Das Glas Wein steht halb leer neben der Kerze, die sich Andrea im Badezimmer gerade angezündet hat. Die Wanne füllt sich langsam mit dem wärmenden Nass und Andrea hält, leicht lächelnd, ihre Hand unter den Wasserhahn, aus dem es fließt. Das tat sie als Kind schon gerne, abgeschaut von der Mutter, die so die angenehmste Temperatur feststellen konnte.
Als ihr Bademantel den Boden berührt ,erkennt sie ihr wahres Kleid: Tränen tropfen auf ihre Narben. Sie schaut in den Spiegel, will ihn mit der nackten Faust zerstören, mit den Scherben spielen. So wie früher schon, als die schönste Farbe grau noch war.
Hasserfüllte Augen schauen sich gegenseitig an und sie fragt …
Was willst du von mir?
Dass Du gehst.
Warum?
Weil Dich niemand braucht.
Andrea schreckt kurz auf. Ihr Handy klingelt und gibt einen Technoremix von Nancys “Bang Bang” von sich.
Es ist ihre Zwillingsschwester. Sie ruft jeden Tag an. Immer um 21 Uhr. Immer wenn sie eine raucht, auf dem Balkon, immer dann, wenn Andrea es nicht will. Sie will nicht, dass ihre Schwester raucht. Will nicht, dass ihr dadurch ein Leid geschieht.
Ein Tanz aus starkem Regen. Motten, die Schutz in der Lichtquelle der Berliner Laternen suchen. Ein Auto, das aus der Spur kommt. Ein Schrei, den die Straße verschluckt. Niemand, der mit Dir aufwacht.
Nach dem Tod der Tochter und des Ehemannes hat ihre Schwester geschworen, für sie da zu sein. Sie hat gelogen. So wie all die anderen, die sie nie verstanden, nie mitfühlen konnten, wenn Andrea von dem Dämon erzählte, der ihre Seele frisst. Sie richtet ihren Blick wieder in den Spiegel:
… es war nicht meine Schuld.
Du … Du bist an allem schuld.
Andrea wendet sich von ihrem Spiegelbild ab, beobachtet die Rasierklinge neben ihrem Zahnputzbecher, den ihr ihre Mutter geschenkt hat. Rosa, mit Strasssteinen, die blau schimmern, wenn man sie gegen das Licht hält.
Sie taucht ihren Kopf in den Sarg gefüllt mit dem warmen Wasser. Ihre Tränen vermischen sich mit den rot werdenden Fluten und eine Stimme ertönt, die da sagt …
Schatten bleiben an Deinem Fenster stehen. Sie beobachten Dich, wollen, dass Du zu ihnen gehörst, dass Du zu einer Sekunde der ablaufenden Zeit wirst.
Mein Name war Andrea M., ich war 33 Jahre alt und eine fiktive Person. Ich hätte aber einer der über 340 Menschen sein können, die jährlich in der deutschen Hauptstadt Selbstmord begehen [1]. In ganz Deutschland nehmen sich pro Jahr mehr als 10 000 Menschen das Leben [2]. Circa alle 4 Minuten versucht es jemand. Das Bundesland mit den meisten Selbsttötungen ist Bayern [3]. Eine deutliche Zunahme an Selbstmorden verzeichnete in den vergangenen Jahren Sachsen-Anhalt [4].
Quellen und Hinweise
[1] taz (24.09.2015): “Ein Stück weit enttabuisiert”. Auf https://taz.de/!5232403/ (abgerufen am 22.09.2019). ↩
[2] Statistisches Bundesamt: Suizide nach Altersgruppen (2015). Auf https://www.destatis.de/DE/ZahlenFakten/GesellschaftStaat/Gesundheit/Todesursachen/Tabellen/Sterbefaelle_Suizid_ErwachseneKinder.html (abgerufen am 22.09.2019). ↩
[3] Statista: Anzahl der Suizide in Deutschland nach Bundesländern in den Jahren 2013 bis 2015. Auf https://de.statista.com/statistik/daten/studie/218237/umfrage/anzahl-der-suizide-in-deutschland-nach-bundeslaendern/ (abgerufen am 22.09.2019). ↩
[4] Die Welt (02.09.2015): Zahl der Suizide in Sachsen-Anhalt stark angestiegen. Auf https://www.welt.de/regionales/sachsen-anhalt/article145915752/Zahl-der-Suizide-in-Sachsen-Anhalt-stark-angestiegen.html (abgerufen am 22.09.2019). ↩
Foto: Tien Vu (Pixabay.com, Creative Commons CC0).
Lars Kochinky war Zeitsoldat bei der Bundeswehr. Seine Kriegseinsätze im Kosovo und in Afghanistan prägten sein Denken ebenso wie seine Ausbildung zum Detektiv. Er schreibt Essays und ist in der Friedensbewegung aktiv. Er rief den Podcast "Philosophie Heros" ins Leben. Mit dem Philosophen Christian Ferch erörtert er ganz menschliche Themen, die viele bewegen.
3 Antworten auf „Suizidales – Die schweigende Stimme“
[HINWEIS ADMIN: Kommentar gelöscht. Hat mit dem Inhalt des Beitrags nichts zu tun.]
Wenn Menschen einsam werden, nicht mehr echt kommunizieren, reden sie nur noch mit sich selbst. Und das wird dann nicht mehr befruchtet und korrigiert. Und es fehlt natürlich Verbundeheit und Geborgenheit, die man wenigstens ab und zu braucht. Leben wird bodenlos. Sie haben keine (= für niemanden) Bedeutung. Kein Wunder, dass sie dann auch physisch verschwinden.
G.K.
Der Text geht unter die Haut und einmal mehr denke ich an John Lennon: All this lonely people, where do they all come from?
Nicht gesehen, nicht verstanden zu werden ist ein Gefühl, das sich auszubreiten scheint. Zuhören und Hinspüren ist auch eine Bildungslücke.
herzliche Grüße, Ulli