“Hic jacet Casparus Hauser Aenigma sui temporis ignota nativitas occulta mors MDCCCXXXIII.”
“Hier liegt Kaspar Hauser, Rätsel seiner Zeit, unbekannt die Herkunft, geheimnisvoll der Tod 1833.”
Etwas Besseres als die obige Beschreibung Kaspar Hausers [1] auf dessen Grabstein kann nicht passieren, um der Legendenbildung Tür und Tor zu öffnen. Es geht nicht darum, zumindest nicht hier an dieser Stelle, was von seinem Leben verifiziert werden und was als fantastische Erzählung eingeordnet werden muss.
Der Streit über seine Existenz, vor allem über seine Herkunft, die Deutung seines Todes, die medizinischen Journale, alles das mündet in seriöse historische Quellenarbeit, die wichtig und notwendig ist, wenn es um die historische Figur geht.
Die Legende ist reich. Besagtes Kind, das bei Dunkelheit und karger Nahrung sein ganzes Leben versteckt gehalten worden sein soll, das der Sprache kaum mächtig war und dennoch durch eine brisante Intelligenz sogleich auf sich aufmerksam gemacht hat, dieser Kaspar Hauser wurde selbst zu Beginn des 19. Jahrhunderts über Nacht zur Sensation für Wissenschaftler aller Art, allen voran Mediziner und Philosophen. So ließ es nicht lange auf sich warten, bis das Interesse so weit führte, dass das Phänomen voller Wunder vorgeführt wurde.
Bei einer dieser Gelegenheiten, bei der sich die klugen Köpfe ein Bild machen wollten von den intellektuellen Fähigkeiten Kaspar Hausers, gaben sie ihm eine Aufgabe, die tückischer nicht hätte sein können.
“Kaspar, du stehst an einer Weggabelung”, so lautete die Aufgabe, “und du weißt nicht, woher die beiden Wege kommen. Was du weißt, ist, einer kommt aus einem Dorf, in dem alle Menschen immer die Wahrheit sagen. Und der andere Weg kommt aus einem Dorf, in dem alle Menschen immer lügen. Du, Kaspar, stehst an der Kreuzung und du weißt nicht, wo die beiden Dörfer liegen. Und nun kommt dir auf einem der beiden Wege ein Mensch entgegen. Du hast nur eine einzige Frage, um herauszubekommen, aus welchem Dorf dieser kommt, aus dem Dorf der Lüge oder dem der Wahrheit. Was fragst du ihn?”
Die klugen Köpfe des Gremiums hatten lange diskutiert, wie wohl die Antwort lauten müsste. Reichte eine bloße Verneinung, kam man dem Lügner mit der Negation der Negation auf die Schliche, was durfte und konnte ein Mensch aus dem Dorf der Wahrheit alles sagen und was auf keinen Fall? Und war ein Lügner nur mit einer Frage überhaupt überführbar?
Die Spannung war groß, als der etwas ungelenke Jüngling sich mit seiner brüchigen Stimme daran machte, den hohen weisen Herren eine Antwort zu geben. “Verzeiht mir”, so begann er, “aber das, was ihr mir als Frage stellt, ist doch ganz einfach”. Bereits diese Einlassung verursachte bei den Mitgliedern des Gremiums teils überhebliches Lächeln, teils hochgezogene Augenbrauen. “Und”, so zischte der Wortführer zurück, “wie lautet dann die Antwort?”
Darauf Kaspar Hauser: “Hohe Herren, ich würde einfach fragen: Bist du ein Laubfrosch? So wüsste ich gleich, ob er lügt oder die Wahrheit spricht!”
Auch diese Überlieferung möge uns Mut zusprechen in jenen unruhigen Tagen, in denen wir unser Dasein zu führen haben. Wir brauen Mut, um Dinge auszuprobieren (Das Ei des Kolumbus), wir brauchen Entschlossenheit, um Kompliziertes zu lösen (Der Gordische Knoten) und wir brauchen eine einfache, uns aus der eigenen Lebenserfahrung lehrende Logik (Kaspar Hausers profane Logik), um die Welt um uns herum zu begreifen und zu gestalten.
Quellen und Anmerkungen
[1] Kaspar Hauser (angeblich 1812-1833) wurde in der Biedermeierzeit bekannt. Er tauchte im Alter von etwa 16 Jahren am 26. Mai 1828 in Nürnberg auf und wurde als geistig scheinbar zurückgebliebener und wenig redender Jugendlicher wahrgenommen. Späteren Aussagen von Hauser, er sei, solange er denken könne, bei Wasser und Brot immer ganz allein in einem dunklen Raum gefangen gehalten worden, erregten internationales Aufsehen. Die von Kaspar und seinen ersten Betreuern behauptete (fast) lebenslange Gefangenschaft in einem dunklen Raum, in dem er sich nicht gehend hätte bewegen können, gilt unter ernsthaften Hauserforschern heute als ausgeschlossen. Mehr Informationen auf http://gutenberg.spiegel.de/buch/kaspar-hauser-augenzeugenberichte-und-selbstzeugnisse-1448/3 (abgerufen am 18.09.2018). ↩
Illustration: Mohamed Hassan (Pixabay.com, Creative Commons CC0).
Dr. Gerhard Mersmann ist studierter Politologe und Literaturwissenschaftler. Er arbeitete in leitender Funktion über Jahrzehnte in der Personal- und Organisationsentwicklung. In Indonesien beriet er die Regierung nach dem Sturz Soehartos bei ihrem Projekt der Dezentralisierung. In Deutschland versuchte er nach dem PISA-Schock die Schulen autonomer und administrativ selbständiger zu machen. Er leitete ein umfangreiches Change-Projekt in einer großstädtischen Kommunalverwaltung und lernte dabei das gesamte Spektrum politischer Widerstände bei Veränderungsprozessen kennen. Die jahrzehntelange Wahrnehmung von Direktionsrechten hielt ihn nicht davon ab, die geübte Perspektive von unten beizubehalten. Seine Erkenntnisse gibt er in Form von universitären Lehraufträgen weiter. Sein Blick auf aktuelle gesellschaftliche, kulturelle wie politische Ereignisse ist auf seinem Blog M7 sowie bei Neue Debatte regelmäßig nachzulesen.
Eine Antwort auf „Vertrauen in unruhigen Zeiten: Kaspar Hausers profane Logik“
Abgesehen davon, daß es die Möglichkeit gibt, tatsächliche Ereignisse in der der Akasha-Chronik zu schauen (wer das eben kann) und sich hierdurch jegliche Wahrheit als solche entpuppt und die Lüge ebenso – müssen die Gelehrten immer viel Lebenszeit damit verbringen, gescheite Gedanken und Kontrollsysteme auszubrüten (wie hier in dem Beispiel rekuriert) – da sie eben offensichtlich die Instanz ihres Herzen kaum, oder gar nicht, bemühen können oder wollen.
Komplexität kann im Herzen sehr einfach erfaßt werden, hingegen der Verstand sich solchen Phänomenen nähert es unendlich kompliziert wird und er Kompliziertheit folglich mit Komplexität verwechselt.
Vielleicht nannte man dazumal Kaspar Hauser “das Kind Mitteleuropas”, weil von ihm jene Herzenenergie ausstrahlte, die ein “Kompliziert und damit verworren oder anfällig (System) – Kontrolle” obsolet machte.
Abgesehen davon, daß ich persönlich die Wortwahl “profane Logik” im Zusammenhang mit Kaspar Hauser als Gegenteil von Wertschätzung auffasse, finde aber andererseits den verdeckten Link oder Wink auf die Herzqualität als unbedingt notwendig für eine Vertrauensbildung in unruhigen Zeiten und als eine fruchtbare Ausleuchtung für Handlungsräume.