Das Unbehagen, welches sich über das Land gelegt hat, wird in starkem Maße von der Degression der verwendeten Sprache gespeist. Einerseits sind es die zunehmend völkischen Parolen, die bewusst in den gesellschaftlichen Diskurs geworfen werden, andererseits haben die Mandatsträger in Regierungsverantwortung seit Jahren einen blasierten, inhaltslosen Sprachstil etabliert, der seinerseits zur Abwendung von Regierung und Staat geführt hat.
Erinnern die blutbeladenen und schwülstigen Formulierungen aus der braunen Kanalisation an das historische Debakel von Faschismus und Krieg, so ist das abstrakte, unverbindliche und bewusst diffus gestaltete Wording der offiziellen Politik eine Übung, die aus Orwells 1984 stammen könnte. Frei nach dem Motto:
Herrschaft, vermittelt mit der seichten Diktion der Unverbindlichkeit.
Gut, dass sich die Politikwissenschaftlerin Astrid Séville[1] mit diesem Thema beschäftigt hat. In ihrem Buch mit dem Titel Der Sound der Macht. Eine Kritik der dissonanten Herrschaft[2] geht sie auf das Phänomen der Sprachverwendung von Herrschenden und der neuen Opposition ein.
Sie fügt ein Puzzle zusammen, das durchaus Kausalitäten aufzeigt und die schlichte Auffassung, irgendwann seien die Barbaren aus ihren Löchern gekrochen und hätten alles auf den Kopf gestellt, ad absurdum führt. Die Barbaren bleiben auch in ihren Augen Barbaren, die Herrschenden und ihre Sprache werden jedoch als Mitverursacher der Krise ausgemacht.
Séville schlägt einen Bogen von der rabiaten Figur der Margaret Thatcher[3], die ihre politischen Ziele mit berittener Polizei durchsetzte, bis hin zu Angela Merkel, die ihrerseits durch Enthaltung und den Aufenthalt im semantischen Nebel das zu erreichen sucht, was ihr vorschwebt. Bereits Thatcher sprach den berühmten Satz “there is no alternative”, der nach Séville zu einer TINA-Methode avancierte, die bekanntlich bis hin zu Merkel Bestand hat und von dieser mit ihrem Diktum, dass ihre Politik “alternativlos” sei, auf die Spitze getrieben wurde.
Fazit: Eine solche Diktion, zudem unter Berufung auf den gesunden Menschenverstand, ist in einer Demokratie, in der es um die Aushandlung tragfähiger Kompromisse geht, unangemessen.
Die Autorin untersucht mehrere Metaphern, mit der sich die Regierenden in den letzten Jahrzehnten an die Wählerschaft gewendet und großen Schaden angerichtet haben. Da fehlen nicht die nicht gemachten Hausaufgaben, da fehlt nicht die legendäre schwäbische Hausfrau und da fehlt auch nicht die Schwarze Null. Abgesehen von der sich zum Teil offenbarenden antiquierten Pädagogik, handelt es sich um beabsichtigte Akte der brutalen Vereinfachung komplexer Zusammenhänge, die gerade in diesen Tagen von denselben Akteuren in der Auseinandersetzung mit den simplifizierenden Programmen der neuen Rechten reklamiert werden.
Séville versäumt es nicht, die Anteile an der Sprachdiffusion von “oben” nicht nur auf Merkel und Thatcher, sondern auch bei Figuren wie Tony Blair[4] und Gerhard Schröder zu verbuchen.
Zwar werden Unmut und abnehmendes Vertrauen durch die TINA-Politik des Neoliberalismus analysiert, aber die Gegenbewegung fällt in der kritischen Betrachtung nicht unter den Tisch. Begonnen mit der sehr treffenden Analyse des “Volkes” als Chiffre für den Aufstand, bis hin zu der Entlarvung des Mantels der Scheinheiligkeit (“… man wird ja wohl noch sagen dürfen”) über der braunen Ideologie in dem Kapitel “Die Unkultur des Disclaimers”.
Um den Fokus richtig zu setzen, setzt Séville, die Partei für den demokratischen Verfassungsstaat ergreift, den Fokus auf das irrige Verhalten der Regierenden, die im Rahmen der Koalition in Berlin Kompromisse aushandeln, um sich aus Partei- oder Länderlogik am nächsten Tag wieder davon zu distanzieren. Sie nennt dieses Phänomen die dissonante Herrschaft. Genau dieser Missklang bleibt bei vielen hängen.
Quellen und Anmerkungen
[1] Astrid Séville studierte Politikwissenschaft, Romanistik und Historische Anthropologie an der Albert-Ludwigs-Universität Freiburg und an der Université Denis Diderot Paris. 2015 wurde sie mit einer Arbeit zur politischen Rhetorik der Alternativlosigkeit promoviert. Ihre Dissertation wurde 2016 mit dem Deutschen Studienpreis ausgezeichnet. Sie ist Akademische Rätin auf Zeit am Lehrstuhl für Politische Theorie des Geschwister-Scholl-Instituts für Politikwissenschaft an der LMU. Mehr Informationen auf https://www.gsi.uni-muenchen.de/personen/wiss_mitarbeiter/seville/index.html (abgerufen am 25.09.2018). ↩
[2] Das Buch Der Sound der Macht. Eine Kritik der dissonanten Herrschaft (ISBN 9783406727221) von Astrid Séville erschien 2018 im C.H. Beck Verlag (München). ↩
[3] Margaret Hilda Thatcher (1925-2013) war eine erzkonservative britische Politikerin. Vom 1979 bis 1990 war sie Premierministerin des Vereinigten Königreichs. Außenpolitisch lehnte Thatcher sich an die USA an und unterstützte deren antikommunistischen Kurs. Dem europäischen Einigungsprozess stand sie ablehnend gegenüber. Unter Thatcher wurden der Finanzsektor dereguliert, die Arbeitsmarktgesetze zum Nachteil der Erwerbstätigen flexibilisiert und Staatsunternehmen privatisiert. Der Einfluss der britischen Gewerkschaften wurde weitesgehend gebrochen. Sie wurde namensgebend für den Thatcherismus, einem durch den marxistische Soziologe Stuart Hall geprägten Begriff. Der Thatcherismus zeichnet sich laut dem Soziologen Anthony Giddens aus durch einen schlanken Staat, eine autonome Zivilgesellschaft, Marktfundamentalismus, eine autoritäre Moral in Verbindung mit ökonomischem Individualismus, dem Glauben daran, dass der Arbeitsmarkt sich selbst reguliere wie jeder andere Markt auch, die Hinnahme von sozialer Ungleichheit, einen traditionellen Nationalismus und Patriotismus, dem Wohlfahrtsstaat als reines Sicherheitsnetz, eine lineare Modernisierung, ein schwach ausgebildetes ökologisches Bewusstsein, neorealistisches Denken in der internationalen Politik und die Einbindung in den Ost-West-Gegensatz. ↩
[4] Anthony Charles Lynton Blair (genannt Tony Blair) ist ein britischer Politiker. Er war von 1994 bis 2007 Vorsitzender der Labour-Partei und Premierminister des Vereinigten Königreichs von 1997 bis 2007. Seit 2001 unterstützte Blair die US-amerikanische Außenpolitik. Unter ihm nahmen britische Truppen an den Einsätzen in Afghanistan (ab 2001) und im Irak (ab 2003) teil. Im Juli 2016 wurde der Untersuchungsbericht der Chilcot-Kommission zur britischen Rolle im Irak-Krieg veröffentlicht. Demnach soll Blair mit dem Irakkrieg gegen das Völkerrecht verstoßen und somit eventuell Kriegsverbrechen begangen habe. Er wurde strafrechtlich nicht belang. ↩
Illustration: Stefan Keller (Pixabay.com, Creative Commons CC0).
Dr. Gerhard Mersmann ist studierter Politologe und Literaturwissenschaftler. Er arbeitete in leitender Funktion über Jahrzehnte in der Personal- und Organisationsentwicklung. In Indonesien beriet er die Regierung nach dem Sturz Soehartos bei ihrem Projekt der Dezentralisierung. In Deutschland versuchte er nach dem PISA-Schock die Schulen autonomer und administrativ selbständiger zu machen. Er leitete ein umfangreiches Change-Projekt in einer großstädtischen Kommunalverwaltung und lernte dabei das gesamte Spektrum politischer Widerstände bei Veränderungsprozessen kennen. Die jahrzehntelange Wahrnehmung von Direktionsrechten hielt ihn nicht davon ab, die geübte Perspektive von unten beizubehalten. Seine Erkenntnisse gibt er in Form von universitären Lehraufträgen weiter. Sein Blick auf aktuelle gesellschaftliche, kulturelle wie politische Ereignisse ist auf seinem Blog M7 sowie bei Neue Debatte regelmäßig nachzulesen.