Bei allem, was die Welt aufregt, so ist dennoch nicht eindeutig zu beantworten, was es letztendlich ist, das die Menschen beklagen würden als die schlimmste Entwicklung im neuen, jungen Jahrtausend. Es hängt von den jeweiligen Regionen in der Welt ab, in denen sie zu befragen sind. Aber gesetzt den Fall sie würden befragt, was sie als die große Geisel ihrer Zeit identifizieren würden, so kämen unterschiedliche Antworten.
Was würden die Chinesen wohl antworten? Da sie nach wie vor dem Fortschritt als solches huldigen und China eine aufstrebende Macht ist, so kann es durchaus sein, dass die einzige Kritik an den Geißeln der Zeit wahrscheinlich die Belastung von Mensch und Natur beträfe.
Für die meisten Russen wäre wahrscheinlich die Aggressivität des Westens und der Versuch, das Mütterchen einzukreisen, ein Grund zur Klage wie auch der gravierende Widerspruch von Stadt und Land. In vielen Ländern Südamerikas ist es die aus dem Kolonialismus und bis heute von den neuen Eliten wunderbar adaptierte Korruption, die die meisten Menschen auf die Palme bringt, wie übrigens überall in Südostasien auch. In Afrika wären es nach wie vor Hunger und Seuchen und ein Leben ohne Perspektive.
Und im Westen? Da gäbe es sicherlich Klage über die Ungleichheit der Lebensverhältnisse und die wachsende Vereinsamung und das Unglück des Individuums. Und im Nahen Osten wäre es, da muss gar nicht erst spekuliert werden, der immerwährende Krieg, der in die Länder gebracht wird, um den Zugriff auf Öl und Gas zu bekommen.
Es ist ein erster Wurf und es ist Spekulation, aber es wird dennoch deutlich, dass die Reaktion davon abhängt, wo das Leben stattfindet.
Und es wird deutlich, dass das, was wir hier im Herzen Europas als die zentralen Fragen des Daseins definieren, nicht unbedingt die sind, die die Mehrheit der Menschheit bewegen. Nun könnte geschmunzelt und das Ganze als eine typische Erscheinung des Eurozentrismus bewertet werden, aber das griffe zu kurz. Denn vieles, das aus unterschiedlicher Perspektive auch unterschiedlich benannt wird, hat dennoch etwas mit Europa und vor allen Dingen mit den USA, dem Sitz des Imperiums, zu tun.
Dennoch sollte die Erkenntnis beachtet werden, dass die hiesigen Probleme und die woanders auch andere sind. Chinesen, Russen, Latinos, Afrikaner oder Araber sehen die Welt aus einer anderen Perspektive, und das Unglück über die Einsamkeit des Individuums in einer hochkomplexen Welt sagt den meisten wohl eher nichts.
Die große Tragödie, die jedoch für vieles verantwortlich zeichnet, was sich auf der Welt in unterschiedlicher Weise zeigt, hat im Westen seine Wurzeln. Und da ist es die Philosophie des Wirtschaftsliberalismus, die mit dem Zusammenbruch der Sowjetunion Konjunktur bekam und im neuen Jahrtausend mit aller Wucht zu greifen begann.
Sie ging einher mit einer geplanten Entstaatlichung und dem Übergang der Wahrnehmung von privaten Interessen.
Einzelne Menschen haben es nicht nur so weit gebracht, dass sie über Reichtümer verfügen, die den mancher Nationen bei Weitem übertreffen, sie können es sich mittlerweile sogar leisten, ganze Staaten zu destabilisieren und ihre Eliten zu kaufen. Dafür werden die Verhältnisse militarisiert und Kriege inszeniert.
Es ist die Tragödie des 21. Jahrhunderts. Der Übergang global greifender Macht auf einzelne, winzig kleine Interessengruppen, die ganze Regierungen für ihre Interessen instrumentalisieren. Wenn der Mensch ein soziales Wesen ist, dann sind diese Verhältnisse der Boden, auf dem er wird nicht mehr lange existieren können.
Illustration: Mari Ana (Pixabay.com, Creative Commons CC0).
Dr. Gerhard Mersmann ist studierter Politologe und Literaturwissenschaftler. Er arbeitete in leitender Funktion über Jahrzehnte in der Personal- und Organisationsentwicklung. In Indonesien beriet er die Regierung nach dem Sturz Soehartos bei ihrem Projekt der Dezentralisierung. In Deutschland versuchte er nach dem PISA-Schock die Schulen autonomer und administrativ selbständiger zu machen. Er leitete ein umfangreiches Change-Projekt in einer großstädtischen Kommunalverwaltung und lernte dabei das gesamte Spektrum politischer Widerstände bei Veränderungsprozessen kennen. Die jahrzehntelange Wahrnehmung von Direktionsrechten hielt ihn nicht davon ab, die geübte Perspektive von unten beizubehalten. Seine Erkenntnisse gibt er in Form von universitären Lehraufträgen weiter. Sein Blick auf aktuelle gesellschaftliche, kulturelle wie politische Ereignisse ist auf seinem Blog M7 sowie bei Neue Debatte regelmäßig nachzulesen.
Eine Antwort auf „Die große Tragödie des 21. Jahrhunderts“
Einem Großteil der Bürger geht es so gut, dass sie keine Zeit finden, sich mit wesentlichen Problemen zu befassen. Für sie ist es leider viel wichtiger, sich um die weitere Verbesserung ihres eigenen Lebensstandarts zu kümmern. Da wird vielleicht nebenbei einmal geäußert, was für andere Probleme anstehen. Es ist den Menschen abhanden gekommen, sich um das Miteinander, die Natur und die Erde zu kümmern, ein wenig Demut zu zeigen. Das ist natürlich auch eine Folge der heutigen Lebensart, gefördert durch die dauernde Berieselung mit Nebensächlichkeiten durch die Medien.