beträgt. Zur Zeit noch Übergangslösung.
Vielen Dank für den Hinweis. Wir haben die Zahl korrigiert. Der Höchstpensionssatz beträgt aktuelle je nach Bund, Bundesland oder Kommune zwischen 72,2 und 72,6 Prozent des Bruttoendgehalts.