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Gesellschaft

#Aufstehen oder Zusammenwirken

Die Sammelbewegung #Aufstehen kann die politische Landschaft in Deutschland aufmischen, aber auch Hoffnungen wecken, die später enttäuscht werden. Könnte ein Ansatz von unten #Aufstehen um wichtige Elemente bereichern?

Zu begrüßen ist die von Sahra Wagenknecht & Co. initiierte Sammelbewegung #Aufstehen in jedem Fall, bringt sie doch etwas Schwung in ein erstarrtes politisches System. Die Loslösung von den alten Parteistrukturen fixiert nicht unmittelbar auf Wahlen, die Sammelbewegung ist etwa durch das Befragungsinstrument Pol.is[1] offener für Basisinitiativen und lockert die automatisierte Zuordnung zu traditionellen Richtungen wenigstens etwas auf.

Aber #Aufstehen kommt von oben und zielt auf Masse ab. Es wird versucht, die Stimmungen der Masse aufzunehmen und diese zur Mobilisierung zu nutzen. Sicher im gut gemeinten Sinne. Aber die Masse ist wankelmütig und ihre Stimmung kaum berechenbar.

Die Psychologie der Massen beschrieb der französische Mediziner und Psychologe Gustave Le Bon[2] bereits 1895 sehr genau in seinem gleichnamigen Buch. Die Kennzeichen von Massenstimmungen sind:

  • Unabhängigkeit von Logik
  • Große Worte und Bilder
  • Charismatische Gestalten
  • Wiederholte Behauptungen

Stimmungen kippen schnell wieder. Menschen tun ihre Meinung kund und wollen dann die da oben etwas daraus machen lassen. Damit wäre #Aufstehen aber lediglich eine Variante traditioneller Politik. Das Kundtun von Stimmungen und Meinungen auf der einen und das Zuhören auf der anderen Seite reichen also nicht aus.

Ich setze mich bekanntlich für den ganz und gar basisdemokratischen 7er-Ansatz ein, bin also parteiisch, wenn ich die beiden Ansätze zur Auflockerung der derzeitigen Politik in Deutschland vergleiche und dabei versuche, Punkte herauszustellen, die der Sammelbewegung nützlich sein könnten.

Ich sehe aktuell folgende Unterschiede:

  1. Der 7er-Ansatz baut an der Basis eine Verbindung zwischen Leben und Politik auf und wendet sich dann aktuellen gesellschaftspolitischen Thematiken zu. #Aufstehen wird voraussichtlich gerade die aktuellen Themen aufgreifen.
  2. Der 7er-Ansatz kann alle Menschen, die sich grundsätzlich kooperativ verhalten, aufnehmen, egal, aus welchem traditionellen Lager sie kommen. #Aufstehen knüpft deutlich an die Richtung der alten Sozialdemokratie an. Implizit grenzt die Bewegung dann Teile der Bevölkerung aus.
  3. Der 7er-Ansatz versucht eine neue Qualität von Politik und drängt Quantitäten aus dem Feld. Für #Aufstehen sind von Anfang an wieder Zahlen wichtig. Die Massen, die sich beteiligen und die Abstimmungszahlen auf Pol.is.
  4. Der 7er-Ansatz will durch eigenes Vorleben überzeugen. Hoffnungsträgern und Lichtgestalten wird nicht nachgelaufen. Bei #Aufstehen stehen von Anfang an Forderungen und Aufträge an “die Macher” im Zentrum.
  5. Im 7er-Ansatz baut jeder an den strukturellen Veränderungen unserer Demokratie mit. Man baut daran selbst, verlangt es nicht von anderen. #Aufstehen zielt ab auf inhaltliche Änderungen der Politik, ohne zu berücksichtigen, dass diese im traditionellen Rahmen nicht durchsetzbar oder wenigstens nicht durchhaltbar sind. Auch deshalb, weil ein großer Teil der deutschen Bevölkerung noch vom globalisierten Kapitalismus profitiert.
  6. Abstimmungen finden bei #Aufstehen in Form von Zählen (ja, unentschieden, nein) statt. Der 7er-Ansatz legt ein systemisches Konsensieren[3] nahe, also die Möglichkeit, miteinander Ablehnungen und Widerstände zu besprechen, die Argumente abzuwägen und eine gemeinsame Entscheidung herbeizuführen, die für alle tragbar ist.

Der 7er-Ansatz versucht mit den Mitteln der Basisdemokratie, von unten eine neue Gesellschaft zu bauen, die sich durch Dezentralisierung und gleichzeitige Verantwortung aller beteiligten Menschen fürs Ganze auszeichnet. Nicht nur etwa für Deutschland oder fürs Jetzt, sondern über die Grenzen und die Gegenwart hinaus. Denn es sollen nicht nur die Auswüchse des Systems gemildert werden, vielmehr soll von der Graswurzel eine Gesellschaft mit neuen Strukturen entstehen, weil die alten bereits weitgehend ausgehöhlt sind und die derzeitigen sogenannten demokratischen Instrumentarien mehr scheinbar als wirklich ins Geschehen eingreifen.

Wer eine lebenswerte Zukunft will, muss persönliche Konsequenzen ziehen und seine Art zu leben ändern.

Dies gilt auch für Gesellschaft und die Nationen, weil vor allem die sozialen und die gewaltigen ökologischen Probleme, die auf dem gesamten Globus immer deutlicher auftreten, keine Grenzen kennen. Wenn etwa #Aufstehen nur mehr Gerechtigkeit im Inland will, ohne die Ökologie und die sozialen Ungerechtigkeiten zu berücksichtigen, die sich weltweit abspielen, wird die Unterstützung etwa durch nie endende Flüchtlingsströme zusammenschrumpfen. Die Idee hinter dem 7er-Ansatz setzt hier eine ganz andere Basis.

Die meisten Menschen haben sich im jetzigen System eingerichtet. Innerhalb der sichtbaren Möglichkeiten wollen sie das Beste für sich herausholen. Das System dient aber dem globalen kapitalistischen Wirtschaftssystem, das die Ausbeutung von Mensch und Natur zum Ziel hat. Es lässt sich von traditioneller Politik höchstens bremsen, in Richtung Milderungen drängen, aber nicht aufhalten.

Wir brauchen daher in erster Linie eine Strukturänderung, keine inhaltliche. Dies wird in dem Videobeitrag Politik und Leben verbinden angerissen, in dem die Verfestigung der Strukturen dargestellt ist.

Inhaltliche Änderungen würden Wagenknecht und ihre Mitstreiterinnen und Mitstreiter sicher versuchen: Hartz IV ersetzen durch eine echte soziale Hilfe, vielleicht eine Finanztransaktionssteuer einführen, möglicherweise den Rückzug der Bundeswehr von allen Militäroperationen im Ausland durchsetzen. Das ist rein hypothetisch, eine Vermutung. Doch die Macht der Wirtschaft könnten sie nicht brechen oder verringern. Die Konkurrenz auf dem Weltmarkt würde weiterhin Vorgaben machen. Sie würden lediglich andere Betonungen setzen.

Nötig ist aber die Realisierung einer echten Demokratie, eine Entmachtung der Apparate, ein anderes Geldsystem, ein Sich-zusammen-Tun der derzeit oft extrem vereinzelten Menschen, eine Überwindung der ewigen Konkurrenz, des Siegens und Verlierens in der Gesellschaft, angefangen beim Bildungssystem bis zur wirtschaftlichen Existenz. Und die Dezentralisierung der wirtschaftlichen und politischen Einheiten und das konsequente Herunterfahren des Postkolonialismus.

Dezentralisierung und Orientierung aufs Ganze muss daher schon in der Struktur der Organisation erkennbar sein. Also weg von der Sammlung von Mitläufern, hin zu selbst aktiven und zusammenwirkenden Menschen. Die Menschen hier, also wir selbst, sind ein bedeutsamer Teil der verfestigten Strukturen.

Menschen passen ihr Verhalten den sozialen Gegebenheiten an, suchen für sich den Weg des geringsten Widerstands im System, verleugnen sich dabei selbst und verlieren ihre Handlungsfähigkeit. Manche erstarren förmlich und sind zur Veränderung nicht mehr fähig. Andere sind es noch: Sie müssen abgeholt werden. Auch bei der Sammelbewegung #Aufstehen.

Es gibt daher kein Entweder-oder, sondern einen strukturellen 7er-Ansatz, der bei #Aufstehen genutzt werden könnte, um die Mobilisierung an der Basis in aktives Handeln zu überführen, sofern der Ansatz nicht zu sehr ablenkt.


Quellen und Anmerkungen

[1] Internet Zeitung: Software Pol.is soll Diskussionsplattform von “Aufstehen” werden. Auf http://internetz-zeitung.eu/index.php/4922-software-pol-is-soll-diskussionsplattform-von-aufstehen-werden (abgerufen am 09.09.2018).

[2] Unternehmerkanal: Die Psychologie der Massen (Gustave Le Bon) – Zusammenfassung. Auf https://unternehmerkanal.de/buecher-2/psychologie/die-psychologie-der-massen-zusammenfassung (abgerufen am 09.09.2018).

[3] Das Systemische Konsensieren ist ein Entscheidungsverfahren, bei dem aus verschiedenen  Lösungsvorschlägen der Vorschlag ermittelt wird, der die geringste Ablehnung erfährt. Von den Beteiligten wird nicht die Zustimmung zu einem Vorschlag erfragt, sondern die Ausprägung des Widerstands gegen einen Vorschlag. Diese Herangehensweise ermöglicht ein Ergebnis, das einem Konsens am nächsten kommt, da für jede Lösung die Ausprägung des gesamten Widerstands der Gruppe ermittelt wird. Ausführliche Informationen auf https://www.partizipation.at/systemisches-konsensieren.html (abgerufen am 09.09.2018).


Illustration und Foto: QuinceMedia (Pixabay.com, Creative Commons CC0).

Psychologischer Psychotherapeut

Gerhard Kugler (Jahrgang 1946) war Psychologischer Psychotherapeut im Ruhestand. Er gehörte zu den Gründungsmitgliedern der Deutschen Gesellschaft für Verhaltenstherapie (DGVT) und der Gesellschaft für kontextuelle Verhaltenswissenschaften (DGKV), deren Therapieansatz die Akzeptanz- und Commitment-Therapie (ACT) ist.

Von Gerhard Kugler

Gerhard Kugler (Jahrgang 1946) war Psychologischer Psychotherapeut im Ruhestand. Er gehörte zu den Gründungsmitgliedern der Deutschen Gesellschaft für Verhaltenstherapie (DGVT) und der Gesellschaft für kontextuelle Verhaltenswissenschaften (DGKV), deren Therapieansatz die Akzeptanz- und Commitment-Therapie (ACT) ist.

3 Antworten auf „#Aufstehen oder Zusammenwirken“

So lange wie das heutige Geldsystem Wirksam werden kann, so lange kann es keine Bewegung schaffen, die sozialen Komponenten in den Vordergrund zu stellen. Die Macht des Kapitals wird es mit diesem Geldsystem immer schaffen, solche Bwegungen in Schach zu halten. Wie läßt sich diese Diskrepanz auflösen?

Regionalgeld. Nahversorgung, wo es möglich ist. Damit eine gewisse Unabhängigkeit. Über größere Entfernungen hinweg Tauschverträge ohne Zwischengeld.
Nur ein paar Andeutungen. Ich bin kein Wirtschaftsfachmann. Aber fortschrittliche von dieser Berufssparte würden den Welthandel auch reduzieren. Ideen und Know-how kann man ohne Aufwand weltweit austauschen.
Aber auch für solche Richtungen (Regionalisierung) muss erst die Basis geschaffen werden. Also auch die Lebensführung.
G.K.

Es muss uns gelingen, einmal die eingefahrenen Denkmuster zu verlassen, dann kann man erkennen, dass gerade unser Geldsystem für sehr viele Probleme verantwortlich zeichnet. Die Beziehung von Geld und Arbeit ist nicht mehr sinnvoll gelöst. Dabei liegen Vorschläge auf dem Tisch, diese müssten in der Öffentlichkeit viel mehr oder sogar überhaupt einmal diskutiert werden.

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